Fred Keil  Notizen zur Erkenntnistheorie  Nr.238  AC Juni 2001
             Grundsätzliche Erwägungen
             Die Frage, wie Erkenntnis möglich sei und wie sie beschaffen
             ist, entstammt dem Katalog jener Rückkoppelungsmechanismen,
             die erfolgreiches bewußtes Handeln und Überleben ermöglichen.
             Verführerisch ist der immer wiederkehrende Gedanke, Erkenntnis
             sei auf einen zentralen Vorgang oder Begriff zurückführbar.
             Weder aber das Wort als Ursprung noch die Tat, noch auch das
             Sein, der Kosmos oder die Urgeschichte erhellen die Frage-
             stellungen zur Erkenntnis vollständig. Vielmehr sind alle
             gelungenen Erklärungsversuche so beschaffen, daß sie die
             jeweils anderen benötigen. Kein Sein ohne Tat, aber auch keine
             Tat ohne das Wort.
             Der geschichtliche Ansatz erleidet den genannten Mangel
             ebenso, aber er ist zumindest als Rekurs darüber, wie das
             wurde, was geworden ist, notwendig. Jede systematische
             Philosophie hat ihn aufgegriffen und durchgeführt.
             Der Umstand, daß idealistische, empiristische, materialist-
             ische, nominalistische, realistische, marxistische, positiv-
             istische und andere Ansätze zu Erklärungsmodellen führen
             können, widerlegt den Primat eines Einzelnen. Sie bedürfen
             einander, wie die verschiedenen Organe im Menschen.
             Die Frage nach dem Ersten, die Ursprungsfrage führt zu immer
             mehr verschwimmenden Bildern, je weiter die Suche sich von der
             Gegenwart entfernt. Es ist wie eine fließende Grenze, bei der
             nie gesagt werden kann, wo sie überschritten wurde. Ähnlich
             verhält es sich mit den empirischen Untersuchungen, sowohl im
             Mikro - wie im Makrokosmos. Grenzen, Grenz -flächen, -räume,
             -zustände sind zentral und gehören zu den Grunderfahrungen der
             Erkenntnis. Grenze und Abgrenzung markiert ein vertrautes
             Territorium gegen ein unbekanntes. Aber das Vertraute ist
             selbst durchsetzt von Nichtbekanntem und durchzogen von
             Grenzen verschiedenster Art. Grenze selbst als Begriff zeigt
             sich nur unter oberflächlicher Betrachtung als stable Größe.
             Von einem Staat kann gesagt werden, seine Grenze verläuft am
             Ufer dieses Flusses oder folgt diesen Markierungslinien.
             Es ist der soziale Kontex, die Wiederholung des Gedachten
             in tausenden von Gehirnen, welches hier zusammen mit
             Vergröberungen auf physikalischer Ebene eine schlüssige
             Definition erbringt.
             Die vollständige Begrenzung, die Definition eines Dings,
             gelingt in der Mathematik, solange sie nicht auf reale Sach-
             verhalte übertragen wird. Aber sie nimmt ihre Berechenbarkeit
             mit hinaus und verhilft zu richtigen Abschätzungen in der
             Realität. Die Mathematisierung der Realität, selbst eine
             mathematische Operation im Zusammenhang mit realen Erprob-
             ungen, ist die entscheidende Grundlage der menschlichen
             Lebensfähigkeit geworden. Rechnen und Messen stehen am Anfang
             jeder Kultur. Ihre Verflechtung mit Phantasie und Wagemut hat
             Kontinente und atomare Welten erschlossen und ermöglicht den
             Sprung in den Weltraum. Daß aber der Erfolg nicht von der
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             Differenz zwischen Mathematik und Realität aufgezehrt wird,
             liegt an den verschiedensten "Glättungsverfahren": Stellen
             hinter dem Komma verschwinden und mittels statistischer
             Methoden werden brauchbare Mittelwerte gefunden.
             Ist es Zufall oder gibt es einen Zusammenhang zwischen der
             Verbreitung mathematischen Denkens und dem Aufkommen von
             Aberglauben ? Interessant ist die Anfälligkeit von Natur-
             wissenschaftlern für mystische Gedanken und abergläubige
             Anschauungen. Ich vermute einen Zusammenhang. Der Erfolg
             mechanischer Produktionen ist begründet durch Mathematik,
             Erfahrung und Phantasie. Der Preis ist, daß Modelle an die
             Stelle der Wirklichkeit treten. Auch dies hat seine aber-
             gläubigen Vorstufen. Viele Menschen glauben an Himmel und
             Hölle, andere an Transzendenz, imaginäre Welten, Gegen-
             universen usw. Der erfolgreich gebaute Motor erzeugt die
             Gewißheit, das von uns gemachte Abbild der Wirklichkeit
             repräsentiere die Wirklichkeit. Dies ist bezogen auf die
             Wirksamkeit und Realität des Motors zutreffend. Aber es ist
             auf komplexe Prozesse schwer anwendbar. Der Erfolg der Medizin
             hat den gleichen Effekt hervorgerufen, wie die erfolgreiche
             mechanische Produktion. Die nicht erklärbaren Zusammenhänge
             werden als noch nicht mathematisch erfaßt oder zufällig
             verstanden. Demzufolge sind Begriffe wie "Bewußtsein", "Ich",
             "Wachstum" ebenfalls nur begriffen, soweit sie mathematisier-
             bar und nachproduzierbar geworden sind. Der Erfolg eines
             solchen Denkens verdunkelt seine Schwächen. Wachstum ist nicht
             das Abspulen von mathematisch organisierten Prozessen, wenn-
             gleich etwas davon in ihnen auch wirkt, sondern es ist etwas
             nicht im Modell Identifizierbares. Man muß deshalb nicht
             wieder an Geister glauben, es gibt nicht nur rationales und
             irrationales Denken.
             Wachstum ist im Nachhinein analysierbar. In ihm sind
             mathematisch ableitbare Vorgänge zu beobachten, aber es
             erschöpft sich darin nicht. In älteren Büchern zur Anthropo-
             logie wurde der Fehler gemacht, menschliche Errungenschaften
             nach der Datierung ihrer Fundstücke einzuordnen. Das Modell
             menschlicher Frühgeschichte erstand aus dem, was zufällig
             gefunden worden war. Über diese Naivität ist man längst hinaus.
             Aber genau mit solcher Naivität werden wichtige Konstrukte,
             wie das "Ich", "Wachstum", "Leben" definiert. Konsequente
             Positivisten weichen der Analyse solcher Konstrukte aus und
             erklären sie als unbedeutend. Damit verfehlt der Positivismus
             jegliche tiefere Erklärung. Er sagt, was ist, das ist, setzt
             wie im Darwinismus eine Tautologie neben die nächste und
             erklärt die erste mit der letzten und umgekehrt. Ebenso, der
             in Grenzen berechtigte Begriff des Determinismusses.
