Fred Keil  Notizen zur Erkenntnistheorie 2  AC Juli 01
                                                         Nr.239 
             Weitere Grenzfunktionen
             Die Zündung der Idee des Augenblicks setzt einen Begriff
             und seine Geschichte an den Anfang des Ichs.
             Dies ist zunächst scheinbar unzulässig, da der Begriff
             etwas Spätes und Abgeleitetes ist.
             Aber die prähistorischen Vorstufen dieses "Abgeleiteten,"
             die scheinbar einfacheren Zusammenhänge aus dem Tierreich
             und der Erdgeschichte sind Modelle und Begriffe und nicht
             weniger komplex abgeleitet als die Begriffe der Idee, des
             Augenblicks und des Ichs.
             Der Grad der Komplexität ist sowohl bei "einfachen" als auch
             bei "komplizierten" Sachverhalten gleich..Immer ist es
             der gesammte Denkapparat, der gesammte soziale und historische
             Kontex, der in den Begriffen wirkt.
             Nicht nur gibt es kein Erstes, sondern auch kein Einfaches.
             Auch hier wirkt wieder eine Grenzfunktion, die das
             Überschreiten des komplexen Gesamtzusammenhangs nicht
             zuläßt und keinen seperaten Punkt oder Raum kennt.
             Ich bezeichne sie als die sechste Grenzfunktion.
             Der Zusammenhang der begrifflichen und modellhaften
             Vorstellungen der Welt ist immer gleich komplex und jede
             partielle Vereinfachung wird sogleich wieder aufgehoben.
             Goethes Wort:" Am Anfang war die Tat", ist einer jener
             Trugschlüsse, die in jedem Gedanken an einen "Anfang"
             stecken. Was bedeutet die Tat ? Sie benötigt einen
             Täter in seiner Welt mit seiner Vorgeschichte und seinen
             Lebensbedingungen. Dabei entfaltet sich immer der ganze
             Begriffsapparat des Betrachtenden. Ohne Denken kein
             Erkennen und ohne Erkennen keine Tat.
             Aber was ist die Ur-Tat ohne Denken, die einmal in der
             frühen Erdgeschichte Leben begründete?
             Auch hier gilt: Ohne Erkennen und Begriff kein Gedanke
             an eine Zeit "vor" dem Denken. Das Objekt ohne das
             Subjekt ist eine Fata Morgana.

             Der Wille
             Bemerkenswert ist, daß der Begriff des Willens aus den
             naturwissenschaftlichen Vorstellungen mehr und mehr
             verschwindet und nur in der Psychologie noch erwähnt wird.
             Daneben ist das Absterben großer Philosophie oder mindestens
             ihr zeitweiliges Verstummen nach Nietzsche und nach Adorno
             zu beobachten. Schopenhauer und Nietzsche, in deren Gedanken
             der Wille eine zentrale Rolle spielte, stehen etwa historisch
             dort, wo die Alleinherrschaft des positivistischen Weltbildes
             anhebt.
             Das ist kein Zufall sondern innerlich im gleichen Netz
             verbunden.
             Naturwissenschaftliches Denken und Produzieren hat wesentlich
             zur Entwicklung der Großstaaten beigetragen und das was
             Wohlstand heißt, ermöglicht. Aber zugleich wirkte unterhalb
             der neu entstehenden naturwissenschaftlichen Weltbilder
             eine säkularisierte Religiösität weiter und die Über-
             bleibsel der von der Religion emanzipierten Philosophie.
             Leicht wird übersehen, daß die französischen Aufklärer,
             die deutschen Idealisten und ihre freigeistigen Erben jene
             Gestalten geformt- und ich will sagen, erst ermöglicht haben,
             ohne die weder Europa noch Amerika das geworden wären, was sie
             heute sind. Ich denke an: Friedrich den Großen, Napoleon,
             Bismarck, die amerikanischen Präsidenten, unter ihnen
             Theodore Roosevelt.
             Wenn heute ähnliche Gestalten nicht zu erkennen sind, so
             hat dies eine Reihe hier nicht zum Thema gehörenden Gründe
             aber auch, in diesem Zusammenhang wesentlich den, daß
             diese Überbleibsel von Aufklärung und Philosophie nicht
             mehr derart wirksam sind, wie noch im 19. Jahrhundert.
             Man wird sehen, daß die nicht vom strategisch-philosophischen
             Denken geprägte Ideologie, die sich heute breit macht,
             die Heraufkunft eines neuen Mittelalters möglich macht.
