Fred Keil Notizen zur Erkenntnistheorie 3 Nr.241 2001
Kunst
Menschliche Kultur beginnt zeitgleich mit der Entstehung der Kunst. Definitorische Grabenkämpfe sind wenig erfolgreich, zu Vieles verschwimmt im Nebel der Vor- geschichte. Die Betrachtung sozialer Zusammenhänge in Verbindung mit der Kunst erhellt Einiges: Kulturelle Leistungen beginnen mit der freiwilligen, "motovierten" Tätigkeit der Urmenschen oder Frühmenschen beim Sammeln, Jagen und der Gestaltung der Lagerplätze. Sie verlangen ein Empfinden und ein Gefallenfinden an Lernen, Verständigen und Produzieren von nicht unmittel- bar genießbaren Produkten. So wird in der organisierten Jagd das Wild zerlegt und ins Lager gebracht. Der gemein- schaftliche Hütenbau, reihum geleistet für die jeweils bedürftigen Mitglieder des Stammes, führt ebenso zu nicht sogleich genießbaren Produkten. Die Verzögerung der Befriedigung, die damit einhergehende Welt von Vorstellungen und Projektionen schafft die psychosomatische Grundlage für die Kunstproduktion. Diese beginnt mit der Produktion zugleich, steckt aber anfänglich noch als integraler Bestandteil der Gebrauchs- produkte nahezu unsichtbar in diesen. Die Freude über die gelungene Erstellung einer Hütte, einer Axt, eines Bogens ist bereits auch Kunstgenuß. Konsequenterweise treten bereits auf dieser Stufe künstlerische Attribute im engeren Sinne auf: spielerische Formgestaltung, symbol- isches Beiwerk, rituale Bedeutung usw. Hierhin gehört auch die Sprachentwicklung, die im melodischen Aspekt, dem Vorläufer des Gesanges ebenfalls Kunstgenuß vermittelt. Tiefenpsychologisch ist Kunstgenuß die Befriedigung elementarer Triebe mittels erlernten Triebregulierungen, Tätigkeiten und Hilfsmitteln. Die Skulptur, die Zeichnung aber auch der geschwungene Axtstiel sind den Attributen usprünglicher Triebobjekte nachempfunden und ähnlich wirksam wie die älteren Triebobjekte selbst. Daher sind viele Dar- stellungen früher Kunst ästhetisch-sexueller Art oder wie manche Fratzen aggressiver Natur. Aber die Differenzierung und Aufsplitterung der elementaren Triebe führt zu neuen Arten der Befriedigung, die im Wesentlichen der sogenannten "Vorlust" und den Befriedigungen der "Partialtriebe" gleichen. Prinzipiell bildet sich in der Vorgeschichte bereits jener Prozeß heraus, der in spätkultureller Trieberschlaffung und dem Absterben ganzer Populationen seinen Abschluß findet.
Gelegentlich ist davon die Rede, daß der Mensch Kunst braucht um zu Leben. Bei Betrachtung der Langeweile, die mit zunehmendem Wohlstand ebenso zunimmt, erscheint dies plausibel. Aber diese Auffassung greift zu kurz. Kunst ist völlig integriert ins menschliche Leben. Selbst Denken ist stets auch ästhetische Produktion, die zugleich notwendig und nützlich sein kann. Aber es ist so selbst- verständlich geworden, die Höhe sprachlicher Konstruktion zu erreichen, daß der ästhetische Aspekt gar nicht mehr jederzeit sichtbar ist. Es geht nicht um Gedichte, die zur Gruppe der Artefakte gehören, die eine Sondererscheinung ästhetischer Produktion sind. Die Artefakte insgesamt sind nur der sichtbare und scheinbar domonierende Teil von Kunst. Die Produktion, zumal die industrielle, aber vor allem und in erster Linie Denken und Vorstellungen sind Kunst- produktion. Insofern ist es erklärbar, daß in rückschritt- lichen Epochen immer zugleich beide Kunstbereiche rück- läufig sind: Denken, Wissenschaften, Vorstellungswelt und Artefakte sind betroffen. Was in oberflächlicher Sichtweise heute als Kunst ver- standen wird, ist keineswegs das Wesentliche an Kunst. Wo Kunst auf Skulptur und Malerei verkürzt wird, ist Unwissenheit im Spiel über das kunsthafte und artifizielle des menschlichen Lebens, das spätestens seit der Epoche der Höhlenmalereien der Steinzeit so beschaffen ist.
