Fred Keil Notizen zur Erkenntnistheorie 2 AC Juli 01
Nr.239
Weitere Grenzfunktionen
Die Zündung der Idee des Augenblicks setzt einen Begriff und seine Geschichte an den Anfang des Ichs. Dies ist zunächst scheinbar unzulässig, da der Begriff etwas Spätes und Abgeleitetes ist. Aber die prähistorischen Vorstufen dieses "Abgeleiteten," die scheinbar einfacheren Zusammenhänge aus dem Tierreich und der Erdgeschichte sind Modelle und Begriffe und nicht weniger komplex abgeleitet als die Begriffe der Idee, des Augenblicks und des Ichs. Der Grad der Komplexität ist sowohl bei "einfachen" als auch bei "komplizierten" Sachverhalten gleich..Immer ist es der gesammte Denkapparat, der gesammte soziale und historische Kontex, der in den Begriffen wirkt. Nicht nur gibt es kein Erstes, sondern auch kein Einfaches. Auch hier wirkt wieder eine Grenzfunktion, die das Überschreiten des komplexen Gesamtzusammenhangs nicht zuläßt und keinen seperaten Punkt oder Raum kennt. Ich bezeichne sie als die sechste Grenzfunktion. Der Zusammenhang der begrifflichen und modellhaften Vorstellungen der Welt ist immer gleich komplex und jede partielle Vereinfachung wird sogleich wieder aufgehoben.
Goethes Wort:" Am Anfang war die Tat", ist einer jener Trugschlüsse, die in jedem Gedanken an einen "Anfang" stecken. Was bedeutet die Tat ? Sie benötigt einen Täter in seiner Welt mit seiner Vorgeschichte und seinen Lebensbedingungen. Dabei entfaltet sich immer der ganze Begriffsapparat des Betrachtenden. Ohne Denken kein Erkennen und ohne Erkennen keine Tat. Aber was ist die Ur-Tat ohne Denken, die einmal in der frühen Erdgeschichte Leben begründete? Auch hier gilt: Ohne Erkennen und Begriff kein Gedanke an eine Zeit "vor" dem Denken. Das Objekt ohne das Subjekt ist eine Fata Morgana.
Der Wille
Bemerkenswert ist, daß der Begriff des Willens aus den naturwissenschaftlichen Vorstellungen mehr und mehr verschwindet und nur in der Psychologie noch erwähnt wird. Daneben ist das Absterben großer Philosophie oder mindestens ihr zeitweiliges Verstummen nach Nietzsche und nach Adorno zu beobachten. Schopenhauer und Nietzsche, in deren Gedanken der Wille eine zentrale Rolle spielte, stehen etwa historisch dort, wo die Alleinherrschaft des positivistischen Weltbildes anhebt. Das ist kein Zufall sondern innerlich im gleichen Netz verbunden. Naturwissenschaftliches Denken und Produzieren hat wesentlich zur Entwicklung der Großstaaten beigetragen und das was Wohlstand heißt, ermöglicht. Aber zugleich wirkte unterhalb der neu entstehenden naturwissenschaftlichen Weltbilder eine säkularisierte Religiösität weiter und die Über- bleibsel der von der Religion emanzipierten Philosophie. Leicht wird übersehen, daß die französischen Aufklärer, die deutschen Idealisten und ihre freigeistigen Erben jene Gestalten geformt- und ich will sagen, erst ermöglicht haben, ohne die weder Europa noch Amerika das geworden wären, was sie heute sind. Ich denke an: Friedrich den Großen, Napoleon, Bismarck, die amerikanischen Präsidenten, unter ihnen Theodore Roosevelt. Wenn heute ähnliche Gestalten nicht zu erkennen sind, so hat dies eine Reihe hier nicht zum Thema gehörenden Gründe aber auch, in diesem Zusammenhang wesentlich den, daß diese Überbleibsel von Aufklärung und Philosophie nicht mehr derart wirksam sind, wie noch im 19. Jahrhundert.