             Bemerkenswert ist das Gerede vom "Höheren Wesen" welches
             von Naturwissenschaftlern vereinzelt herüberkommt. Auch dies
             hat tiefere Gründe.
             Die Verdrängung des Willens in der Ideologie verhilft allen
             möglichen verdeckten Willensformen zur Artikulation.
             Verdeckt werden unter anderen: Machtstrebungen im ökonomischen
             Bereich von der Ideologie der "Marktgesetze" und die dem
             Darwinismus entlehnten Vorstellungen. Machtstrebungen von
             Ideologen aller Art: Religionen, Schutzvereine, Politsektierer,
             Parteigängern usw.
             Aber es ist nicht der einzelne individuelle Wille, der den
             Motor willentlicher Prozesse bildet, dies geschieht nur
             ausnahmsweise. Hegels Konstrukt vom "Volkswillen" war dem
             auf der Spur und ging dann am Ziel vorbei. Vielmehr "will"
             der im Körper präsente Wille des Lebewesens als zugleich
             Einzelwesen und Repräsentant einer Artlinie.
             Aber die Nietzesche Vereinfachung, es wirke stets der
             Wille zur Macht, verdeckt mehr als sie aufklärt. Wohl
             war es philosophisch fruchtbar und notwendig, den Macht-
             willen an Priestern, im Mitleid, im Kranksein usw. aufzu-
             decken, aber das Leben ist derart reich an Gestaltungs-
             formen, daß auch andere Willensstrebungen entstehen und
             bestehen können. Der Modellcharakter jeder zentralen Inter-
             pretation des Lebens gilt auch für den "Willen zur Macht".
             Nicht weicht das Leben von seinen "Grundprinzipen",
             etwa dem überstrapazierten Darwinismus ab, sondern es
             sind die Modelle selbst, die notwendig abweichen von dem was
             so leichther als "Wirklichkeit" bezeichnet wird.
             Aber was wirklich wirkt, das ist das Fragezeichen. Es ist
             das scheinbar Selbstverständliche, die "Realität" nicht
             selbstverständlich.
             Wille und Subjekt sind stellenweise einander identisch.
             Der jeweils wirkende Wille ist der des Subjekts oder der
             mehrerer Subjekte. Damit ist die Schwierigkeit der Frage
             nach dem Willen aber nur verlagert auf die Frage: Was ist das
             Subjekt ?
             Subjekt in klarester Gestalt ist der zielbestimmt und
             reflektiert handelnde Einzelne. In ihm waltet der Wille
             seine Ziele zu erreichen und zu sein, was er sein will.
             Stillschweigend wird stets dabei gedacht, daß er sich über
             die Generationen hinweg erhalten und reproduzieren wollte und
             dies weiterhin will.
             Der Einzelne besteht aus Billionen von Zellen, die
             miteinander eine symbioseähnliche Verbindung haben, allein
             nicht lebensfähig sind und miteinander kommunizieren und
             arbeitsteilig produzieren. Aber jede Zelle repräsentiert
             den kompletten Gensatz, das heißt jede Zelle ist in gewissem
             Sinn der ganze Mensch. Die Clonversuche haben dies eindrucks-
             voll erwiesen. Diese Zellen sind in einem jeweiligen
             Wachstumsprozeß eingebunden, der in jeder Konsequenz der
             Wille der Zelle ist. Aber dieser Wille ist nicht so eindeutig
             konservativ wie der Darwinismus nahelegt. Nicht nur Störungen
             lösen Mutationen aus, die ebenso überbewertet werden,
             wie andre Elemente des Darwinismus, sondern eine Art Spiel-
             wille ist auf allen Lebensebenen zu vermuten, der überaus
             produktiv ist.
             Einzelne Handlungsabläufe sehen so aus, als ob ein völlig
             gleichsinniger Wille in allen Elementen und auf allen
             Steuerungsebenen des Subjekts wirken würde. Hierhin gehört
             die Nahrungsaufnahme und Verdauung aber auch die Werbung,
             Begattung und Vermehrung. Aber zugleich werden vielfältige
             Dissonanzen sichtbar. Die Psychoanlyse mit ihrer Theorie vom
             Unbewußten hat versucht, solche Dissonanzen als Störungsfolgen
             zu erklären. Danach ist der Wille zunächst einheitlich und
             harmonisch in einem als ideal gedachten Lebensraum, er
             wird aber gestört durch von Außen oder von innen kommende
             Einflüsse: falsche Erziehung, Stoffwechselschäden usw.