Freude an der Kunstproduktion findet sich bereits im Tierreich. Wenn Adorno betont, daß die Vögel nicht singen um zu singen sondern lebenswichtige Signale senden, so unterliegt er ebenfalls der bürgerlichen Scheidung in Arbeit und Luxus, die bei genauer Betrachtung nicht haltbar ist. Gewiß singen die Vögel um zu singen. Das Signal ist keineswegs allein Notwendigkeit, wie auch die gesammte Evolution nicht allein als Notwendigkeit erklärbar ist. Der Darwinismus, von Nietzsche zu Recht als Theorie der Armut bezeichnet, verdeckt mit seiner Insistenz auf Not und Auslese die Verflochtenheit des Lebenskampfes mit Lebensfreude, diese ist so alt wie jene.
Dualität, Bewegung usw.
Das Prinzip der Dualität tritt in einer spezifischen Form ständig auf: Wir erfahren Bewegung am Festen und Festes an der Bewegung. Wie selbstverständlich wird davon ausgegangen, daß das Feste der Träger aller wesentlichen Prozesse und Erscheinungen ist. Es heißt: Ein Stoff hat diese und jene "Eigenschaften". Diese realisieren sich im Rahmen von "Naturgesetzen". Umgekehrt könnte aber angenommen werden, daß die Bewegung der Träger aller Prozesse ist und das Feste ein notwendiges Produkt der Bewegungen. Die "Naturgesetze" stehen nirgendwo manifestiert, eine "Natur" gibt es nur als Bereich von etwas, das Außerhalb menschlicher Produktion steht. Aber es ist der Prozeß von Bewegungen, der durch scheinbare Wiederholungen "Gesetze" vorspiegelt, so wie das Volumen eines Atoms durch die Bewegungen seiner Teile vorgespiegelt wird.
Das kosmologische Modell des "Urknalls" weist ebenfalls in diese Richtung: Der Urzustand des Universums wird gedacht als eine superheiße Zone, die keinerlei feste Formen besitzt. Während des Urknalls dehnte sich diese Zone explosionsartig aus und kühlte sich mit der Zeit und Aus- dehnung ab. Feste Materie in Form von Uratomen bzw. Urbausteinen kondensierte dabei heraus. Zugleich setzten Gravitationskräfte ein, die zur Verklumpung der Urmaterie führten und die Quasare und Galaxien hervor- brachten. Mikrokosmisch enstanden Systeme von Bausteinen, die sich ständig in Wandlungen befinden und in zwei verschiedenen Modellen in der Physik dargestellt werden: als Korpuskel und als Welle. Sie erhalten ihre Strukturen teilweise sehr lange, so daß aus ihnen weitere und größere Strukturen sich bilden können, die Galaxien und Sternensysteme aber auch die kurzlebigen Organismen. Während dieser enorm langen Lebens- dauer der elementaren Bausteine bleiben sie in Bewegung und Wandlung, sie sind nichts "Festes" und Ruhendes. Das "Gedächtnis" der Bewegungen und Strukturen, die "Naturgesetze" einmal so aufgefaßt, kann in zwei Arten erscheinen: Einmal als sedimentierte Speicher, ver- gleichbar den relativ ruhenden Magenetstrukturen einer Fest- plattenbeschichtung, die in Bitfolgen die Informationen dauerhaft festhalten. Zum Zweiten in der Struktur der wiederkehrenden Bewegungen und Wandlungen, die möglicherweise langlebiger als die "festen" Speicher sind. Diese Form der Speicherung in der Bewegung, bzw. in der Energie ist technologisch nicht genutzt aber im Universum vielleicht die entscheidende. Geordnete Bewegung und Wandlung kann als eine gepulste, periodisch wiederkehrende auftreten. So hat die Umlaufge- schwindigkeit der Elektronen um den Kern eine bestimmte Geschwindigkeit, bestimmte Abstände zum Kern und bezogen auf die Wiederkehr eines Elektrons an einem Ort eine "Frequenz". Die Elemente haben je unterschiedliche Elektronenzahlen und Kernbausteine. Damit bilden sich Eigenschaften und Individualitäten heraus. Sie haben mindestens durch die scheinbar stabilen Elemente so etwas wie eine "Selbsterhaltungstendenz." Ob diese Vorläufer der "Selbsterhaltungstriebe" sind ist spekulativ. Bezogen auf die Frage, worin Leben sich von nichtlebender Materie unterscheidet: Wo setzen lebende Strukturen ein und wie ist ihr "subjektiver" oder "wollender" Kern aufgebaut ? Bezogen auf die Annahme einer prinzipiellen Gleichheit von lebender und nichtlebender Materie: Wo sind auf ältester und kleinster Stufe der kosmischen Strukturen lebende Zonen zu erkennen ?