Man wird sehen, daß die nicht vom strategisch-philosophischen Denken geprägte Ideologie, die sich heute breit macht, die Heraufkunft eines neuen Mittelalters möglich macht. Bemerkenswert ist das Gerede vom "Höheren Wesen" welches von Naturwissenschaftlern vereinzelt herüberkommt. Auch dies hat tiefere Gründe.
Die Verdrängung des Willens in der Ideologie verhilft allen möglichen verdeckten Willensformen zur Artikulation. Verdeckt werden unter anderen: Machtstrebungen im ökonomischen Bereich von der Ideologie der "Marktgesetze" und die dem Darwinismus entlehnten Vorstellungen. Machtstrebungen von Ideologen aller Art: Religionen, Schutzvereine, Politsektierer, Parteigängern usw. Aber es ist nicht der einzelne individuelle Wille, der den Motor willentlicher Prozesse bildet, dies geschieht nur ausnahmsweise. Hegels Konstrukt vom "Volkswillen" war dem auf der Spur und ging dann am Ziel vorbei. Vielmehr "will" der im Körper präsente Wille des Lebewesens als zugleich Einzelwesen und Repräsentant einer Artlinie. Aber die Nietzesche Vereinfachung, es wirke stets der Wille zur Macht, verdeckt mehr als sie aufklärt. Wohl war es philosophisch fruchtbar und notwendig, den Macht- willen an Priestern, im Mitleid, im Kranksein usw. aufzu- decken, aber das Leben ist derart reich an Gestaltungs- formen, daß auch andere Willensstrebungen entstehen und bestehen können. Der Modellcharakter jeder zentralen Inter- pretation des Lebens gilt auch für den "Willen zur Macht". Nicht weicht das Leben von seinen "Grundprinzipen", etwa dem überstrapazierten Darwinismus ab, sondern es sind die Modelle selbst, die notwendig abweichen von dem was so leichther als "Wirklichkeit" bezeichnet wird. Aber was wirklich wirkt, das ist das Fragezeichen. Es ist das scheinbar Selbstverständliche, die "Realität" nicht selbstverständlich.
Wille und Subjekt sind stellenweise einander identisch. Der jeweils wirkende Wille ist der des Subjekts oder der mehrerer Subjekte. Damit ist die Schwierigkeit der Frage nach dem Willen aber nur verlagert auf die Frage: Was ist das Subjekt ? Subjekt in klarester Gestalt ist der zielbestimmt und reflektiert handelnde Einzelne. In ihm waltet der Wille seine Ziele zu erreichen und zu sein, was er sein will. Stillschweigend wird stets dabei gedacht, daß er sich über die Generationen hinweg erhalten und reproduzieren wollte und dies weiterhin will. Der Einzelne besteht aus Billionen von Zellen, die miteinander eine symbioseähnliche Verbindung haben, allein nicht lebensfähig sind und miteinander kommunizieren und arbeitsteilig produzieren. Aber jede Zelle repräsentiert den kompletten Gensatz, das heißt jede Zelle ist in gewissem Sinn der ganze Mensch. Die Clonversuche haben dies eindrucks- voll erwiesen. Diese Zellen sind in einem jeweiligen Wachstumsprozeß eingebunden, der in jeder Konsequenz der Wille der Zelle ist. Aber dieser Wille ist nicht so eindeutig konservativ wie der Darwinismus nahelegt. Nicht nur Störungen lösen Mutationen aus, die ebenso überbewertet werden, wie andre Elemente des Darwinismus, sondern eine Art Spiel- wille ist auf allen Lebensebenen zu vermuten, der überaus produktiv ist. Einzelne Handlungsabläufe sehen so aus, als ob ein völlig gleichsinniger Wille in allen Elementen und auf allen Steuerungsebenen des Subjekts wirken würde. Hierhin gehört die Nahrungsaufnahme und Verdauung aber auch die Werbung, Begattung und Vermehrung. Aber zugleich werden vielfältige Dissonanzen sichtbar. Die Psychoanlyse mit ihrer Theorie vom Unbewußten hat versucht, solche Dissonanzen als Störungsfolgen zu erklären. Danach ist der Wille zunächst einheitlich und harmonisch in einem als ideal gedachten Lebensraum, er wird aber gestört durch von Außen oder von innen kommende Einflüsse: falsche Erziehung, Stoffwechselschäden usw. Die Persönlichkeitsspaltung in der Schizophrenie zeigt mehrere Willensstrebungen, die einander widersprechen und zerstörerisch wirken.