             Die Persönlichkeitsspaltung in der Schizophrenie zeigt
             mehrere Willensstrebungen, die einander widersprechen und
             zerstörerisch wirken.
             Eine weitere Frage stellt sich, ob es größere Willenseinheiten
             als den Einzelnen gibt. Die Generationenlinie erhält sich
             durch konsequente Reproduktion der Organismen, die weitgehend
             stabil bleiben aber in Varianten entstehen und einen
             langfristigen Wandlungsprozeß durchmachen. Da das Bewußtsein
             nicht an allen diesen Vorgängen direkt beteiligt ist, kann
             es als wollendes Zentrum nur vorrübegehend wirksam sein. Aber
             es ist in diesen Phasen seiner Wirksamkeit nicht minder
             bedeutend wie die Gene bei der Rekombination nach der Be-
             fruchtung der Eizelle.
             Die nächtshöhere Willenseinheit ist die Art. Das Paarungs-
             verhalten zeigt wie jedes die Mischung aus konservativen und
             variablen Elementen. Inszestuöses und extrem exogames
             Verhalten sind vorhanden und offensichtlich phasenweise der
             Art dienlich. Aber wo sind die Willenszentren dieser
             höheren Organisationseinheiten der Generationslinie und der
             Art ?
             Wenn man den Geisterglauben und Metaphysik sowie alle anderen
             offenen oder verdeckten theologischen Ansätze außer Betracht
             läßt, müssen alle Willenszentren einen zentralen Sitz
             haben bzw. ihre dezantralisierten Einheiten in einer quasi
             zentralen Verkopplung wirksam sein. Da das Bewußtsein mit
             dem Tod verlischt, kommt es nur als Willenszentrum für das
             erwachsene bewußt lebende Einzelwesen in Frage, nicht aber
             für die Zellteilungen der Reproduktion. Die langfristigen
             Entwicklungen der Art sind wahrscheinlich vom Bewußtsein als
             Willenszentrum getragen, aber nicht ausschließlich durch
             dieses. Das sogenannte Selbst des Organismusses ist eher als
             Willenszentrum der Art denkbar.
             Art und Generationenlinie überschreiten das Einzelwesen.
             Es ist schwer vorstellbar, daß ein einheitlicher Wille, ein
             Subjekt über den Einzelnen hinaus möglich ist.
             Die Erhaltung der Art und der Generationenlinie weist auf
             einen solchen übergeordneten Willen hin. Da jedoch sämtliche
             metaphysischen Interpretationen in Gespensterglauben einmünden
             und andererseits Darwinismus und Zufallstheorien nichts zum
             Verständnis beitragen, bleibt nur die Annahme, daß dieser
             Wille sich in Einzelwesen manifestiert, und dort auch seinen
             Aufenthaltsort wechselt.
             So liegt er bei Erwachsenen im Bewußtsein, welches sich an
             das Selbst ankoppelt. Bei der Befruchtung liegt er in der
             Eizelle und in der Samenzelle, danach im Fötus.
             Aber es liegt nahe anzunehmen, daß der sozial verflochtene
             Wille, wie er im Erwachsenen ist, nicht im Fötus vollständig
             präsent sein kann. Der Wille ist durch die Eltern-Kindfolge
             durch die Generationen immer auch in einem Bewußtsein
             präsent, nicht anders wäre beim Menschen die Generationenlinie
             lebensfähig.
             Die Konstruktion des Willens entfernt sich mehr und mehr
             von dem, was unter einem wollenden Subjekt gedacht wird. Der
             Wille ist wandernd, dezentral und "springend" und doch in
             seinen Zentren so beschaffen, als ob ein einheitlicher Willen
             über Generationen an einem Ort möglich wäre.
             Dieses Modell ist nicht so ungewöhnlich und fremd wie es
             zunächst erscheint. Die Insekten zeigen ein Erscheinungsbild,
             welches dem nahekommt. Ihr soziales Leben ist vollständig
             in den Erbanlagen verankert, das Einzelwesen repräsentiert
             es vollständig, und doch ist das Einzelwesen beinahe
             entbehrlich.