Scheinproblem
Der Gegensatz zwischen lebender und nichtlebender Materie könnte ein Scheinproblem sein, welches sich aus einer älteren menschlichen Kulturstufe ableiten läßt, in der es nützlich war, eine Unterteilung der Objekte in lebende und nichtlebende vorzunehmen. Frage: wo liegt heute die Nützlichkeit von Unterscheidungen ?
Was ist Bewegung ?
Bewegung ist nur vorstellbar als Bewegung von Körpern oder körperhaft gedachten Strukturen, wie Wellenbewegungen. Das heißt die Körper ändern ihre Positionen zueinander innerhalb einer definierten Zeitstrecke.
Subjektive Perspektive in den Kategorien
Natur steht außerhalb menschlicher Produktion, sofern dies unter objektiver Perspektive gesehen wird. Unter subjektiver Perspektive ist die Wahrnehmung von Natur zugleich Produktion des Subjekts in Gestalt subjektiver Vorstellungen. Da aber in subjektiver Perspektive alle objektiven Kategorien in subjektive Produktionen umgewandelt erscheinen, sind diese Vor- stellungen zugleich identisch mit der Objektivität. In der Tat gibt es Natur nicht außerhalb menschlicher subjektiver Konstruktion von Natur. Gleichwohl "gibt" es etwas außerhalb der Konstruktion Stehendes, denn offensichtlich muß eine Zeitstrecke, etwas das vor jeder Menschheit entstand, angenommen werden. Notwendig ist dieses Außerhalb unbestimmt. In dem Moment da es bestimmt wird, unterliegt es der subjektiven Perspektive. Dennoch ist keinerlei Beliebigkeit in der Konstruktion denkbar, die konstruierte Objektivität verhält sich wie determiniert und kausal. Es ist nicht möglich, an die Stelle der "richtigen" Modelle der Welt andere zu setzen. Jedenfalls dann nicht, wenn die Produkte funktionieren, bzw. das Überleben der Generationenlinie erreicht werden sollen. Eine Maschine erlaubt kein Spiel mit Kategorien. Es ist aber das historisch gewordene Subjekt selbst, welches sich in der Objektivität manifestiert und konstruiert. Seine historisch gewordene Stabilität konstruiert die ver- läßliche Objektivität. Insofern sind Beide eins: Subjekt ist zugleich Objekt.
Entstehung von Quarks aus dem "Nichts", das "Nichts" vor dem Urklall und das "Nichts" jeneseits des Univesums usw. Alle diese Modelle und Vorstellungen sind Ausdruck von Grenzfunktionen. Sie zeigen die Grenze des Subjekts an seiner Peripherie, seiner Welt der Objekte. Deutlich wird, daß Objekt nur für das Subjekt ist. Die Paradoxie des Fichteschen Stuhls zeigt die Schwierig- keit, im fortgeschrittenen Stadium des entwickelten Bewußt- seins die konstituierende Wirkung des Subjekts zu erkennen. Fichte heißt es, habe einem Freund gesagt, er hätte gerade diesen Stuhl erzeugt. Gemeint war damit, daß die Wirklichkeit durch den Menschen hervorgebracht wird, und insofern also auch der Stuhl hier in diesem Moment erzeugt wird. Natürlich erscheint diese Position absurd. Aber es ist zu erinnern, daß in der modenen Physik absurde Aussagen längst akzeptiert worden sind, wie etwa die Relativität der Zeit und die Massezunahme bewegter Objekte nahe der Lichtgeschwindig- keit.