Eine weitere Frage stellt sich, ob es größere Willenseinheiten als den Einzelnen gibt. Die Generationenlinie erhält sich durch konsequente Reproduktion der Organismen, die weitgehend stabil bleiben aber in Varianten entstehen und einen langfristigen Wandlungsprozeß durchmachen. Da das Bewußtsein nicht an allen diesen Vorgängen direkt beteiligt ist, kann es als wollendes Zentrum nur vorrübegehend wirksam sein. Aber es ist in diesen Phasen seiner Wirksamkeit nicht minder bedeutend wie die Gene bei der Rekombination nach der Be- fruchtung der Eizelle.
Die nächtshöhere Willenseinheit ist die Art. Das Paarungs- verhalten zeigt wie jedes die Mischung aus konservativen und variablen Elementen. Inszestuöses und extrem exogames Verhalten sind vorhanden und offensichtlich phasenweise der Art dienlich. Aber wo sind die Willenszentren dieser höheren Organisationseinheiten der Generationslinie und der Art ?
Wenn man den Geisterglauben und Metaphysik sowie alle anderen offenen oder verdeckten theologischen Ansätze außer Betracht läßt, müssen alle Willenszentren einen zentralen Sitz haben bzw. ihre dezantralisierten Einheiten in einer quasi zentralen Verkopplung wirksam sein. Da das Bewußtsein mit dem Tod verlischt, kommt es nur als Willenszentrum für das erwachsene bewußt lebende Einzelwesen in Frage, nicht aber für die Zellteilungen der Reproduktion. Die langfristigen Entwicklungen der Art sind wahrscheinlich vom Bewußtsein als Willenszentrum getragen, aber nicht ausschließlich durch dieses. Das sogenannte Selbst des Organismusses ist eher als Willenszentrum der Art denkbar.
Art und Generationenlinie überschreiten das Einzelwesen. Es ist schwer vorstellbar, daß ein einheitlicher Wille, ein Subjekt über den Einzelnen hinaus möglich ist. Die Erhaltung der Art und der Generationenlinie weist auf einen solchen übergeordneten Willen hin. Da jedoch sämtliche metaphysischen Interpretationen in Gespensterglauben einmünden und andererseits Darwinismus und Zufallstheorien nichts zum Verständnis beitragen, bleibt nur die Annahme, daß dieser Wille sich in Einzelwesen manifestiert, und dort auch seinen Aufenthaltsort wechselt. So liegt er bei Erwachsenen im Bewußtsein, welches sich an das Selbst ankoppelt. Bei der Befruchtung liegt er in der Eizelle und in der Samenzelle, danach im Fötus. Aber es liegt nahe anzunehmen, daß der sozial verflochtene Wille, wie er im Erwachsenen ist, nicht im Fötus vollständig präsent sein kann. Der Wille ist durch die Eltern-Kindfolge durch die Generationen immer auch in einem Bewußtsein präsent, nicht anders wäre beim Menschen die Generationenlinie lebensfähig. Die Konstruktion des Willens entfernt sich mehr und mehr von dem, was unter einem wollenden Subjekt gedacht wird. Der Wille ist wandernd, dezentral und "springend" und doch in seinen Zentren so beschaffen, als ob ein einheitlicher Willen über Generationen an einem Ort möglich wäre. Dieses Modell ist nicht so ungewöhnlich und fremd wie es zunächst erscheint. Die Insekten zeigen ein Erscheinungsbild, welches dem nahekommt. Ihr soziales Leben ist vollständig in den Erbanlagen verankert, das Einzelwesen repräsentiert es vollständig, und doch ist das Einzelwesen beinahe entbehrlich.