             Bestimmte physikalische Anordnungen erbringen immer die
             gleichen Ergebnisse. Die Folge ist das naturwissenschaftliche
             Bild der elementaren materiellen Welt. Es ist erfolgreich,
             aber völlig unzureichend höhere Prozesse zu erläutern. Die
             Wahl einer Ja oder Nein Entscheidung widerlegt den Determin-
             ismus auf höheren Ebenen. Auch die Behauptung, es wären
             verborgene kausale Ketten, die diese Entscheidungen hervor-
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             rufen, hilft nicht weiter. Im Nachhinein läßt sich manches
             Modell den Prozessen imputieren, aber es führt zu nichts.
             Der Darwinismus, in engen Grenzen ein erfolgreiches Modell,
             ist in seinen überspannten Anwendungen nur der verklausul-
             ierte Satz:" Das was ist, das ist, weil es stärker ist. Und
             es ist stärker, weil es ist."
             Was ist Denken nun wirklich ?
             Einerseits können in ihm Modelle wiedererkannt werden, die in
             mathematischen Prozessen umschrieben werden, andererseits ist
             es sehr komplex. Es denkt ein "Subjekt", aber es ist selbst
             zusammengesetzt aus "Subjekten", also kleinsten "Willens-
             zentren" und "Wachstumszonen". Aber es nicht einfach ein
             "Parlament von Trieben" wie es Freud sah. Das Bild eines
             Parlamentes von Trieben trifft zuweilen zu, aber es gibt auch
             einen Despotismus eines Triebes, es gibt die Dominanz eines
             fremdbestimmten Zieles, eines Begriffes usw. Das heißt, fast
             jedes Modell findet eine zeitlich oder räumlich eingegrenzte
             Entsprechung irgendwo in einem Menschen. Wo aber alles
             bewiesen werden kann, wird nichts bewiesen.
             Diese skizzierten Probleme erklären, warum in den Fragen der
             Erkenntnistheorie wenig Fortschritte zu verzeichnen sind und
             die Anwendung naturwissenschaftlicher Modelle so überaus
             magere Ergebnisse für die Erkenntnistheorie zeigt.
             Wenn das mathematische logische Denken streng angewandt wird,
             löst sich die materielle Welt auf in ungefähre Zahlenrelat-
             ionen. Es lassen sich Näherungswerte errechnen, die unter
             anderem genaue Flugbahnen für Raumsonden ermöglichen. Aber in
             zentralen Fragen ist dieses Verfahren nicht anwendbar. Das
             jeweils entscheidende Ich folgt gelegentlich den von Außen
             wirkenden Kräften, ist dann berechenbar,  manchmal ist es
             widerspenstig, und selten erzeugt es phantastische Lösungen,
             die völlig unberechenbar sind. Dies besagt nicht, daß unter-
             halb von Determinanten Zufälle lauern oder etwa das Quanten-
             modell generalisierbar wäre, sondern es zeigt, daß die
             Grundkategorien wie Determinismus und Zufall selbst nur
             Modelle sind mit ihrem spezifisch eingegrenzten Wirkungsfeld.
             So wird auch verständlich, daß in einer rational durch-
             organisierten Gesellschaft die Einzelnen die wenigen notwend-
             igen rationalen Schritte unterlassen, die zum Weiterleben
             erforderlich sind: Sicherstellung der Reproduktion.
             Paradoxerweise ist diese Art "Geistesschwäche" eben in jenen
             Ländern am weitesten verbreitet, die sehr hoch rational
             organisiert sind, während in den archaischeren und unlog-
             ischeren Gesellschaften die Reproduktion noch funktioniert.
             Was für Wirklichkeit gehalten wird, ist ein Konglomerat aus
             Vorstellungen, die nach Modellen gebildet wurden, die von
             erfolgreichen einfachen Produktionen abgeleitet wurden. Aber
             Leben ist komplex. Die archaischen Gesellschaften leben un-
             bewußt komplex und nicht von rationalen simplifizierten
             Modellen gelenkt. Aufklärung räumt damit im Wortsinne auf.
             Der Einzelne plant rational sein Leben, sein Vergnügen usw.
             und verlernt dabei überhaupt zu leben. Das steckt hinter dem
             Mechanismus der Degeneration der Hochkulturen, ob nun in
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             Babylon, Rom, Paris oder New York. Die Flucht in Aberglauben
             und "Transzendenz" verschafft gelegentlich Abhilfe, nicht
             weil der gedachte Unsinn richtig ist, sondern Submileaus damit
             abgegrenzt werden in denen wie im Zoo seltene Tiere,
             archaische Mechanismen gehütet werden. Sie sind denn auch für
             die Gesellschaft unbedeutend.
             Isolation eines Dinges und seine Definition sind alte
             Erkenntnisweisen, die bereits im Tierreich angewendet
             werden. Der Einzeller isoliert aus dem umgebenden
             Meerwasser bestimmte Stoffe heraus, die er zur Nahrung
             verwendet. Seine Sensorik definiert diese Stoffe als
             nahrhaft in jenem Sinne, daß er Erinnerungsmechanismen
             anlegt, die das Wiedererkennen der nahrhaften Stoffe
             ermöglichen.
             Am Ende der vollständigen Entwicklung dieser Lebenstechniken
             stehen die Isolationen durch menschliche Begriffe und die
             sprachlichen Definitionen.
             Unter dem Einfluß der Religionen sind die philosophischen
             Bemühungen seit der Spätantike den rationalen Systemen
             entglitten und nie wieder dorthin zurück gelangt.
             Die Aufklärung orientierte sich deshalb konsequent an
             den Naturwissenschaften. Die Philosophie der Neuzeit
             entwickelte im Wesentlichen zwei Fraktionen. Die eine im
             traditionellen  Fahrwasser der Theologie verbleibend, die
             andere im Bereich naturwissenschaftlichen Denkens.
             Erkenntnistheorie wird mehr und mehr zur Aufgabe von
             Soziologie und Psychologie. Die im Einfluß des theo-
             logischen Denkens verbleibende Philosophie sucht nach
             wie vor nach metaphysischen Zusammenhängen ohne etwas
             Fruchtbares hervorzubringen.
             Wenn mit Grund hervorgehoben wird, daß die Einzelwissen-
             schaften in ihrem Positivismus wenig zum Verständnis
             historischer Zusammenhänge und zu Grundfragen der Erkennt-
             nistheorie beitragen können, so sind umgekehrt die
             Ansätze der Metaphysik und Theologie deshalb nicht
             brauchbarer als früher. Es gibt auch hier kein wirkliches
             Zurück, es sei, der Anspruch auf Erkenntnuis wird zugunsten
             eines warmen Wohnzimmers aufgegeben - man versteht mich.
                                                                         
             Die Mängel der positivistischen Methoden müssen durch ihre
             Verfeinerung zu besseren Ergebnissen führen, nicht aber
             abgelegt werden.