Die Doppeldeutigkeit des "Ich habe produziert", verdunkelt den Zusammenhang. Das Ich ist einerseits individuell und vermag daher "willkürliche" Entscheidungen zu treffen. Andererseits ist es Exemplar der Menschheit in der Geschichte. Die Philosophie hat sich stets mit dieser Doppelheit ab- gemüht. Als individuelles Ich ist die Produktion des Stuhls absurd und unzutreffend. Denn dieses individuelle Ich des Fichte vermag den Stuhl nur dann zu produzieren, wenn es sich handwerklich betätigt. Da der Stuhl aber bereits vom Tischler produziert gewesen war, war auch diese individuelle Produk- tion abgeschlossen. So gesehen war der Fichtesche Satz falsch. Aber das Ich als Exemplar der Menschheit ist zugleich stets das Ich welches Wirklichkeit hervorbringt sowohl in historischer als auch aktueller Dimension. Dieses über- individuelle gleichwohl nur virtuell existierende Ich hat diesen Stuhl tatsählich hervorgebracht. Das virtuelle Ich ist im individuellen Ich konkretisiert, aber nie vollständig. Interessant ist das Gedankenspiel, was wäre wenn die Menschheit bis auf ein Individuum aus- gestorben wäre. Das individuelle Ich fiele mit dem virtuellen Ich zusammen.
Bewegung und Zeit
Zeitabläufe werden aus Vergleichsprozessen gebildet, in denen relativ Festes zu relativ Bewegtem gemessen werden. Das Gegensatzpaar Materie - Enmergie resultiert aus dieser Zeit- Raum- Konstruktion. Da aber alles in Bewegung sich befindet, löst sich der Zeit- begriff auf in einen dimensionslosen Punkt: den Augenblick.
Naturgeschichte als Prozeß
Ausgehend vom Urknall sind Bewegungen untrennbar gebunden an Bewegtes also "Teile" bzw. relativ zum Bewegten etwas andersartig Bewegtes, sei dies "langsamer" oder "schneller." Diese andersartig bewegten Zonen können als "Teile" oder "Räume" aufgefaßt werden. Ihre Konstruktion ist immer die in Raum und Zeit. Die Enstehung der Urbausteine zeigt bei aller Vielfalt der Formen doch auch das massenhafte Auftreten gleicher Teile oder zumindest annähernd gleicher Teile. Diese Teile organisieren sich zu Kernbausteinem, Atomen und Molekülen. Entscheidend ist die Frage: Sind diese Teile, die gleich erscheinen gleich oder sind sie individuell verschieden und erscheinen gleich, weil wir ihre Individualität nicht auflösen können ? Die in unzählige kleinste Bewegungen zersplitterte Urbewegung des Urknalls enthält in ihren partiellen Zonen besondere Eigenschaften, die bestimmend für die Beschaffenheit der relativ "festeren" Teile sind. Bereits auf dieser Ebene kann Bewegung nicht unterbrochen werden ohne daß die Teile "verschwinden" oder in andere "zerfallen" sich "umwandeln". Das bedeutet, die Bewegung ist Speicher der Prozesse, die sich scheinbar wiederholen. Auf dieses scheinbare Wiederholen werde ich anläßlich der Grenzfunktionen eingehen, die im weiteren ins Spiel kommmen werden. Individuen sind Willenszentren, die bereits mehr sind als bloße Objekte im Spiel der "Umwelt", sie sind richtungsbestimmend und erschaffen sich Ziele. Wenn bereits die Kernbausteine solche Individuen sind, ist der Lebensprozeß hier schon der gleiche, wie der irdischer Organismen.
Die Nichtanhaltbarkeit von Bewegungen zeigt, daß der Prozeß selbst Speicher ist, das heißt beim Anhalten verlischt das Gespeicherte. Deutlich ist dies beim Tod eines Organismusses. Obwohl seine Bausteine noch da sind, lassen sie sich nie wieder zum Lebewesen zusammensetzen und nicht erneut in die Bewegungen der Lebensfunktionen bringen. Umgekehrt lassen sich aber Bausteine in den Lebensprozeß des Organismusses integrieren also assimilieren und verarbeiten. Wenn im subatomaren Bereich etwas Ähnliches festzustellen wäre, würde die Frage des Lebensursprunges beantwortet sein.