Die menschliche Entwicklung ist ein Sonderfall, da in ihr Teile des "Gehirns" ausgelagert sind in "tote" Speicher des Gesamtgedächtnisses der Art. Einerseits wäre es denkbar, daß die menschliche Art völlig ins Tierhafte zurückfällt, wenn alle diese toten Speicher verloren gingen -. sie sind also Teile des Subjekts und des Willens. Andererseits wirkt der Wille immer durch ein Einzelwesen hindurch. Der Einzelne ist temporär dieser Wille vollständig. Wenn er stirbt und kein ebenso hoch entwickelter Einzelner nachfolgt, so bleiben in den toten Speichern doch alle die Elemente erhalten, die eine Reaktivierung des Willens auf hoher Stufe ermöglichen.
Die Ausweitung des wollenden Subjekts auf die Art ist allen Lebewesen gemeinsam, aber die Ausweitungen auf "tote" Speicher und andere materielle Manifestationen wie Werkzeuge usw. finden sich außerhalb der Menschheit nur ansatzweise. Möglicherweise rührt das partiellle Absterben von Teilen der Art aus dieser Besonderheit. Das bedeutet, die Macht- ausweitung des Willens birgt erhebliche Gefahren. Er lernt es zu "vergessen" wozu er wollen soll.
Die scheinbare Zersplitterung des wollenden Subjekts im "Artwillen" findet eine Analogie im Einzelorganismus selbst. In ihm wirken die Zellen, Organe und Lebenserhaltungssysteme zusammen mit den Erinnerungsspeichern "wie" ein Individuum, welches aus einem Strom gleichgerichteter Willensregungen gesteuert wird. Nur bei einer geringen Zahl bewußter Entscheidungen kann das Subjekt als bewußt wollendes Subjekt aufgefaßt werden, alle anderen sind von nicht bewußten Strömungen herbei- geführt. Dennoch besteht über die Zielstrebigkeit des Organismusses kein Zweifel. Der Fortpflanzungstrieb und die Ernährungs- triebe operieren im Ganzen wesentlich zielgenauer als das planende Bewußtsein, welches innerhalb des Subjekts nicht allzuviel beeinflussen kann. Platos Ideen und Schopenhauers Wille sind ähnlich konstruiert wie das "Artbewußtsein". Aber es gibt keinen Ort außerhalb des Einzelwesens, an welchem dieses "Artbewußtsein" sitzt. Platos Ideen sperren sich gegen die Realität, sie sind zeitlos und ewig, während der "Artwille" das Gegenteil davon ist. Jeder Wille tritt auf, agiert und tritt zurück. Der Wille gleicht einem sich gelegentlich aufblähenden Ballon, der sich wieder auf kleinsten Raum zurückzieht, wenn die Aktion abgeschlossen ist.
Diese Aufblähung des Willens ist substanziell. Wenn ein starkes Individuum über die Gedächtnisspeicher der Menschheit verfügen kann und große Bewegungen hervorruft, so Buddha im geistigen und Augustus im politischen Bereich, dann steigt der Wille in eine andere Qualität auf, das heißt er ist anders geworden. In ärmeren Zeiten, da der Mensch seine Zivilisation nahezu vergißt, ist der Wille geschrumpft und damit ist er anders und weniger geworden. Deshalb ist das Bild einer Oszillation zutreffend: Der Wille oszilliert zwischen seinem Stark- und seinem Schwachsein.