             Der Versuch ein großes übergreifendes System der Erkenntnis,
             basierend auf naturwissenschaftlichem Denken zu schaffen,
             scheitert vor allem an der mangelnden Detailauflösung der
             realen Fragestellungen, an mangelndem Material und am
             Fehlen einer "Fehlertheorie" die im Wesentlichen die Begriffe
             der Grenze und des Nichtidentischen am Material entfalten
             müßte.
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             Bemerkenswert ist die Verbreitung des Aberglaubens
             nach dem Zerfall der antiken Kulturen. Einer der Gründe
             ist das Ausweichen rationalen Denkens vor fundamentalen
             Fragestellungen, die im Aberglauben scheinbar beantwortet
             werden. Der unendlich große Wert des Individuums, den das
             Christentum postuliert, selbst wenn ihm jede Individualität
             abgeht, hat wesentlich zu dessen Verbreitung beigetragen.
             Aber auch die Suggestion der Macht der Schwäche und der
             untersten Schichten hat in diesem Sinne gewirkt.
             Das höhere Denken wurde dazu paralell durch Vernichtung
             der Intelligenz, Zerstörung der Bibliotheken und
             Universitäten, Abschaffung der olympischen Spiele und des
             Internationalismusses ausgerottet.
             Bis heute hat die Zivilisation sich davon nicht erholt.
             Mehr als in der Antike vermeidet rationales Denken wegen
             dieser Vorgeschichte die Behandlung elemetarer Frage-
             stellungen.
             Aber die Einsicht in menschliches Leben wird durch Aus-
             klammerung von Fragestellungen zum Stillstand
             gebracht. Immer wieder wird von positiver Wissenschaft
             angeführt, daß von einem Ich oder Bewußtsein, Wille oder
             Werden nichts gesagt werden könne, als was im Kontex der
             Details erklärt wird, bzw. daß sie nur als semantische
             Produkte existieren.
             Naturwissenschftliches Denken klammert systematisch alle
             Ansätze aus, die den Unterschied zwischen Subjekt und
             Objekt erklären könnten. Deshalb ist jede Fragestellung
             mitlerweile darauf reduziert, wie etwas als Objekt
             in Details aufgelöst werden könnte. Daher ist es nicht
             verwunderlich, daß der Unterschied zwischen Denken und
             Wachstum auf der einen Seite und elektronischen Signalen und
             ihre Verarbeitung auf der anderen Seite nicht mehr erfaßt
             wird. Die Rede von den denkenden Computern der Zukunft, oder
             noch übersteigerter vom künstlichen Leben, sind Ausdruck
             eines absoluten Tiefstandes des Denkens.
             Der Begriff der Grenze betrifft in schärfster Wirkung
             die Begriffe des Subjekts und des Objekts. Objekte
             sind immer für das Subjekt. Objekte "an sich" sind
             eine Schimäre. Deshalb ist der neudeutsche Unterschied
             zwischen objektiver und intersubjektiver Objektivität
             ein Scheinunterschied.
             Subjekt aber unterliegt insofern der Grenze, als
             seine zentralen Inhalte nicht im Objekt nachvollziehbar
             sind. Nach wie vor gilt Schopenhauers Satz: das Subjekt
             ist sich selbst unerkennbar. Erweitert: Was am Subjekt
             erkennbar ist, ist objektiviert, also Subjekt als Objekt.
             Dies ist mehr als Sprachspiel. Deutlich wird die Relevanz
             dieses Unterschiedes bei der Frage nach den Strebungen
             des Lebens. Sämtliche, bisher erkannten Lebens-
             mechanismen sind, wo sie mehr als nachvollzogene Taulogien
             sein können, so allgemein und unverbindlich, daß sie
             beständig von Einzelfällen widerlegt werden.
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             Krasses Beispiel: die Hochzivilisationen als zunächst
             Inbegriff gelungener Lebenstechniken und Abwehr-
             lnstallationen wider Hunger, Naturwidrigkeiten usw.
             Ausgerechnet diese Systeme erzeugen einen allgemeinen
             Niedergang der in ihnen lebenden Menschen.
             Psychologie, Soziologie und neuerdings medizinische Biologie
             bemühen sich, diesen Niedergang in Einklang mit
             darwinistischen Evolutionsmodellen zu erklären.
             Die Unfruchtbarkeit wird aus Wohlstand oder Chemieeinflüssen,
             ein andermal aus Kriegsfolgen und Verweichlichung in
             Friedenszeiten, aus Religionsfanatismus oder anderen
             Prozessen erklärt. Im Hinblick auf die Struktur älterer
             Hochkulturen ein hoffnungsloses Unterfangen. Es scheint
             überflüssig zu sein, darauf hinzuweisen, daß die Römer
             keine Automobile kannten und die Ägypter keine Bleivergiftung
             erleiden konnten, wie sie, einer bestimmten Auffassung nach,
             den römischen Untergang einst begründet haben sollte.
             Die Wandlungen der Subjekte wird hingegen nicht adäquat in
             die Untersuchungen einbezogen. Hierunter ist nicht die
             Untersuchung des Einzelnen als Objekt wissenschaftlicher
             Analysen zu verstehen.
             Keineswegs aber ist das Subjekt etwas Geheimnnisvolles,
             Metaphysisches oder der materiellen Welt irgendwie
             Entragendes. Alle Versuche etwas Derartiges zu postulieren
             waren haltlos.
             Der Erfolg mechanischer Produktion, ihre Analyse,
             Mathematisierung und Erfolge verstellen den Blick
             darauf, daß die Anwendung der praktischen Kenntnisse
             der technischen Produktion sich in Gestalt von Modellen
             realisiert. Die Produkte der Produktion sind weitgehend
             identisch mit ihren theoretischen Konzeptionen. Dies gilt für
             die klassische Mechanik, die Chemie, die Physik, Teile der
             Biologie, Soziologie und Psychologie. Aber die wesentlichen
             Prozesse des Lebens bleiben mangelhaft verstanden.
             Das zentrale Steuerungszentrum im Individuum, das Ich
             und sein Bewußtsein funktionieren nur in Teilbereichen
             derart übersichtlich, daß die naturwissenschaftlichen
             Methoden Verständnis erbringen würden.
             Konsequente Positivisten ziehen sich aus der Schwierigkeit
             zurück, indem sie die Oberbegriffe des Lebens als irrelevant
             erklären.
             Das Individuum funktioniert wie jedes Lebewesen nach
             Mechanismen, die von sogenannten Zufällen mitbestimmt werden.
             Es sind aber keine Zufälle und auch keine verborgenen
             einfachen chemischen und pysikalischen Prozesse, sondern
             Resultanten von Steuerungszentren, die wie im Frühjahr
             die Bäume für einen einzelnen Schritt das Verfahren
             massenhafter Streuung von Hormonen, Spermien, elektrischen
             Signalen, Gedächtnismolekülen usw. anwenden.
             Jeder Versuch, einzelne Ursachenlinien herauszufiltern
             muß enorme Fehler beinhalten.