             Die menschliche Entwicklung ist ein Sonderfall, da in ihr
             Teile des "Gehirns" ausgelagert sind in "tote" Speicher des
             Gesamtgedächtnisses der Art. Einerseits wäre es denkbar, daß
             die menschliche Art völlig ins Tierhafte zurückfällt, wenn
             alle diese toten Speicher verloren gingen -. sie sind also
             Teile des Subjekts und des Willens. Andererseits wirkt der
             Wille immer durch ein Einzelwesen hindurch. Der Einzelne ist
             temporär dieser Wille vollständig. Wenn er stirbt und kein
             ebenso hoch entwickelter Einzelner nachfolgt, so bleiben in
             den toten Speichern doch alle die Elemente erhalten, die
             eine Reaktivierung des Willens auf hoher Stufe ermöglichen.
             Die Ausweitung des wollenden Subjekts auf die Art ist allen
             Lebewesen gemeinsam, aber die Ausweitungen auf "tote"
             Speicher und andere materielle Manifestationen wie Werkzeuge
             usw. finden sich außerhalb der Menschheit nur ansatzweise.
             Möglicherweise rührt das partiellle Absterben von Teilen
             der Art aus dieser Besonderheit. Das bedeutet, die Macht-
             ausweitung des Willens birgt erhebliche Gefahren. Er
             lernt es zu "vergessen" wozu er wollen soll.
             Die scheinbare Zersplitterung des wollenden Subjekts im
             "Artwillen" findet eine Analogie im Einzelorganismus selbst.
             In ihm wirken die Zellen, Organe und Lebenserhaltungssysteme
             zusammen mit den Erinnerungsspeichern "wie" ein Individuum,
             welches aus einem Strom gleichgerichteter Willensregungen
             gesteuert wird.
             Nur bei einer geringen Zahl bewußter Entscheidungen kann
             das Subjekt als bewußt wollendes Subjekt aufgefaßt werden,
             alle anderen sind von nicht bewußten Strömungen herbei-
             geführt.
             Dennoch besteht über die Zielstrebigkeit des Organismusses
             kein Zweifel. Der Fortpflanzungstrieb und die Ernährungs-
             triebe operieren im Ganzen wesentlich zielgenauer als das
             planende Bewußtsein, welches innerhalb des Subjekts nicht
             allzuviel beeinflussen kann.
             Platos Ideen und Schopenhauers Wille sind ähnlich konstruiert
             wie das "Artbewußtsein". Aber es gibt keinen Ort außerhalb
             des Einzelwesens, an welchem dieses "Artbewußtsein" sitzt.
             Platos Ideen sperren sich gegen die Realität, sie sind
             zeitlos und ewig, während der "Artwille" das Gegenteil
             davon ist. Jeder Wille tritt auf, agiert und tritt zurück.
             Der Wille gleicht einem sich gelegentlich aufblähenden
             Ballon, der sich wieder auf kleinsten Raum zurückzieht,
             wenn die Aktion abgeschlossen ist.
             Diese Aufblähung des Willens ist substanziell. Wenn ein
             starkes Individuum über die Gedächtnisspeicher der Menschheit
             verfügen kann und große Bewegungen hervorruft, so Buddha
             im geistigen und Augustus im politischen Bereich, dann
             steigt der Wille in eine andere Qualität auf, das heißt
             er ist anders geworden. In ärmeren Zeiten, da der Mensch seine
             Zivilisation nahezu vergißt, ist der Wille geschrumpft
             und damit ist er anders und weniger geworden.
             Deshalb ist das Bild einer Oszillation zutreffend: Der
             Wille oszilliert zwischen seinem Stark- und seinem
             Schwachsein.
             Ein Wille, der das Subjekt überschreitet und in den
             verschiedenen Subjekten erscheint, legt den Gedanken an nicht
             materielle Lebensformen nahe. Von dort bis zu spiritistischen
             und religiösen Vorstellungen ist kein weiter Weg.
             Deshalb ist eine Abgrenzung notwendig:
             Das Subjekt ist erfahrbar nur im bewußten Ich und seinen
             ihm zugänglichen Bereichen des Selbst. Es ist ein Körper,
             der nicht etwas Übersinnliches hat oder hervorbringt.
             Nichts im Körper ist ohne eine materielle Basis.
             Schwierig ist die Analyse des Willens, weil er selbst Ausdruck
             eines Körpers ist, der aber in der Generationenlinie und
             im Verbund der Art millionenfach auftritt. Die Verbindungen
             zwischen den Subjekten sind ebenfalls gebunden an ihre
             materielle Basis und nichts ist daran "übersinnlich" oder
             "übersubjektiv".