Ein Wille, der das Subjekt überschreitet und in den verschiedenen Subjekten erscheint, legt den Gedanken an nicht materielle Lebensformen nahe. Von dort bis zu spiritistischen und religiösen Vorstellungen ist kein weiter Weg. Deshalb ist eine Abgrenzung notwendig: Das Subjekt ist erfahrbar nur im bewußten Ich und seinen ihm zugänglichen Bereichen des Selbst. Es ist ein Körper, der nicht etwas Übersinnliches hat oder hervorbringt. Nichts im Körper ist ohne eine materielle Basis. Schwierig ist die Analyse des Willens, weil er selbst Ausdruck eines Körpers ist, der aber in der Generationenlinie und im Verbund der Art millionenfach auftritt. Die Verbindungen zwischen den Subjekten sind ebenfalls gebunden an ihre materielle Basis und nichts ist daran "übersinnlich" oder "übersubjektiv". Dennoch sind die Schwierigkeiten der Analyse des Subjekts von einem Grundirrtum verursacht: Die Bewegung von materiellen Teilen und ihre Energie sind offensichtlich der Kern des Organischen. Aber man sieht in den festen Bestandteilen und ihren Wechselwirkungen das Wesentliche des Organismusses, während es in der Bewegung zu suchen ist, also im kaum fixierbaren Prozeß. Die Organismen können deshalb so schwer als "nur" materiell erfaßt werden, weil Bewegung und Energie zwar ebenso materieller Natur sind, aber den Begriffen sich nicht so eindeutig integrieren lassen, wie z.B die Qualitäten der festen und flüssigen Stoffe. Dies in einem Beispiel: Die Wassermoleküle im Körper des Lebewesens sind ebenso beschaffen, wie die im Meer und den Flüssen. Die Analyse der Wassermoleküle könnte den Unterschied zwischen einer Wassermenge und einem Organismus nicht erhellen, sie sind sich beidemale gleich, aber die Prozesse in denen das Wasser eingebunden ist, sind grundsätzlich verschieden.
Bewegung und Energie sind eine Erscheinungsform der Materie und umgekehrt ist die Energie eine Erscheinungsform des Materiellen. Im Breich der Physik ist das eine alte Selbst- verständlichkeit, in der Analyse der Organismen ist es bisher ohne Konsequenz geblieben. Man muß die Bewegungen, die Energien und ihre Strukturen erfassen um das Subjekt und den Willen zu erkennen. Dabei sind die Analysen der stofflichen Prozesse, ihre chemischen und elektrischen Details ein Anfang, aber nicht ausreichend.
Sequenzen als Lebensformen
Verhaltenssequenzen der höheren Lebewesen werden teils genetisch vererbt, teils durch Lernen an die folgende Generation weitergegeben. Es gibt keinerlei Stillstand im Verhalten. Es wird wiederholt, variiert, trainiert und gespeichert. Dies gilt auch für die Abläufe innerhalb der Zellen. Die Stoffe werden ständig ausgetauscht und umgebaut. Auf allen Ebenen sind Bewegungsabläufe in Permanenz zu sehen. Während eine Maschine oder ein Computer durchaus abgeschaltet werden kann, ist das in den Lebensprozessen der höheren Organismen nicht möglich. Es erscheint so, als ob die Lebewesen als Bewegungs- sequenzen sich realisieren und dazu feste Stoffe und Speicher heranziehen, während eine Maschine sich als fester Komplex von festen Stoffen in einzelnen Teilen bewegt. Insofern sind Maschinen und Lebewesen völlig voneinander verschieden.
Interessant ist der Gedanke, wo der Versuch, ein künstliches Lebewesen herzustellen, ansetzen müßte. Der entscheidende Schritt dabei ist nicht der vom Einzeller zum Vielzeller oder zum Menschen sondern der vom Großmolekül zum Ur- organismus. Dabei scheint die stoffliche Frage gegenüber der des "Lebensatems", der "Seele" usw. vergleichsweise leicht zu lösen. Auf welcher Ebene im Mikrokosmos setzt dieser Lebensodem ein ? Daß er sich von selbst einstellt, wenn die Stoffe einem Organismus ähnlich angeordnet werden erscheint zunächst unwahrscheinlich. Die Fragestellung selbst lenkt aber den Blick auf das zentrale ungelöste Problem der Organismen: Woher haben sie die Bewegung des Lebensprozesses erhalten. Denkt man nicht an einen Schöpfer, so fragt sich, ob ein Anstoß von Außen dies bewirkte, etwa wie der des berühmten Initiationsmodells des Blitzschlages oder ob er von innen heraus kam. Anders: Ist das Lebewesen dort entstanden, wo wir es ansetzen oder früher, auf tiefer liegenden Stufen ? Leben besteht aus Bewegungen und Prozessen, die permanent sind. Gibt es diese Prozesse erst bei den Einzellern oder bereits bei bestimmten Molekülen ? Die Unzulässigkeit eines Stillstandes im Lebewesen findet sich wieder auf der atomaren Ebene. Sowohl der Atomkern wie auch die Elektronenhülle befinden sich in dauernden enegetischen Wandlungen und Austauschprozessen. Denkbar wäre, daß die bestimmte Anordnung von Atomen und Molekülen auch zugleich die Einbringung der Abläufe be- inhaltet, die den Lebensprozess begründen. Es wäre also ein Wille denkbar, der sehr tief unterhalb der Ebene des Einzellers ansetzt. Damit wäre man bei Schopenhauer angelangt. Die Art und Weise, wie diese Fragestellungen hypothetisch verfolgt werden können, verweisen nicht nur auf mögliche reale Zusammenhänge, sondern sie zeigen etwas Zwangsläufiges, welches den Grenzfunktionen ähnelt. Möglicherweise sind die Hypothesen selbst Ausdruck von Grenzfunktionen, die sich bei bestimmten gedanklichen Strukturen herausbilden.