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             Dazu im Vergleich die Prozesse in Computer: Die Signale
             sind digitalisiert und mathematisiert. Das Ja Signal bleibt
             ein Ja Signal, das Nein Signal bleibt ein Nein Signal.
             Stelle man sich vor, im Progragrammablauf würden nach nicht
             vorher programmierten Schritten plötzlich Ja Signale in
             Nein Signale umgewandelt. Dies könnte nach dem Mechanismus
             geschehen, wie Zufallsgeneratoren arbeiten. Es ist ganz
             klar, daß daraus letztlich nur unsinnige Resultate efolgen
             würden. Aber es wäre auch denkbar, daß die Umwandlung
             durch Steuerungszentren bestimmt würde. Wenn diese nicht
             autonom wären und nach dem Muster von Programmen arbeiten
             würden, gäbe es nur eine Vielfalt verschiedener Antworten,
             jede aber letztlich mit einem berechneten Ergebnis. Das
             heißt der Vorgang im Computer würde verkompliziert aber nicht
             verändert. Wie könnte nun ein autonomes Steuerungszentrum
             beschaffen sein ? Es müßte einen wollenden Kern haben mit einem
             Kanon von Aufgaben, Zielrichtungen und Rückkopplungen. In
             diesem Kern müßten Variablen wirken können, die zwischen
             Input Signalen wählen könnten und die Sensorik bestimmten.
             Das Ergebnis dieser Operationen müßte dann zu einer
             Produktion führen, die derart beschaffen ist, daß sie nicht
             etwa einen Kreis schließt,- denn  wäre es so, würde immer
             wieder dasselbe geschehen, in Form einer gigantischen
             Wiederholungsschleife. Es mußte also eine offene Spirale
             sein.
             Man sieht bereits aus diesen Ansätzen, daß es völlig
             unmöglich ist den Lebensprozeß substanziell zu simulieren in
             seinen wesentlichen Vorgängen. Nur oberflächlich betrachtet ist
             dies eine Frage der feineren Instrumente. Ich wage die
             Behauptung, daß selbst Instrumente, die einzelne Atome verbauen
             könnten, nicht zum Erfolg führen würden.
             
             Erkenntnistheoretische Begriffe
             Hier verwende ich meine entsprechenden Vorarbeiten der
             zurückliegenden Jahre.
             Alle Gegenstände der Anschauung sind begrenzt, so auch die von
             ihnen gemachten Begriffe. Das heißt, ihre Existenz ist nur
             vermöge der Nichtexistenz außerhalb ihrer Begrenzungen. Ein
             physikalisches Bild: Ein Eisenwürfel ist u.a. räumlich begrenzt,
             hätte er nicht eine räumliche Begrenzung, so wäre alles aus
             Eisen, ein Universum aus Eisen, in dem für kein Subjekt noch
             Raum bliehe. Die Begrenzung gilt für alle Ebenen. Ein zeitlich
             unbegrenzter, mithin ewig dauernder Eisenwürfel würde absolute
             Ruhelage bedeuten. In diese wäre kein Eingriff von innen oder
             außen möglich, auch nicht der der Schwerkraft. Weil jedoch alle
             Materie über Kraftfelder miteinander in Beziehung steht, wäre
             ein ewiger Eisenwürfel nur in einem ebenso ewig ruhenden
             Universum möglich. Der Begriff lebt wie der Eisenwürfel von
             seinen Abgrenzungen. Gesetzt ein Begriff wäre nicht abgegrenzt,
             so würde er alles bedeuten können und auch nichts bedeuten. In
             anderen Worten: das Moment des Nichtidentischen ermöglicht erst
             das Identische. Zwischen den beiden Begriffen: Identisches und
             Nichtidentisches siedle ich den Begriff der Grenze an. Die
             Grenze ist das Moment der Verhärtung in bewegten Systemen und
                                                                238/8
             die Kluft zwischen These und Antithese in der Konstruktion des
             dialektischen Widerspruchs. Die Grenze darf nicht verdinglicht
             werden, denn sie ist nicht absolut gegeben; ihre Gültigkeit ist
             allein die Vermittlung von Bewegtem in einer relativen
             Unbewegtheit. Relative Unbewegtheit läßt sich im Gegensatz zur
             Starre selbst wieder als Bewegung nachweisen.       
             Die Begriffe Iassen sich "ausdehnen". Zum Beispiel die Angst
             kann spezifisch als Schmerzangst gegeben sein oder spezifisch
             als Angst vor Hunger usw. Die erste Erweiterung der
             spezifischen Ängste zu der Angst ganz allgemein ermöglicht
             eine neue spezifische Bestimmung, wie z.B Angst als ein
             nervöser Unruhezustand. Dies ist aber zugleich ein Verlust an
             Bestimmtem, weil nicht mehr deutlich ist, ob es Schmerzangst
             oder eine andere Form der Angst ist. Der nervöse Unruhezustand
             der Angst kann wiederum verallgemeinert werden, indem ich
             sage, daß alle Lebewesen diesen Zustand gelegentlich
             durchmachen, sodaß Angst als Lebenserscheinung des Lebenden
             schlechthin aufgefasst werden kann. Angst als allgemeine
             Lebenserscheinung ist gegenüber der Angst als Unruhe ein
             weiterer Verlust an Bestimmtheit. Auch diese letzte Erweiterung
             kann neuerlich verallgemeinert werden. Am Ende der möglichen
             Erweiterungen wäre die Bestimmtheit fast gänzlich ins Unbe-
             stimmbare übergegangen. Der Begriff: "Alles was ist", erlaubt
             die Verallgemeinerung bis zum Umschlag ins Unbestimmte.
             Während der Satz: " Alle Meere sind aus Wasser", noch
             Bestimmbares übrig läßt, ist der Satz:" Alle festen Stoffe
             sind Materie", weit unbestimmbarer. Der Satz aber:" Alles
             Seiende ist Sein", bestimmt nur noch, daß zwei Begriffe
             gleichermaßen absolut gesetzt sind. 2wei Absolute sind jedoch
             nicht mehr trennbar, so daß hier das Bestimmte zugleich ein
             Nichtbestimmtes ist. Der Begriff "Alles" negiert die
             Bestimmtheit der unter ihm erfassten Teile; steht er ohne
             eingrenzende Bestimmungen, so benennt er ein Un- bestimmbares.
             Der Begriff als das "Bestimmende" und "Begriffene"
             neutralisiert sich am Ende der Verallgemeinerungen selbst.
             Ich nenne diese Neutralisierung des Begriffes durch seine
             Verallgemeinerung die erste Grenzfunktion.
             
             Die Verallgemeinerung ist der Versuch einer Grenzüber-
             schreitung ins Makrologische; denkbar ist sie ebenso ins
             Mikrologische. Während jedoch in der ersten Grenzfunktion die
             Neutralisation von Identischem und Nichtidentischem durch
             Überdehnung des identfizierbaren Bereichs zustande kommt, wird
             die Grenze im mikrologischen Bereich durch Abtrennung des
             Nichtidentischen vom Identifizierten verursacht.