Zwischen dem Bereich der Atome und dem der Organismen liegt der Bereich der molekularen Wandlungsmöglichkeiten, der Hauptgegenstand der Chemie ist. Dieser erscheint leblos, während der subatomare und auch der atomare Bereich durchaus als lebendiger Prozess aufgefaßt werden können. Im chemischen Bereich erscheinen Teile zu domieren, die sich zusammensetzen und wieder trennen lassen und dennoch stabil bleiben. Die chemischen Prozesse und ihre Bewegungen führen nicht zum Zerfall der Elemente, wenn sie von menschlicher Tätigkeit bestimmt werden.
Der Vorrang von Teilen in der Betrachtung der kosmologischen Geschichte zeigt ein Bild, in welchem zunächst unbelebte Materie sich entwickelt zu lebendigen Organismen. Wenn die Bewegung betrachtet wird unter dem Gesichtspunkt, daß jedes Anhalten eines bewegten Systems zu seinem Zerfall führt, zeigt sich ein Bild, in welchem ein durch- gehender Zusammenhang besteht, beginnend beim Urknall bis zum heutigen Menschen. Nirgendwo in dieser langen Entwicklung ist Bewegung unterbrochen oder angehalten. Nahtlos geht die Fluchtbewegung der Energie beim Urknall über in die Bewegungen der Urbausteine, die der Atome, der Moleküle und schließlich der Lebewesen. Hier bestätigt sich die subjektive Perspektive: Das Ich ist individuell und zugleich Ausdruck der kosmischen Totale, es entsteht bereits beim Urknall und entwickelt sich im Verlauf der kosmischen und irdischen Geschichte.
Die bewußte Wahrnehmung zeigt in beiden Dimensionen erkennbare Objekte: nach außen das Umfeld bis in die kosmlogischen und mikrologischen Modelle, nach innen in die Empfindungen und Vorstellungen. Aber beide Dimensionen verschwimmen im Unbestimmten und enden nicht bei letzten Teilen oder Zusammenhängen. Das Bild vom Bewußtsein als einer Oberfläche des Einzelwesens ist hier brauchbar. Es ist einer Kugel- oberfläche gleich. Mit der Entfernung von dieser Oberfläche verschwimmt die Wahrnehmung und Erkennbarkeit, sowohl nach innen wie nach außen. Diese Grenzfläche der Kugeloberfläche ist das was wir als Ich verstehen und zugleich das was bewußt erfahrbar ist. Insofern sind die Grenzfunktionen zugleich auch Abbild der Grenzflächen, die das Ich ausmachen.
Das Bild der Kugeloberfläche als Bild des Ichs hat eine Entsprechung in den Erfahrungen jedes Einzelwesens: dem Tastsinn. Der Fötus erlebt die ersten Eindrücke über den Tastsinn, seine Körperlichkeit ist lange vor der Ausprägung der anderen Sinnesorgane vorhanden. Die Oberfläche des Körpers ist sehr ähnlich der Oberfläche des Ichs, das auch ein Repräsentant dieser Körperoberfläche ist. Das Modell der Kugeloberfläche hat daher eine körperliche Entsprechung und Genese.
Die in menschlicher Konvention so verstandenen nicht lebenden Objekte sind unterteilbar in zwei Gruppen. Es sind einmal jene Objekte, die sich im Lebensstrom befinden und die selbstständige Bewegung seit dem Urknall weiterverfolgen. Dahin gehören die Atome, die Planeten- und Sternensysteme, die galaktischen Superhaufen usw. Die andere Gruppe sind die menschlichen Produkte. Sie sind zugleich mit ihren Bausteinen auch Angehörige der ersten Gruppe, aber in ihrer Endgestalt, etwa als Haus, Maschine usw. unterliegen sie nicht den Wachstumsprozessen, sondern verbleiben in menschlicher Abhängigkeit. Durch Betreuung, Wartung usw. können sie länger existieren als wenn sie sich selbst überlassen bleiben und den Erosionsprozessen unterliegen.