Bewegung ist im Bild entweder kreisförmig, also Wieder- holung oder offen. Es macht große Schwierigkeiten Wieder- holungen außerhalb des menschlichen mechanisch-mathematischen Produktionsprozesses festzustellen. Nur statistisch lassen sich Lebewesen an Regelfälle annähern. Gerade aber das nicht Wiederholte im Lebensprozess ist Motor der Ent- wicklungen. Wiederkehrend sind die Zahl der Gene in den Zellkernen, die chemischen Prozesse der Verdauung usw. Nicht wiederkehrend sind die Gesamtstrukturen der ein- zelnen Abläufe im Organismus auf den verschiedenen Ebenen: chemische, physische, elektrische usw. Diese differenzierte Gesamtstruktur ist seit der hypthetischen Entstehung der Lebewesen ein zusammenhängender und nicht unterbrochener Prozess. Er ist nicht umfassend analysierbar. Dies hat unter anderem folgende Gründe: Die Vielschichtigkeit und Komplexität ist schon aus Gründen der anfallenden Datenmenge nicht protokollierbar. Während etwa die Verdauungschemie analysiert wird, lebt das Wesen weiter und produziert zugleich ein Vielfaches an neuen Datenmengen. Nur ein verschwindend geringer Teil der anfallenden Daten kann analysiert werden. Die feineren bewegten Strukturen erlauben kein Anbringen von Sensoren bzw. sind überhaupt nicht erfaßbar. Das heißt, möglicherweise relevante Vorgänge liegen unterhalb der Schwelle die überhaupt Ana- lysen zuläßt. Ein sehr großer Teil der Hirnfunktionen verlaufen codiert oder in chemische Moleküle transferiert ab. Auch hier ist nicht der Ansatz einer Analyse bisher sichtbar, von groben Einsichten in die Chemie der Nervenimpulse einmal abgesehen. Die Liste der Schwierigkeiten läßt sich fortsetzen. Es bedarf deshalb ergänzender Ansätze zur Aufklärung dessen, was Leben ist und dessen, was Erkenntnis leisten kann. Beides ist ineinander, die Antworten auf der einen Seite ermöglichen die Antworten auf der Anderen. Oft wird auf den enormen Erfolg der Produktion verwiesen. Dieser ist aber kein erkenntnistheoretisches Problem, sondern ein Bestandteil des Lebensprozesses und dessen Verlängerung in sogenannte "künstliche" Ebenen. Die grundlegende Frage identischer Größen, ein erkenntnis- theoretische Problem ersten Ranges, wird in der Produktion umgangen, indem durch Versuch und Irrtum das Resulktat herbeigeführt wird, welches umgefähr zu dem führt, was beabsichtigt gewesen war. Sämtliche Modelle der theoretischen und praktischen Physik sind im Nachhinein durch die Analyse der Resultate der Tätigkeiten formulierbar geworden. Im atomaren und molekularen Bereich hat es sehr große Annäherungen an kosmologisch bereits vorhandene Prozese gegeben. Die Atombombe und die Kunststoffe sind deshalb ermöglicht worden. Es bleibt aber bei dem grundsätzlichen Unterschied solcher Produktionen zu den Lebensprozessen. Man kann chemische Stoffe lagern und sie nach bestimmten Gesichtspunken zusammenbringen, Reaktionen auslösen usw. und entsprechende Produkte erhalten. Dabei kann der äußere Zugriff in breiter Variation erfolgen und die Zeitstrecke in bestimmtem Rahmen beliebig gehandhabt werden. Kein Lebensprozeß erlaubt solche Verfahren. Man kann Samen einfrieren und nach längerer Zeit aktivieren, aber dies verdeckt mehr als es erklärt, denn auch die einge- frorenen Samen können nach längerer Zeit keimunfähig werden. Der Lebensprozeß ist eine bewegte Struktur unter Verwendung von sogenannten stabilen Stoffen. Der Produktionsprozeß der menschlichen Technologie ist die Anordnung von festen Stoffen und ihre Initierung in bestimmten wiederkehrenden Bewegungs- abläufen, wobei das Gewicht auf Wiederkehr liegt, während im Organismus nur ein Ungefähr der Wiederkehr gegeben ist und viele Prozesse offenen Spiralen gleichen.