             Ich illustriere: Der Raum ist als dreidimensionale abstrakte
             Konstruktion an verschiedenen Eigenschaften mit dem wirklichen
             Raum identifizierbar. Die Fläche als zweidimensionale
             Konstruktion bereitet der Identifizierung jedoch Schwierig-
             keiten: Die meisten Flächen können empirisch nur als Schichten
             identifiziert werden, also in drei Dimensionen wie der Raum.
             Die Linie läßt sich noch schwerer mit Vorhandenem identi-
                                                               238/9
             fizieren, weil nur noch eine Eigenschaft der Linie mit der
             empirischen Welt gemeinsam ist. Der Punkt erlaubt aber keine
             direkte Identifizierung mehr, obwohl er für die mathematischen
             Analysen unerlässlich ist. Der Punkt ist als Begriff völlig
             von der empirischen Welt abgetrennt. Nur weil der Punkt
             innerhalb der mathematischen Gebäude durch Anwendungen mit
             empirischer Nähe vermittelt  wird, wie z. B. als Anfangs- und
             Endpunkt einer Bewegung, wird er nicht zur leeren Hülse
             neutralisiert. Der Abbruch der Vermittlung, also die völlige
             Trennung von Begriff und "Sache", ist der Endpunkt der immer
             genauer, immer weniger mit Nichtidentischem vermengten
             Identifikation. Sie führt bei gleichzeitig steigender Exakt-
             heit ebenso zur Neutralisation wie die erste Grenzfunktion.
             Ich nenne die Neutralisation durch völlige Trennung die
             zweite Grenzfunktion.
             Die Konfrontation mit einer vermuteten tödlichen Erkrankung
             brachte mich dazu, mir den Tod vorstellen zu wollen. Ganz
             gleich, was ich mir vorstellte, so sah ich doch immer wieder
             den Raum in dem ich gerade war und mich selbst, bei dem
             Versuch den Raum als nicht vorhanden mir vorzustellen.
             Es vermittelte mir das Gefühl, als ob ich gegen eine Gummi-
             wand spränge, die mich wieder in den Raum zurück wirft.
             Beim  Versuch der Überschreitung jeder aüßeren und inneren
             Vorstellungs falle ich wieder zurück in den Zustand, in
             welchen ich vorher gewesen war. Eine Grenzüberschreitung
             aller Wahrnehmungen meiner äußeren und inneren Situation
             gelingt nicht. Das Subjekt vermag nicht sich zu überschreiten.
             Ich nenne diese Funktion der Grenzerfahrungen: die dritte
             Grenzfunktion.
    
             Eine ähnliche Grenzfunktion, die ich als die vierte be-
             zeichnen möchte, ist das ständige Auftreten von Gegensätzen
             und antipodischen Paaren. Wir finden bei jeder Analyse
             uns vor die Notwendigkeit gestellt in Paaren zu operieren.
             Die elementarste Paarbildung ist die zwischen dem Objekt
             in seinen Abgrenzungen und sein Umfeld, von dem es ab-
             gegrenzt ist.
             Aber kein Objekt bleibt in seiner Lage, es ist sowohl
             im Raum als auch in seinen Bausteinen in Bewegung. Jeder
             Versuch bündige Definitionen zu finden, ist einge-
             grenzt durch die ständigen "Verflüssigungen", die mehr
             oder minder die Definition tangieren.
             Sämtliche physikalischen Modelle haben Bewegung und Nicht-.
             bewegung, genauer: relative Bewegungen zueinander zum Grunde
             liegend. Der Herakleitische Satz: "Man steigt nicht zweimal
             in den gleichen Fluß" trifft völlig diese Grenzfunktion,
             die ich als fünfte bezeichnen möchte.
             
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             Erkenntnistheorie vermag vor allem daran zu scheitern, daß
             man verbindliche Antworten auf wichtige Lebensfragen mit
             den Mitteln von Logik und Mathematik geben will. Ihr A=A
             gilt nicht in komplexen lebendigen Systemen. Es gibt nichts
             "vorzufinden", was mit sich identisch ist und bleibt.
             Alle diesbezüglichen Begriffe sind nur nur als stets sich
             wandelnde verwendbar. Sie verbleiben nicht im Rahmen der
             Identitätslogik. Erkenntnnis ist ein Produktionsprozeß, der
             optimale Wahrheit anstrebt und dennoch Produkt ist. Diese
             Widersprüchlichkeit ist unausweichlich. Sie ist die gleiche,
             die sich in der Existenz eines "Ich" zeigt und in einer
             "objektiven Wirklichkeit". Beide sind nicht in einem System
             plazierbar.
    
             Der Positivismus der amerikanisierten Naturwissenschaften, der
             Mathematiker und der, an ihnen sich anlehnenen Philosophie
             hat, wenn er auf sachfremdes Terrain sich vorwagt, etwas
             Ermüdendes. Umständlich werden in den Chaostheorien
             "Gesetzmäßigkeiten" gefunden, die aus den Zufällen sich
             mathematisch-statistisch ergeben. Man wundert sich über die
             "Fraktale" im "Chaos" und ihre Mathematisierbarkeit, anstatt
             sich über die Projektionen verinnerlichter Denkmodelle in
             ihnen zu wundern. Man begreift nicht die Produktionen des
             Denkens und ihre Grenzfunktionen und sieht außen etwas, das
             innen geschieht.
             Aber nocheinmal: Es gibt keine Eins, kein A=A, keine Notwendig-
             keit, keine Gesetze der Natur usw. und ebenso nicht: Zufall, 
             Chaos usw. Alles ist Produktion eines nicht völlig definier-
             baren Ich-Zentrums inmitten von nichtidentischem  "Material", 
             Produktion eines "Dritten", produziert durch ein Subjekt 
             mittels seiner Objekte.
             Das Bestimmbare oszilliert vom Identischen zum Nicht-
             identischen. Unbestimmtheit entsteht aus dieser Oszillation.
             Sie muß gegeben sein, erstens aus der Erfahrung von Objekten,
             welche Momente der Bestimmbarkeit haben, zweitens daraus, daß
             ein Verharren im einfachen Nichtidentischen ein einfaches
             Nichts hervorbrächte. Dieses wäre aher negative Bestimmtheit.
             Hohe Wahrscheinlichkeit nähert sich der Wahrheit an. Während
             aber Ableitungen aus wahren Sätzen selber wahr bleihen, so
             führen Ableitungen aus hohen Wahrscheinlichkeiten nur zu weniger
             wahrscheinlichen Sätzen. Hierbei ist vorausgesetzt, daß die
             Ableitungen aus wahren Sätzen wahre Ableitungen sind, die
             Ableitungen aus Sätzen hoher Wahrscheinlichkeit aber selber
             hoch wahrscheinlich sind.
             Je mehr Ableitungen aus hoch wahrscheinlichen Sätzen folgen,
             umso unwahrscheinlicher werden sie, d.h. das Nichtidentische
             wächst an.