             Dennoch sind die Schwierigkeiten der Analyse des Subjekts
             von einem Grundirrtum verursacht: Die Bewegung von
             materiellen Teilen und ihre Energie sind offensichtlich
             der Kern des Organischen. Aber man sieht in den festen
             Bestandteilen und ihren Wechselwirkungen das Wesentliche
             des Organismusses, während es in der Bewegung zu suchen ist,
             also im kaum fixierbaren Prozeß. Die Organismen können deshalb
             so schwer als "nur" materiell erfaßt werden, weil Bewegung und
             Energie zwar ebenso materieller Natur sind, aber den
             Begriffen sich nicht so eindeutig integrieren lassen, wie
             z.B die Qualitäten der festen und flüssigen Stoffe.
             Dies in einem Beispiel: Die Wassermoleküle im Körper des
             Lebewesens sind ebenso beschaffen, wie die im Meer und den
             Flüssen. Die Analyse der Wassermoleküle könnte den Unterschied
             zwischen einer Wassermenge und einem Organismus nicht erhellen,
             sie sind sich beidemale gleich, aber die Prozesse in denen das
             Wasser eingebunden ist, sind grundsätzlich verschieden.
             Bewegung und Energie sind eine Erscheinungsform der Materie
             und umgekehrt ist die Energie eine Erscheinungsform des
             Materiellen. Im Breich der Physik ist das eine alte Selbst-
             verständlichkeit, in der Analyse der Organismen ist es
             bisher ohne Konsequenz geblieben. Man muß die Bewegungen,
             die Energien und ihre Strukturen erfassen um das Subjekt und
             den Willen zu erkennen. Dabei sind die Analysen der
             stofflichen Prozesse, ihre chemischen und elektrischen Details
             ein Anfang, aber nicht ausreichend.
             Sequenzen als Lebensformen
             Verhaltenssequenzen der höheren Lebewesen werden teils
             genetisch vererbt, teils durch Lernen an die folgende
             Generation weitergegeben. Es gibt keinerlei Stillstand
             im Verhalten. Es wird wiederholt, variiert, trainiert
             und gespeichert. Dies gilt auch für die Abläufe innerhalb
             der Zellen. Die Stoffe werden ständig ausgetauscht und
             umgebaut. Auf allen Ebenen sind Bewegungsabläufe in
             Permanenz zu sehen. Während eine Maschine oder ein Computer
             durchaus abgeschaltet werden kann, ist das in den
             Lebensprozessen der höheren Organismen nicht möglich.
             Es erscheint so, als ob die Lebewesen als Bewegungs-
             sequenzen sich realisieren und dazu feste Stoffe und
             Speicher heranziehen, während eine Maschine sich als
             fester Komplex von festen Stoffen in einzelnen Teilen
             bewegt. Insofern sind Maschinen und Lebewesen völlig
             voneinander verschieden.
             Interessant ist der Gedanke, wo der Versuch, ein künstliches
             Lebewesen herzustellen, ansetzen müßte. Der entscheidende
             Schritt dabei ist nicht der vom Einzeller zum Vielzeller
             oder zum Menschen sondern der vom Großmolekül zum Ur-
             organismus. Dabei scheint die stoffliche Frage gegenüber
             der des "Lebensatems", der "Seele" usw. vergleichsweise
             leicht zu lösen. Auf welcher Ebene im Mikrokosmos setzt
             dieser Lebensodem ein ? Daß er sich von selbst einstellt,
             wenn die Stoffe einem Organismus ähnlich angeordnet werden
             erscheint zunächst unwahrscheinlich. Die Fragestellung
             selbst lenkt aber den Blick auf das zentrale ungelöste
             Problem der Organismen:
             Woher haben sie die Bewegung des Lebensprozesses erhalten.
             Denkt man nicht an einen Schöpfer, so fragt sich, ob ein
             Anstoß von Außen dies bewirkte, etwa wie der des berühmten
             Initiationsmodells des Blitzschlages oder ob er von innen
             heraus kam. Anders: Ist das Lebewesen dort entstanden, wo wir
             es ansetzen oder früher, auf tiefer liegenden Stufen ?
             Leben besteht aus Bewegungen und Prozessen, die permanent
             sind. Gibt es diese Prozesse erst bei den Einzellern oder
             bereits bei bestimmten Molekülen ?
             Die Unzulässigkeit eines Stillstandes im Lebewesen findet
             sich wieder auf der atomaren Ebene. Sowohl der Atomkern wie
             auch die Elektronenhülle befinden sich in dauernden
             enegetischen Wandlungen und Austauschprozessen.