Erkenntnis als Produktion
Erkenntnis produziert das Erkannte. Es entsteht damit ein Drittes neben Subjekt und Objekt, welches sogleich dem Subjekt integriert wird und wieder als Objekt der Produktion vorliegt. Gemäß dem Satz: A ungleich A, ist eine getreue Abbildung der Wirklichkeit nicht möglich, aber Näherungen, die zu Produkten führen. Vereinfacht: Man analysiert Lebensprozesse und produziert Maschinenprozesse. In den ersten ist die Bewegung, in zweiten das definierte Teil vorrangig. Diese dem Lebensprinzip entgegengesetzte Richtung von Erkenntnis und Produktion führt dazu, daß zentrale Fragen immer mit zwei Antworten beantwortet werden können, die diametral sind. Deutlich ist dies bei der Frage, ob Leben eine besondere, höhere Stufe der Materie ist oder ob jede Materie als Leben aufzufassen ist.
Mathematik, Logik und die auf ihnen basierenden Modelle der Physik, Chemie, Biologie, Soziologie usw. sind Produkte der Erkenntnis und Tätigkeit. Sie tragen daher jene Beschränkungen in sich, die dem Produktions- prozeß der Erkenntnis zugehören. Die erste Gruppe der Beschränkungen liegt in der Linearität des Erkenntnisprozesses. Die Hypothese von Kausalität und Determinismus ist eine Folge jener Beschränkungen. Die zweite Gruppe der Beschränkungen resultiert aus der Anwendung des Erkannten als Wirklichkeit. Die Hypothese der Definierbarkeit aller Begriffe resultiert aus dieser Konstruktion von Wirklichkeit, die als Wirklichkeit, nicht aber als Konstruktion erfahren wird. Ideologiebildungen folgen daraus mit Zwangsläufigkeit. Erfolgreiche Ideologien sind in jeder historischen Epoche als Produktionen schwer zu erkennen. Sie erscheinen als etwas "Natürliches", "Gottgegebenes" usw. Weil alle Betroffenen die Dinge genau so sehen, wird immer wieder bewiesen, daß es so ist wie es ist. Im Mittelalter waltete überall "Gottes Wille", heute sind es die "Naturgesetze". Ähnliche Verblendungen bedrohen auch das moderne Denken. Die Reduzierung der Lebensprozesse auf lineare Muster, die begrenzt durchaus zutreffen, die Aufblähung der Modelle zur "Wirklichkeit" sind Anzeichen davon. Auch sie sind erfolgreich. Die massenhafte Anwendung von Maschinen und die völlige Übernahme eines entsprechenden Weltbildes erzeugt die gleiche Suggestion von Wirklichkeit wie die massenhaften Gebete der Frommen im Mittelalter.