      
             Unter dem Gesichtspunkt betrachtet, daß alles in Bewegung und
             Veränderung sich befindet, wird verständlich, warum kein Objekt
             unsere Anschauung mit sich identisch bleibt. Wir nehmen ein
             Wort, mit dem wir ein Detail des Lebens oder der Dingwelt
             definieren, - aber es entrinnt dem Wort die Sache. Die
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             Identität ist selbst nur ein Moment im Flusse. Wir bedürfen
             dieser Identitätsmomente.
    
             Denken operiert mit Elementen, die als identifizierbar gesetzt
             werden. Die Grundformel dafür ist: A gleich A. Die Trag-
             fähigkeit dieser Identität ist für die einzelnen Elemente von 
             unterschiedlicher Lebensdauer. Die Präzision der Identität
             schwankt ebenfalls von Element zu Element. Je präziser ein
             Element gefaît wird, umso kürzer ist in der Regel seine Lebens-
             dauer und umso mehr nähert es sich einem Ausdruck an, der in
             der Formel A ungleich A beschrieben wird. Ich nehme zwei
             beliebige Zeitdefinitionen zur Illustration: Das Datum
             1.1.1992, 0 Uhr ist definiert durch eine bestimmte
             Konstellation des Sonnensystems in unserer Galaxis und der
             Erde im Sonnensystem und der Stellung des irdischen 0 Meridians
             im Sonnensystem. Es wäre ein grobes A-A. Es enthält aber auch
             schon nichtidentische Elemente. Die Präzision mit der diese
             Konstellation festgestellt werden kann, ist davon abhängig
             wie weit der Rahmen der Definitionen in den Kosmos hinein
             auasgedehnt wird. Wenn z.B. ein Zeitpunkt von einer
             Milliardstel Sekunde definiert werden soll, ausgedrückt in
             einer bestimmten Konstellation des Sonnensystems in unserer
             Galaxis, so ist dies nicht möglich. Der bestimmte Augenblick
             ist bereits im Moment des Bewußtswerdens vergangen. Die
             Positionen der kosmischen Objekte sind durch die Lichtlauf-
             zeiten nur ungefähr zeitlich bestimmbar.
             Die Bewegungen aller beteiligten Dinge sind es selbst,
             die ein punktgenaues A-A ausschließen. Das A ist ungleich A
             bereits im Moment seines Auftretens und erst recht im Moment
             des Gedachtwerdens. A ist ungleich A, aber A ist nicht voll-
             ständig nur ungleich A sondern es enthält auch identische
             Momente, die im Verlauf der folgenden Produktionen sich
             entfalten. 
             Hier ist einzufügen, was schon häufig entwickelt wurde: Jeder
             Prozeß wird aufgefaßt als Produktion. Es ist grundsätzlich
             jeder Nervenreiz, jede Erfahrung, jede Verarbeitung, jeder
             Gedanke, jede Lebensäußerung, jedes Geschehen Produktion.
             Allerdings ist nicht jede Produktion gleichermaßen erfahrbar
             und definierbar.
             A produziert A 1. Dieses A 1 ist das was aus dem A geworden
             ist. Es enthält identische Momente, daher A, es enthält nicht-
             identische Momente, daher A 1. Der Ausgangspunkt allerdings,
             jenes A, muß selbst schon als A ungleich A verstanden werden.
             A ist eigentlich bereits ein A 1. Es gibt streng genommen kein
             erfahrbares A. Es ist ein A 1 welches identische und nicht-
             identische Momente enthält. Es ist ein A 1 welches zum
             A 2 wird. Dem A 2 widerfährt das gleiche wie dem A 1.
             Der allgegenwärtige Verwandlungsprozeß, anders: die Zeit,
             zeigt sich in einer ständigen Entfaltung aller Elemente von
             einem A 1 zu A 2, zu A 3, A 4, A 5, usw. Aber auch dieses
             Modell verliert bald seine Relevanz. Das A 20 zum Beispiel
             könnte bereits derart entleert von identischen Momenten sein,
             daß es zu einem anderen Element sich gewandelt hat.
             Aus A wird B. A ist aber auch dann nicht zu definieren als
             A = B sondern A ist ungleich B mit identischen Momenten in
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             seinem Entfaltungsprozeß. Setze ich dafür den Begriff
             Wachstum, so finde ich zugleich eine Formel für den
             Lebensprozeß: A 1 produziert A 2, A 3, A 4, usw.
             bis B und B 1. Dann geht es weiter, von B zu C usw. Die
             zutreffende Analyse eines beliebigen Wachstums zeigt sich 
             daher gedoppelt als Begreifen und Entgleiten der Elemente.
             Denken ist ein Produktionsprozeß, der scheinbar in Gestalt
             von Modellen und anderen Bewußtseinselementen eine gültige
             äußere Welt widerspiegelt. Man sieht, woher die Widerspiegel-
             ungstheorien kommen. Sie entstehen aus einer unvollständigen
             Beobachtung des A gleich A. Menschliche Produktion kann
             aufgefaßt werden als eine zweite Produktion gegenüber einer
             ersten Produktion durch die Natur. Dies gilt nur als
             Erkenntnismodell, ist aber nicht "wirklich".
             Die Gültigkeit dieses Modells zeigt sich darin, daß sich
             erfolgreiches Denken als erfolgreiche Produktion positiv mit
             der natürlichen Produktion verflechtet. Menschliche Geschichte
             zeigt allerdings, daß diese Vorstellung sehr harmonistisch
             ist.
    
             Die Nichtidentität begründet sich nicht nur aus dem Zeitfluß
             sondern grundlegender noch aus der Notwendigkeit, im Denken
             so etwas wie eine zweite Welt hervorzubringen. Das optische
             Bild, welches dem Gehirn zur Verarbeitung vom Auge geboten
             wird, ist eine einfache visuelle sogenannte Verdopplung des
             optisch real Vorhandenen. Die Ordnungskategorien mittels
             derer eine optisch gebotene Figur überhaupt als Figur
             aufgefaßt werden kann, sind Repräsentanten eines Geflechtes
             geistiger Arbeit der ganzen Menschheit. Die Einfachheit, mit
             der ein Bild verstanden wird, ist ein Trugschluß, der aus
             generationenlangem Training des Hirns resultiert.
             Nun ist die "reale" Welt, welche zur Grundlage der
             "zweiten Welt" im Kopf genommen wird, nicht wörtlich
             zu nehmen. Es ist ein notwendiges Modell, welches uns zwingend
             auferlegt ist. Die "reale Welt" ist uns gar nicht anders denn
             als "zweite Welt" erfahrbar. Die "reale Welt" bleibt uns so
             fremd, daß schon der Begriff "reale Welt" unzutreffend ist.