Die Unterbrechung des kosmischen Wachstums-und Wandlungs- prozesses durch die menschlichen Produkte ist nur kurzfristig und scheinbar. Sie finden statt in einer Art Zeitnische, die den Eindruck hervorruft, daß stabile Teile, etwa Steine, Minerale, Elemente dauerhaft seien. Diese Dauerhaftigkeit wird definiert als Leblosigkeit. Aber dies ist eine Täuschung: Eine pflanzliche Zelle zerfällt, wenn ihre Lebens- prozesse zerstört werden. Ein Atom zerfällt ebenso, wenn seine Prozesse zerstört werden, so durch Umwandlungen in Zyklotron. Da aber der natürliche Zerfall der nicht radioaktiven Elemente so allmählich erfolgt, daß er die Lebensdauer sämtlicher kosmischen Großobjekt überschreitet, von den Lebenslinien ganz zu schweigen, werden die atomaren Prozesse nicht als Lebensprozeß erkannt. Leblosigkeit ist ein Zustand von Objekten, die in ihrer Gestalt sich nicht nur entsprechend den Wachstumsprozessen verhalten, sondern am Ende zerfallen. Gebirge und Gesteins- formationen sind diesen leblosen Objekten am nächsten. Eigentlich leblos sind menschliche Produkte, da sie ihre Form nicht durch Wachstum aus sich selbst erhalten sondern durch menschliche Tätigkeit. Sie entwickeln sich nicht weiter sondern zerfallen. Sie sind Anhängsel des Menschen, bzw. ausgelagerte Teile des Menschen, vergleichbar den Korallenriffen, die ausgelagerte Teile der Korallen sind.
Tastsinn und Wiederholung
Der Tastsinn ertastet Objekte und liefert Informationen an das Gehirn über die Beschaffenheit der Objekte. Die Unterscheidungsfähigkeit oder Auflösung des Tastsinnes ist durch Vererbung und Lernen bestimmt. Unterhalb einer bestimmten Schwelle vermag er nicht aufzulösen, oberhalb bestimmter Strukturen und besonders Temperaturen ebenfalls nicht. Innerhalb des Auflösungsbereichs werden die Sinnes- eindrücke im Gehirn kategorial verarbeitet und keineswegs individual. Das heißt das Gehirn nimmt Vereinfachungen und Zusammenfassungen vor, die je nach Objektart sehr unter- schiedlich ausfallen. Die Zuhilfenahme anderer Sinne ermöglicht es, diese in Gruppen zusammen gefaßten Objekte weiter aufzulösen bis hin zur Erkennbarkeit individueller Objekte. Eine urwüchsige Erkennung individueller Art ohne kategoriale Vearbeitung ist beim Säugling denkbar, der seine Mutter lange vor jeder komplexen Hirnorganisation erkennt. Die Vereinfachung und Zusammenfassung der Objekte ist lebensnotwendig, damit eine rasche Verarbeitung der Informationen und eine rasche Entscheidung möglich werden. Ähnliche Prozesse spielen sich auch im Bereich des Sehens und Hörens ab, vor allem aber auch im Denken selbst. Diese Zusammenfassungen und Verallgemeinerungen sind der Grund von Wiederholungen bzw. Prozessen, die als Wiederholung definiert werden. Dies ist nicht nur ein intellektueller Vorgang, sondern auch tiefer liegende Prozesse wie die Verdauung arbeiten ebenso. Es gibt streng genommen keine Wiederholungen, denn jeder dieser einzelnen Prozesse ist anders zusammengesetzt. Dennoch ist es ein Lebensprinzip, Wiederholungen erzeugen bzw. erleben zu können. Dabei ist auch die Breite der Ereignisse, die in ein Schema von Wiederholung passen, begrenzt. Nicht jede Abweichung kann als Wiederholung integriert werden. Die Wiederholungsbreite und Tiefe ist Ausdruck von Grenzfunktionen. Sie sind Möglich- keiten und Grenzen des Organismusses.
Die Wiederholung kann in zweifacher Weise interpretiert werden. Die eine ist die statistische. Die wiederholten Fälle sind einander nahezu gleich. Sie werden an einem Idealfall gemessen, der wirklich existiert oder existieren könnte. In der Digitaltechnik sind echte Wiederholungen völlig identischer Bitreihen möglich. Das Gleiche gilt für chemische Prozesse sofern die Quantität genau be- stimmbar ist. Prinzipiell sind exakte Wiederholungen möglich. Die zweite Interpretationsmöglichkeit zeigt, daß exakte Wiederholungen nicht möglich sind. Bereits im sub- atomaren Bereich sind Elemente unterschiedlicher Beschaffen- heit möglich, die wegen fehlender Auflösung nicht erfahr- bar sind. Interessant ist, ob diese Individualitäten irgend eine Bedeutung haben.