             Denkbar wäre, daß die bestimmte Anordnung von Atomen und
             Molekülen auch zugleich die Einbringung der Abläufe be-
             inhaltet, die den Lebensprozess begründen.
             Es wäre also ein Wille denkbar, der sehr tief unterhalb
             der Ebene des Einzellers ansetzt. Damit wäre man bei
             Schopenhauer angelangt.
             Die Art und Weise, wie diese Fragestellungen hypothetisch
             verfolgt werden können, verweisen nicht nur auf mögliche
             reale Zusammenhänge, sondern sie zeigen etwas Zwangsläufiges,
             welches den Grenzfunktionen ähnelt.
             Möglicherweise sind die Hypothesen selbst Ausdruck von
             Grenzfunktionen, die sich bei bestimmten gedanklichen
             Strukturen herausbilden.
             Bewegung ist im Bild entweder kreisförmig, also Wieder-
             holung oder offen. Es macht große Schwierigkeiten Wieder-
             holungen außerhalb des menschlichen mechanisch-mathematischen
             Produktionsprozesses festzustellen. Nur statistisch lassen
             sich Lebewesen an Regelfälle annähern. Gerade aber das
             nicht Wiederholte im Lebensprozess ist Motor der Ent-
             wicklungen. Wiederkehrend sind die Zahl der Gene in den
             Zellkernen, die chemischen Prozesse der Verdauung usw.
             Nicht wiederkehrend sind die Gesamtstrukturen der ein-
             zelnen Abläufe im Organismus auf den verschiedenen Ebenen:
             chemische, physische, elektrische usw. Diese differenzierte
             Gesamtstruktur ist seit der hypthetischen Entstehung der
             Lebewesen ein zusammenhängender und nicht unterbrochener
             Prozess. Er ist nicht umfassend analysierbar. Dies hat
             unter anderem folgende Gründe: Die Vielschichtigkeit und
             Komplexität ist schon aus Gründen der anfallenden Datenmenge
             nicht protokollierbar. Während etwa die Verdauungschemie
             analysiert wird, lebt das Wesen weiter und produziert
             zugleich ein Vielfaches an neuen Datenmengen.
             Nur ein verschwindend geringer Teil der anfallenden Daten
             kann analysiert werden. Die feineren bewegten Strukturen
             erlauben kein Anbringen von Sensoren bzw. sind überhaupt
             nicht erfaßbar. Das heißt, möglicherweise relevante
             Vorgänge liegen unterhalb der Schwelle die überhaupt Ana-
             lysen zuläßt. Ein sehr großer Teil der Hirnfunktionen
             verlaufen codiert oder in chemische Moleküle transferiert
             ab. Auch hier ist nicht der Ansatz einer Analyse bisher
             sichtbar, von groben Einsichten in die Chemie der
             Nervenimpulse einmal abgesehen.
             Die Liste der Schwierigkeiten läßt sich fortsetzen.
             Es bedarf deshalb ergänzender Ansätze zur Aufklärung
             dessen, was Leben ist und dessen, was Erkenntnis leisten
             kann. Beides ist ineinander, die Antworten auf der
             einen Seite ermöglichen die Antworten auf der Anderen.
             Oft wird auf den enormen Erfolg der Produktion verwiesen.
             Dieser ist aber kein erkenntnistheoretisches Problem,
             sondern ein Bestandteil des Lebensprozesses und dessen
             Verlängerung in sogenannte "künstliche" Ebenen. Die
             grundlegende Frage identischer Größen, ein erkenntnis-
             theoretische Problem ersten Ranges, wird in der Produktion
             umgangen, indem durch Versuch und Irrtum das Resulktat
             herbeigeführt wird, welches umgefähr zu dem führt, was
             beabsichtigt gewesen war. Sämtliche Modelle der theoretischen
             und praktischen Physik sind im Nachhinein durch die
             Analyse der Resultate der Tätigkeiten formulierbar geworden.
             Im atomaren und molekularen Bereich hat es sehr große
             Annäherungen an kosmologisch bereits vorhandene Prozese
             gegeben. Die Atombombe und die Kunststoffe sind deshalb
             ermöglicht worden.