             Wir haben immer einen Produktionsprozeß, der unter bestimmten
             Kriterien als Ausdruck einer wahren Sicht der "Wirklichkeit"
             definiert werden kann. Wenn ich an einen Baum denke, so ist
             offensichtlich, daß das Wort Baum und alles was davon
             sichtbar, fühlbar, erfahrbar, gewußt ist, sich sehr unter-
             scheidet von dem, was der Baum "für sich" ist. Das "für sich"
             ist nicht erfahrbar, selbst wieder eine notwendige Hypothese,
             mehr nicht.
             Die Gültigkeit der Erfahrung einer Wirklichkeit kommt zustande
             mittels eines komplexen Systems von Techniken, die praktisch
             und gedanklich zu wiederholbaren Momenten führen, in welchen
             z.B. sich  eine Eigenschaft: "Holz ist fest"," Holz ist
             brennbar", für uns sinnvoll verstehen und verwerten läßt.
             Eine dieser Techniken ist die ständige Anpassung der Elemente
             des Bewußtseins an das sinnlich und logisch abgeleitete
             Erfahrbare. Aus A wurde A 1, aus A 1 wird ...  B. Dieses
             B wird wiederum als A gleich A gesetzt. Es wird ein Netz von
             wiederholbaren Momenten und Ereignissen entwickelt, welches
             wir als "Wirklichkeit" erfahren.
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             Da es keine Möglichkeit gibt, wie Nietzsche bemerkte, etwas
             anderes einzufangen, als unser Netz fangen kann, gibt es auch
             keine dieser Wirklichkeit grundsätzlich widersprechenden
             Erfahrungen. Im Einzelfalle wird ein Irrtum erkannt, aber
             im Ganzen sind die Ergebnisse unzähliger wiederholbarer
             "richtiger" Erfahrungen vorrangig. Ein Rechenfehler widerlegt
             nicht sondern bestätigt mathematische Theorie. Man kann daher
             in der dauernden Erprobung des Erfahrbaren die Effektivität,
             Gewalt und Nützlichkeit unserer "Wirklichkeit" steigern.
             
             Adornos "Negative Dialektik" ist der vorläufige Endpunkt
             produktiver Erkenntnistheorie, die bereits publiziert
             ist. In wie weit nicht veröffentlichte Weiterentwicklungen
             existieren, entzieht sich meiner Kenntnis.
             Adorno hat mit der Dialektik Ernst gemacht, die bei Hegel
             formal bereits voll entwickelt, aber völlig im
             Traditionellen verhaftet ist und in zentralen Kategorien
             den Konsequenzen ausweicht.
             Die Antithese zur These des dialektischen Verfahrens
             setzt sämtliche Kategorien außer Kraft und hebt sie
             in der Synthese auf. Adorno hat dies auf das Erkenntnis-
             instrumentarium als Ganzes angewandt. Sprache und
             Begriffe definieren und scheiden nach seiner Einsicht
             das ihnen Inkommensurable aus. Bei fortschreitender
             Entwicklung des Erkenntnissystems wird das Inkommensurable
             und daher "Nichtidentische" zum Bodenlosen, welches
             den Begriffen den Boden entzieht und sie zum Prozeß
             auflöst. Dieser aber ist nicht der "Gang des Weltgeistes"
             eines Hegels, sondern negativ. Nicht nur als Prozeß
             bleibt er inkommensurabel der Erkenntnis sondern ist
             mit seinen administrativ und ökonomisch alles sich
             einverleibenden Strukturen wirklich negativ:
             akkumulierte historische Gewalt.
             Theorie der Perspektiven
             Nietzsche hat bereits das Perspektivische der Erkenntnis
             betont.
             Dies legt den Gedanken nahe, es gäbe nur eine Perspektive,
             die zwangsläufig der Mensch einnimmt, andere sind ihm
             demnach verschlossen oder vielleicht auch gar nicht
             existent.
             Der Siegeszug der Naturwissenschaften hat seit Nietzsche
             weitere Fortschritte gemacht und ein Weltbild hervor-
             gebracht, welches nicht als die Perspektive sondern als
             Realität und Objektivität schlechthin, konkurrenzlos
             da steht. Das gleichzeitige Wiedererstarken abergläubiger
             Vorstellungen in Zirkeln, Religionen und Sekten hat den
             Gedanken an weitere Perspektiven der Erkenntnis
             diskreditiert.
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             Mindestens eine weitere Perspektive ist individuell nachvoll-
             ziehbar: Die Erfahrung der Zeit ist immer ein Vergleichs-
             prozess in welchem verschiedene Bilder, Erlebnisse und
             Erinnerungen miteinander in Bezug gesetzt werden. Vorrangig
             für die unmittelbare Wahrnehmung ist aber nicht die Zeit
             sondern die dimensionslose Gegenwart, der jetzt erlebte
             Augenblick. Betrachtet man ihn genauer, so zeigt er sich als
             dauerhaft, da er von einem unmerklich in den nächsten über-
             geht. Das Zeitlose des Jetzt ist unmittelbar erfahrbar, nicht
             aber die Zeit einer beliebigen Zeitstrecke. Sobald der
             Augenblick objektiviert wird, zeigt er sich als Struktur von
             sich aneinander reihenden Ereignissen, die sich in
             automatischen Vergleichsprozessen als Zeitstrecke darstellen.
             Die Perspektive, aus der heraus der Augenblick erfahren
             wird ohne Zeitstrecke zu sein, ist die subjektive Perspektive.                                                        
             Zu ihr gehört auch die Empfindung von mir selbst, daß das
             "Ich" kein Anderer und auch kein anderes Lebewesen ebenso
             sein kann. Als "Ich" existiert der Andere nicht.
             Ich kann wohl annehmen, daß der Andere mir so sehr ähnlich
             ist, daß er für sich selbst auch ein Ich ist.
             Er wird auch mitteilen, er wäre Ich. Aber dies ist nur
             abstrakt objektiv gültig. Ich kann nicht durch die Augen
             des Anderen hindurch dessen Welt sehen. Ich kann nicht in
             seinem Hirn denken usw. Das was ich für mich bin, kann
             der Andere nicht sein. So gesehen gibt es streng genommen nur
             ein Ich, nämlich mich. Dies ist die subjektive Perspektive
             der Welt.
             Vorläufer der subjektiven Perspektive sind vermutlich
             in der Frühgeschichte der Menschheit zu finden. Der Mensch
             in der Vorzeit erlebt, wie möglicherweise das Tier, sich als
             Mittelpunkt der Welt. Er ist sich selbst das Absolute. Mit der
             Bildung von Gesellschaften und Staaten erfährt er seine
             Einschränkung durch Andere, Das komplexer werdende soziale
             Verhalten zwingt ihn, im  Anderen oft auch den Überlegenen
             anzuerkennen. Diese  Anerkennung, etwa des Häuptlings durch
             seine Stammesbrüder, kollidiert mit dem archaischen Gefühl,
             selbst Zentrum und Mittelpunkt u sein.
             Es entsteht ein Nebeneinander: Hier das "Ich" als Mittel-
             punkt der Welt, als einziges erfahrbares Zentrum, dort
             der Stärkere, der "meine" Handlungen bestimmen kann.