Die bei den Organismen vorzufindenden Steuerungszentren, ihr "Wille" im älteren Ausdruck, befähigt sie, ungefähr gleiche Teile aufzunehmen und zu verarbeiten sowie unge- fähr gleiche Teile zu produzieren. Auch ihre Reproduktion ist ungefähr die Wiederkehr der Elternorganismen im Nachwuchs. Gesetzt, daß bereits die Elementarbausteine nur ungefähr aus gleichen Teilen bestehen, so müßten sie ebenso die Leistung erbringen, diese wie gleich zu behandeln und sich mit ihnen zu größeren Systemen aufzubauen. Es wären also Willenszentren bereits auf der Ebene der Urbausteine unter- halb der Ebene der Atome denkbar. Andererseits könnte gerade dieses Modell Hinweis auf eine Grenzfunktion sein, die es erzwingt, auf unteren Ebenen bekannte Modelle zu sehen, die auf höheren Ebenen bereits angewendet und notwendig gewesen sind. Beides könnte auch zusamnmen auftreten: Grenzfunktionen die bestimmte Modelle bedingen, und das Auftreten von quasi organischen Strukturen im Mikrokosmos, die in den Modellen. dargestellt werden. Danach wäre der Satz möglich: Das Nichtlebende ist nur eine Form des Lebens.
Spekulationen dieser Art sind gefährlich, da sie leicht zu Überlegungen führen wie sie im "kosmischen Bewußtsein" der Buddhisten und im "Weltgeist" Hegels formuliert wurden. Der Umschlag in Unsinn ist jederzeit möglich. Deshalb ist zu erinnern: Wenn Grenzfunktionen ein Bild zurückwerfen gleich einem Zerrspiegel, so ist dies kein wahres Abbild sondern zeigt, daß ein Bild nicht möglich ist, bzw. das von der Grenze erzeugte Bild ist das letzte der Möglichen. Inwieweit es noch wahre Elemente enthält, ist nicht festzustellen. Die Frage nach dem Lebensprinzip ist deshalb in beiden, sich gegenseitig ausschließenden Varianten beantwortbar: Es können Lebensprozesse und nichtlebende Prozesse sein. Aber diese Aussagen neutralisieren sich nicht: Sie werden auf zwei Wegen entwickelt: In der subjektiven Perspektive und in der objektiven Sicht der Welt. In Beiden wirken Grenzfunktionen, die die Aussagen in der Schwebe lassen: es könnte so sein und es könnte nicht so sein.
Das Dritte
Menschliche Produktion erzeugt Objekte, die weder identisch mit den Objekten der "Natur" noch mit dem Subjekt sind. Das Bild eines Baumes auf der Netzhaut ist bereits etwas gänzlich anderes als der Baum. Aber zugleich ist dieses Bild nicht nur Subjekt sondern es existiert nur weil das Objekt da ist. Dieses Dritte geht sogleich wieder ein in die Produktion, wird wiederum zum Objekt und ermöglicht den nächsten Schritt der Produktion. In diesem ständigen Agieren enstehen Modelle verschiedenster Art und Methoden, die auf andere Objekte und den Produktionen mit ihnen anwendbar sind. Gleichwohl ist die damit sich herausbildende Wirklichkeit beim Wort zu nehmen, das was wirkte, woran der Mensch mitgewirkt hat, nicht die Welt "an sich". Dennoch sind in der Physik und der Kosmologie Prozese erkannt worden, die ohne menschliches Tun sich realisieren. Diese Prozesse sind ein Drittes, welches bezogen auf seine Wirkungen und Bewegungen objektiv sind, das heißt sie sind höchstmöglich zutreffend also wahr. Aber sie zeigen die Welt als Drittes, das heißt durch den Filter menschlicher Produktion hindurch, die "leblose" Objekte hervorbringt, also Objekte die als Auslagerungen des Subjekts definiert werden können. Alles, was dem Menschen als Subjekt ähnlich ist, wird in dieser Produktion ausgeschieden, insbesondere jene Eigen- bewegung, die das Lebendige auszeichnet. Das bedeutet nicht, daß es nichts Lebendes gibt, sondern das "Dritte" vermag es nicht sichtbar zu machen. Gleichwohl ist das Konstrukt des Dritten so zeit- und dimensionslos wie der Augenblick. Es ist immer zugleich der Übergang ins Objekt. Dennoch ist es zentrale Kategorie für das Verständnis der Welt, so wie der Augenblick es ist. Wirklich existierend sind nur das Dritte und der Augenblick, aber erfahrbar sind beide nur als Übergang in die Objekte einerseits, in die Zeitstrecke andererseits.