Zeitgeist
Jede Epoche hat ihre Scheuklappen. Die Entwicklung von begrenzt denkfähigen Computern befördert eine Denkschablone, in der freier Wille, Ichbewußtsein und Selbst wissenschaftlich keine bedeutende Rolle spielen, bzw. ihre Existenz abgelehnt wird. Der Vorrang der Hardware in den Computern, ihre Ein- und Ausschaltbarkeit werden auf Organismen übertragen. Aber die wesentlichen Steuerungszentren im Organismus sind komplexe Prozesse, die sich zwar auf eine stark wandel- bare Hardware stützen, aber diese Hardware hört auf zu existieren, sie stirbt ab, wenn der "Programmprozeß" des Steuerungszentrums erlischt. Diese Nichtfixierbarkeit des existenziellen Zentrums des Organismusses wird mit Nichtvor- handensein oder Unbedeutendheit gleichgesetzt. Daher sind wesentliche Forschungsansätze von vornherein verbaut, tiefere Einsichten unmöglich, vom Nachbau lebender Systeme ganz zu schweigen.
Gebrochener Wille
Der ungebrochene Wille realisiert sich im Einzelwesen als synchron agierender Wille der Art, der Generationenlinie und des Individuums. Widersprüche innerhalb des Individuums zwischen den Bereichen des Willens, also etwa zwischen dem Erhaltungswillen der Generationenlinie und dem Willen des Individuums in einer bestimmten Krise, werden produktiv gelöst. Das bedeutet, der Wille regt Kämpfe an zur Erreichung des wesentlichen Zieles: Erzeugung der nächsten Generation. Wenn diese Kämpfe aussichtslos sind oder werden, regt der Wille die bloße Erhaltung des Individuums an, um in besseren Zeiten erneut das Generationenziel zu erreichen.
Der gebrochene Wille äußert sich unter anderm in der Aufgabe des Kampfes der Erhaltung der Generationenlinie und in der Selbstzerstörung des Individuums durch Anpassung an falsche Umwelteinflüsse, unter anderm: Drogenkonsum, Bequemlichkeit, Genußsucht usw.
Wie ist es aber möglich, daß der Wille gebrochen wird ? Als Ursachen kommen unzählige Faktoren der historischen und klimatischen Veränderungen in Betracht, aber auch psycho- logische und soziologische Wandlungen. Der Kernmechanismus liegt in der Entstehung des Wachbewußtseins und seiner zunehmenden Steuerungsmöglichkeit des Selbst. Das Wachbewußtsein sitzt auf den feinen Verästelungen des Triebstruktur-baumes (siehe: Fred Keil "Psychologische Strukturmodelle 3" Seite 5) Es kann nur steuern, indem die tieferen stärkeren "Äste" von einem Geflecht feiner Verästelungen überlagert werden. Dies bedeutet aber auch eine fast vollständige Willens- dezentralisierung besonders der elementaren Strebungen. Nur bei weitgehender Dezentralisierung und Auffächerung der Trieb- strebungen ist es den an sich energetisch schwachen Elementen des Wachbewußtseins möglich, das Individuum zu steuern. Diese Fähigkeit ist zweischneidig: Sie ermöglicht die Großstaaten und die moderne Technologie, also die unumschränkte Verfügung über den Lebensraum Erde. Aber sie ermöglicht auch das beliebige Umstellen und "Umpolen" elementarer Triebregungen. Diese ist in ihren Folgen ambivalent: Sie ermöglicht extreme "Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung". Damit entsteht die psychologische Grundlage für die größten menschlichen Leistungen: u.a. Wissenschaften und Raumfahrt, aber zugleich auch die Überformung der geschwächten Elementartriebe durch Anpassung an äußere Erfordernisse. An diesem Punkt setzt das Absterben ganzer Linien ein, deren Wille nicht mehr ziel- gerichtet wollen kann, "gebrochen" ist.
Bei der Analyse der Europäer ist die Besonderheit auffallend, daß die allgemeine Abwertung der Familie, der Fortpflanzung und der Sexualität, offensichtlich aus Mechanismen herrührt, die im Laufe der sexualfeindlichen Religionsentwicklung erworben wurden. Sie sind typisch für eine Umpolung im Trieb- geschehen, die zunächst im Wachbewußtsein ansetzt und dann in tiefere Ebenen absinkt und "unbewußt" verankert wird. Inwieweit diese Besonderheit gewichtiger ist als die Frage der "Wachheit", in der Spengler das Hauptproblem sah, ist offen.
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