             Aber der "Andere" ist nicht mein Mittelpunkt, will aber
             mehr als "Ich" sein. Dies könnte zur Rebellion führen.
             Vermutlich liegt hier der Ursprung von Projektionen in
             eine Welt von Vorstellungen. Das Bedürfnis einen Stärkeren
             in einer eingebildeten Welt zu finden, könnte aus diesem
             Nebeneinander zweier Machtzentren resultieren:
             Das "Ich" und der stärkere "Andere". Die Gottheit als das
             absolut Starke versöhnt den Widerspriuch. Beide "Mittel-
             punkte" können in einer Projektion zusammenfallen und sich
             dieser unterordnen. Denkbar ist aber auch, daß de Störkere
             die Projektion zu Hilfe nimmt um die Unterordnung der
             Stammesbrüder zu erzwingen und ihnen zu erleichtern.
             An dieser Stelle des historischen Prozesses, der nicht
             auf Jahreszahlen eingegrenzt werden kann, tritt die Welt
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             des Wachbewußtseins mit der "objektiven Perspektive" in
             den Vordergrund des Lebens. Am  vorläufigen Ende dieses
             Prozesses steht das Absterben der Religionen, das Schwinden
             des Restes von Mittelpunktsgefühlen und die Einvernahme
             der Welt des Geistes durch das soziale -, wirtschaftliche
             Geflecht der modernen Gesellschaft. Philosophie hat diesen
             geschichtlichen Prozeß fragmentarisch aufgezeichnet und
             aufgeklärt. Der Verlust des Mittelpunktgefühls und der
             dazu gehörenden "subjektiven Perspektive" ist gleichbedeutend
             mit der Aufhebung des Subjekts.
             Mit dem Aufkommen des modernen Bewußtseins, der
             "objektiven Perspektive", tritt auch die Zeitempfindung in
             den Vordergrund. Man lebt in Zeitstrecken, wartet auf das
             was kommt und bedenkt, was gerade geschah. Der Augenblick
             mit seiner scheinbaren Unendlichkeit findet sich projektiv
             wieder im "ewigen Leben" und anderen abergläubigen Vor-
             stellungen. Die zeitlose Gottheit ist die Projektion des Ichs
             im Augenblick, welches nicht mehr im Bewußtsein präsent ist.
             Die vorgeschichtliche, archaische Wirklichkeit verwandelt
             sich durch den Einfluß der Signale und der Sprache zu einer
             Welt des Bewußtseins.
             In der Empfindung ein Ich zu sein, wird erstmals das bloße
             Aufgehen in die Umwelt unterbrochen, eine subjektive Welt
             tritt der objektiven gegenüber. Hier beginnt, was in der
             späteren Philosophie Subjekt und Objekt genannt wird, im
             Bewußtsein zu entstehen.
             Die mit der Vorherrschaft von Zeitstrecken im Bewußtsein
             verbundene Furcht vor dem Ende des Lebens erzeugt die
             Todesvorstellungen, gegen die Epikur seine Lehre
             entwickelt hat. Die Todesangst ist übertragene Schmerzangst,
             da das Todsein nicht an sich selbst erfahrbar ist, Schmerzen
             sehr wohl. Epikur sagt: wo der Tod sei, wäre der Tote nicht
             mehr im Leben, und könne den Tod also nicht erfahren, wo aber
             der Tod noch nicht sei, würde man noch leben.
             Dennoch ist das Wissen um den Tod kein Nebenprodukt der
             Entstehung des objektiven Bewußtsein sondern offensichtlich
             durch evolutionäre Prozesse begünstigt worden und nützlich.
             Sie ist eine Art Sperrriegel gegen Leichtfertigkeit und
             Gleichgültigkeit gegenüber dem Körper, der im objektivierten
             Bewußtsein zum bloßen Objekt wird und daher extrem
             gefährdet ist. Man denke an den lebensgefährlichen Genuß
             von Nikotin und anderen Drogen, Waghalsigkeit usw.
             Todesvorstellungen gehen davon aus, daß man als Toter
             noch alles beobachten, aber nichts mehr dagegen tun kann.
             Es ist die Vorstellung einer grenzenlosen Ohnmacht, die daher
             rührt, daß wir den toten Anderen sehen, wie er nichts mehr
             tun kann.
             Nirgendwo ist die Anwendung der falschen Perspektive
             deutlicher als hier: Denn diese Gleichsetzung und
             Identifizierung des Ichs mit einem Toten bedeutet, daß ein
             Objekt aus objektiver Perspektive so gesehen wird,
             als sei es eine subjektive Perspektive. Der Fehler ist
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             offensichtlich, denn das Ich existiert nie als totes Objekt
             für sich. Es kann also auch nicht die Rolle eines wehrlosen
             Toten einnehmen. In der Todesfurcht setzt man das Subjekt
             als Objekt. Da man sich selbst verobjektivieren kann
             und sich in einer Art Selbstbespiegelung erfährt, wird
             der Schritt in die objektive Perspektive nicht bemerkt.
             Das Ich ist aber eine Selbsterfahrung innerhalb der
             subjektiven Perspektive, Verobjektivierungen ändern
             daran nichts. Objekte verbleiben nach ihrem Zerfall
             als zerfallene Objekte beobachtbar für das Ich.
             Das Ich ist hingegen nicht in der Lage sich als Objekt
             nach seinem Zerfall zu betrachten.
             Der Andere ist insofern grundsätzlich anders, als wir ihn
             immer als Objekt, uns selbst immer als Subjekt erfahren.
             Die Konsequenz aus den beiden Perspektiven ist, daß die
             objektive Welt in die subjektive Perspektive hinein-
             gezogen werden kann, sowie umgekehrt das Subjekt in die
             Welt der objektiven Perspektive gestellt wird.
             Dieser "Augenblick", der sich im "Ich" realisiert wird zum
             "Urknall" der Entstehung des subjektiven Kosmos,
             der die Objektivität im "Nachhinein" entwickelt.
             Dieses Verfahren ist erkenntnistheoretisch nicht statt-
             haft, es ist reine Antithese, die sämtliche Kategorien
             erfaßt. Es stehen daher der äußerste Stand objektiver
             Theorien und die "subjektive Perspektive" der
             "Welt als Augenblick und Idee" scheinbar unverbunden
             nebeneinander. Ihre Synthese im lebenden "Ich" vermittelt
             die Perspektiven und läßt sie dennoch wie in einem
             erkenntnistheoretisch nicht "erlaubten" Gebilde neben-
             einander stehen, obschon sie dazu neigen sich gegenseitig
             zu neutralisieren. Dies ist das objektive Bild, das Bild
             der "subjektiven Perspektive" zeigt den Kampf des
             Einzelbewußtseins gegen das Allgemeine. Und obwohl
             in Jedem auch das Andere enthalten ist, verbindet es sich
             nicht nach Art von Legierungen sondern bleibt in
             tätiger Auseinandersetzung um Vormacht und Freiheit.
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