Bewegung und "Bewegung"
Die subjektive Perspektive zeigt eine Bewegung, die neben anderen Besonderheiten jene aufweist, daß sie selbst Speicher und Gedächtnis des Prozesses ist und zugleich Nichtidentisches sich einverleiben kann und daraus Wieder- holungen hervorbringt. Sie erzeugt Identität also Festes, wenngleich es nur relativ identisch und fest ist. Bewegung wie sie in der Physik verstanden wird, ist etwas Anderes. Diese zeigt Objekte in einem stabilen Zustand, die sich im Raum und Zeit bewegen. Sie assimilieren nichts und und zeigen keine steuernden Zentren. Es sind die einmal angestoßenen und auslaufenden Räder der von Menschen arrangierten Teile und die der kosmologischen Modelle, die in der Definition des Kosmos als Maschine gültig erscheinen.
Freiheit und Determinismus
Der Determinismus in physikalischen und mechanischen Prozessen ist eine Folge menschlicher Produktion, die mit Wiederholungen operiert. Dies gilt auch für das Vorfeld der Produkte, der Wahrnehmung. Da die Welt der Produktion mit ihren Modellen als Wirklich- keit verstanden wird, in der andere Elemente nicht auftreten, entsteht die Ideologie des totalen Determinismusses, die erst in jüngster Zeit durch die Quantenmechanik und die Kosmologie gemildert worden ist. Der Begriff der Freiheit ist unter dieser Ideologie des Determinismus zu einer soziologischen Größe degeneriert, die nun weiter zur bloß psychologischen Meinung zu zerfallen droht. Die Analyse zeigt aber, daß der Mensch seinen Determinismus ebenso produziert wie seine Freiheit. Diese ist eine zentrale Kategorie. Die "Willenszentren" und das Ungefähr der elementaren "Naturprozesse" unterhalb der Ebene der Organismen sind Ausdruck von Freiheit, die nicht mit Zufall und Notwendigkeit begriffen werden kann. Auch das nachträgliche Interpretieren eines Prozesses als zufällig oder notwendig, ist Behauptung, die nicht mehr Gültigkeit hat als jede beliebige Behauptung. Lernen, Lebenslust, Formgestaltung, Selbstentwicklung usw. sind Ausdruck von freien Prozessen, deren Ausgangspunkt "willentlich" gesteuerte Kerne sind, die nur partiell übergeordneten Kräften folgen, also ihnen teils notwendig folgen und teils auch unberechenbaren Einflüssen, also Zufällen unterliegen. Erst die Übertragung der eingeschränkten Möglichkeiten von Maschinen auf Lebensprozesse klammert Freiheit aus- Maschinen sind in der Tat nicht frei- und läßt nur noch Notwendigkeit und Zufall bestehen.
Das Modell des Determinismusses zeigt Notwendigkeiten und Zufälle, die subjektive Perspektive zeigt Grenzen und Willens- impulse. In jenem dominiert die Unfreiheit, in diesem die Freiheit. Sie ist eine existentielle Kategorie. Auch der Gegenbegriff, die Unfreiheit ist total. Der Unfreie produziert eine entsprechende Ideologie. Paradox ist der Umschlag ehemals befreiender Einsichten und Fähigkeiten in ihr Gegenteil. Der gleiche Determinismus, der in angewandter Mathematik, Physik und Chemie die Hochzivilisationen ermöglicht hat, liefert das Korsett in den Köpfen, welches zur Definition des Ichs als ein Unfreies in einer unfreien "Natur" führt.
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