             Es bleibt aber bei dem grundsätzlichen Unterschied solcher
             Produktionen zu den Lebensprozessen. Man kann chemische
             Stoffe lagern und sie nach bestimmten Gesichtspunken
             zusammenbringen, Reaktionen auslösen usw. und entsprechende
             Produkte erhalten. Dabei kann der äußere Zugriff in
             breiter Variation erfolgen und die Zeitstrecke in bestimmtem
             Rahmen beliebig gehandhabt werden.
             Kein Lebensprozeß erlaubt solche Verfahren. Man kann
             Samen einfrieren und nach längerer Zeit aktivieren, aber
             dies verdeckt mehr als es erklärt, denn auch die einge-
             frorenen Samen können nach längerer Zeit keimunfähig werden.
             Der Lebensprozeß ist eine bewegte Struktur unter Verwendung
             von sogenannten stabilen Stoffen. Der Produktionsprozeß der
             menschlichen Technologie ist die Anordnung von festen Stoffen
             und ihre Initierung in bestimmten wiederkehrenden Bewegungs-
             abläufen, wobei das Gewicht auf Wiederkehr liegt, während im
             Organismus nur ein Ungefähr der Wiederkehr gegeben ist und
             viele Prozesse offenen Spiralen gleichen.
             Erkenntnis als Produktion
             Erkenntnis produziert das Erkannte. Es entsteht damit ein
             Drittes neben Subjekt und Objekt, welches sogleich dem
             Subjekt integriert wird und wieder als Objekt der Produktion
             vorliegt. Gemäß dem Satz: A ungleich A, ist eine getreue
             Abbildung der Wirklichkeit nicht möglich, aber Näherungen,
             die zu Produkten führen. Vereinfacht: Man analysiert
             Lebensprozesse und produziert Maschinenprozesse. In
             den ersten ist die Bewegung, in zweiten das definierte Teil
             vorrangig. Diese dem Lebensprinzip entgegengesetzte
             Richtung von Erkenntnis und Produktion führt dazu, daß
             zentrale Fragen immer mit zwei Antworten beantwortet werden
             können, die diametral sind. Deutlich ist dies bei der Frage,
             ob Leben eine besondere, höhere Stufe der Materie ist
             oder ob jede Materie als Leben aufzufassen ist.
             Mathematik, Logik und die auf ihnen basierenden Modelle
             der Physik, Chemie, Biologie, Soziologie usw.
             sind Produkte der Erkenntnis und Tätigkeit. Sie tragen
             daher jene Beschränkungen in sich, die dem Produktions-
             prozeß der Erkenntnis zugehören.
             Die erste Gruppe der Beschränkungen liegt in der
             Linearität des Erkenntnisprozesses. Die Hypothese von
             Kausalität und Determinismus ist eine Folge jener
             Beschränkungen. Die zweite Gruppe der Beschränkungen
             resultiert aus der Anwendung des Erkannten als Wirklichkeit.
             Die Hypothese der Definierbarkeit aller Begriffe
             resultiert aus dieser Konstruktion von Wirklichkeit,
             die als Wirklichkeit, nicht aber als Konstruktion
             erfahren wird. Ideologiebildungen folgen daraus mit
             Zwangsläufigkeit.
             Erfolgreiche Ideologien sind in jeder historischen Epoche
             als Produktionen schwer zu erkennen. Sie erscheinen als
             etwas "Natürliches", "Gottgegebenes" usw. Weil alle
             Betroffenen die Dinge genau so sehen, wird immer wieder
             bewiesen, daß es so ist wie es ist. Im Mittelalter waltete
             überall "Gottes Wille", heute sind es die "Naturgesetze".
             Ähnliche Verblendungen bedrohen auch das moderne Denken.
             Die Reduzierung der Lebensprozesse auf lineare Muster,
             die begrenzt durchaus zutreffen, die Aufblähung der Modelle
             zur "Wirklichkeit" sind Anzeichen davon. Auch sie sind
             erfolgreich. Die massenhafte Anwendung von Maschinen und
             die völlige Übernahme eines entsprechenden Weltbildes
             erzeugt die gleiche Suggestion von Wirklichkeit wie die
             massenhaften Gebete der Frommen im Mittelalter.
             Zeitgeist
             Jede Epoche hat ihre Scheuklappen. Die Entwicklung von
             begrenzt denkfähigen Computern befördert eine Denkschablone,
             in der freier Wille, Ichbewußtsein und Selbst wissenschaftlich
             keine bedeutende Rolle spielen, bzw. ihre Existenz abgelehnt
             wird. Der Vorrang der Hardware in den Computern, ihre Ein-
             und Ausschaltbarkeit werden auf Organismen übertragen.
             Aber die wesentlichen Steuerungszentren im Organismus sind
             komplexe Prozesse, die sich zwar auf eine stark wandel-
             bare Hardware stützen, aber diese Hardware hört auf zu
             existieren, sie stirbt ab, wenn der "Programmprozeß" des
             Steuerungszentrums erlischt. Diese Nichtfixierbarkeit des
             existenziellen Zentrums des Organismusses wird mit Nichtvor-
             handensein oder Unbedeutendheit gleichgesetzt.
             Daher sind wesentliche Forschungsansätze von vornherein
             verbaut, tiefere Einsichten unmöglich, vom Nachbau lebender
             Systeme ganz zu schweigen.
             Gebrochener Wille
             Der ungebrochene Wille realisiert sich im Einzelwesen als
             synchron agierender Wille der Art, der Generationenlinie und
             des Individuums. Widersprüche innerhalb des Individuums
             zwischen den Bereichen des Willens, also etwa zwischen dem
             Erhaltungswillen der Generationenlinie und dem Willen des
             Individuums in einer bestimmten Krise, werden produktiv
             gelöst. Das bedeutet, der Wille regt Kämpfe an zur Erreichung
             des wesentlichen Zieles: Erzeugung der nächsten Generation.
             Wenn diese Kämpfe aussichtslos sind oder werden, regt der
             Wille die bloße Erhaltung des Individuums an, um in besseren
             Zeiten erneut das Generationenziel zu erreichen.
             Der gebrochene Wille äußert sich unter anderm in der Aufgabe
             des Kampfes der Erhaltung der Generationenlinie und in der
             Selbstzerstörung des Individuums durch Anpassung an falsche
             Umwelteinflüsse, unter anderm: Drogenkonsum, Bequemlichkeit,
             Genußsucht usw.
             Wie ist es aber möglich, daß der Wille gebrochen wird ?
             Als Ursachen kommen unzählige Faktoren der historischen und
             klimatischen Veränderungen in Betracht, aber auch psycho-
             logische und soziologische Wandlungen. Der Kernmechanismus
             liegt in der Entstehung des Wachbewußtseins und seiner
             zunehmenden Steuerungsmöglichkeit des Selbst.
             Das Wachbewußtsein sitzt auf den feinen Verästelungen des
             Triebstruktur-baumes (siehe: Fred Keil "Psychologische
             Strukturmodelle 3"  Seite 5)
             Es kann nur steuern, indem die tieferen stärkeren "Äste"
             von einem Geflecht feiner Verästelungen überlagert werden.
             Dies bedeutet aber auch eine fast vollständige Willens-
             dezentralisierung besonders der elementaren Strebungen. Nur
             bei weitgehender Dezentralisierung und Auffächerung der Trieb-
             strebungen ist es den an sich energetisch schwachen Elementen
             des Wachbewußtseins möglich, das Individuum zu steuern. Diese
             Fähigkeit ist zweischneidig: Sie ermöglicht die Großstaaten
             und die moderne Technologie, also die unumschränkte Verfügung
             über den Lebensraum Erde. Aber sie ermöglicht auch das
             beliebige Umstellen und "Umpolen" elementarer Triebregungen.
             Diese ist in ihren Folgen ambivalent: Sie ermöglicht extreme
             "Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung". Damit entsteht die
             psychologische Grundlage für die größten menschlichen
             Leistungen: u.a. Wissenschaften und Raumfahrt, aber zugleich
             auch die Überformung der geschwächten Elementartriebe durch
             Anpassung an äußere Erfordernisse. An diesem Punkt setzt das
             Absterben ganzer Linien ein, deren Wille nicht mehr ziel-
             gerichtet wollen kann, "gebrochen" ist.
             Bei der Analyse der Europäer ist die Besonderheit auffallend,
             daß die allgemeine Abwertung der Familie, der Fortpflanzung
             und der Sexualität, offensichtlich aus Mechanismen herrührt,
             die im Laufe der sexualfeindlichen Religionsentwicklung
             erworben wurden. Sie sind typisch für eine Umpolung im Trieb-
             geschehen, die zunächst im Wachbewußtsein ansetzt und dann
             in tiefere Ebenen absinkt und "unbewußt" verankert wird.
             Inwieweit diese Besonderheit gewichtiger ist als die Frage
             der "Wachheit", in der Spengler das Hauptproblem sah, ist
             offen.
                                  ----------------