Fred Keil Notizen zur Erkenntnistheorie Nr.238 AC Juni 2001
Grundsätzliche Erwägungen
Die Frage, wie Erkenntnis möglich sei und wie sie beschaffen ist, entstammt dem Katalog jener Rückkoppelungsmechanismen, die erfolgreiches bewußtes Handeln und Überleben ermöglichen. Verführerisch ist der immer wiederkehrende Gedanke, Erkenntnis sei auf einen zentralen Vorgang oder Begriff zurückführbar. Weder aber das Wort als Ursprung noch die Tat, noch auch das Sein, der Kosmos oder die Urgeschichte erhellen die Frage- stellungen zur Erkenntnis vollständig. Vielmehr sind alle gelungenen Erklärungsversuche so beschaffen, daß sie die jeweils anderen benötigen. Kein Sein ohne Tat, aber auch keine Tat ohne das Wort. Der geschichtliche Ansatz erleidet den genannten Mangel ebenso, aber er ist zumindest als Rekurs darüber, wie das wurde, was geworden ist, notwendig. Jede systematische Philosophie hat ihn aufgegriffen und durchgeführt. Der Umstand, daß idealistische, empiristische, materialist- ische, nominalistische, realistische, marxistische, positiv- istische und andere Ansätze zu Erklärungsmodellen führen können, widerlegt den Primat eines Einzelnen. Sie bedürfen einander, wie die verschiedenen Organe im Menschen.
Die Frage nach dem Ersten, die Ursprungsfrage führt zu immer mehr verschwimmenden Bildern, je weiter die Suche sich von der Gegenwart entfernt. Es ist wie eine fließende Grenze, bei der nie gesagt werden kann, wo sie überschritten wurde. Ähnlich verhält es sich mit den empirischen Untersuchungen, sowohl im Mikro - wie im Makrokosmos. Grenzen, Grenz -flächen, -räume, -zustände sind zentral und gehören zu den Grunderfahrungen der Erkenntnis. Grenze und Abgrenzung markiert ein vertrautes Territorium gegen ein unbekanntes. Aber das Vertraute ist selbst durchsetzt von Nichtbekanntem und durchzogen von Grenzen verschiedenster Art. Grenze selbst als Begriff zeigt sich nur unter oberflächlicher Betrachtung als stable Größe. Von einem Staat kann gesagt werden, seine Grenze verläuft am Ufer dieses Flusses oder folgt diesen Markierungslinien. Es ist der soziale Kontex, die Wiederholung des Gedachten in tausenden von Gehirnen, welches hier zusammen mit Vergröberungen auf physikalischer Ebene eine schlüssige Definition erbringt.
Die vollständige Begrenzung, die Definition eines Dings, gelingt in der Mathematik, solange sie nicht auf reale Sach- verhalte übertragen wird. Aber sie nimmt ihre Berechenbarkeit mit hinaus und verhilft zu richtigen Abschätzungen in der Realität. Die Mathematisierung der Realität, selbst eine mathematische Operation im Zusammenhang mit realen Erprob- ungen, ist die entscheidende Grundlage der menschlichen Lebensfähigkeit geworden. Rechnen und Messen stehen am Anfang jeder Kultur. Ihre Verflechtung mit Phantasie und Wagemut hat Kontinente und atomare Welten erschlossen und ermöglicht den Sprung in den Weltraum. Daß aber der Erfolg nicht von der
238/2
Differenz zwischen Mathematik und Realität aufgezehrt wird, liegt an den verschiedensten "Glättungsverfahren": Stellen hinter dem Komma verschwinden und mittels statistischer Methoden werden brauchbare Mittelwerte gefunden.
Ist es Zufall oder gibt es einen Zusammenhang zwischen der Verbreitung mathematischen Denkens und dem Aufkommen von Aberglauben ? Interessant ist die Anfälligkeit von Natur- wissenschaftlern für mystische Gedanken und abergläubige Anschauungen. Ich vermute einen Zusammenhang. Der Erfolg mechanischer Produktionen ist begründet durch Mathematik, Erfahrung und Phantasie. Der Preis ist, daß Modelle an die Stelle der Wirklichkeit treten. Auch dies hat seine aber- gläubigen Vorstufen. Viele Menschen glauben an Himmel und Hölle, andere an Transzendenz, imaginäre Welten, Gegen- universen usw. Der erfolgreich gebaute Motor erzeugt die Gewißheit, das von uns gemachte Abbild der Wirklichkeit repräsentiere die Wirklichkeit. Dies ist bezogen auf die Wirksamkeit und Realität des Motors zutreffend. Aber es ist auf komplexe Prozesse schwer anwendbar. Der Erfolg der Medizin hat den gleichen Effekt hervorgerufen, wie die erfolgreiche mechanische Produktion. Die nicht erklärbaren Zusammenhänge werden als noch nicht mathematisch erfaßt oder zufällig verstanden. Demzufolge sind Begriffe wie "Bewußtsein", "Ich", "Wachstum" ebenfalls nur begriffen, soweit sie mathematisier- bar und nachproduzierbar geworden sind. Der Erfolg eines solchen Denkens verdunkelt seine Schwächen. Wachstum ist nicht das Abspulen von mathematisch organisierten Prozessen, wenn- gleich etwas davon in ihnen auch wirkt, sondern es ist etwas nicht im Modell Identifizierbares. Man muß deshalb nicht wieder an Geister glauben, es gibt nicht nur rationales und irrationales Denken. Wachstum ist im Nachhinein analysierbar. In ihm sind mathematisch ableitbare Vorgänge zu beobachten, aber es erschöpft sich darin nicht. In älteren Büchern zur Anthropo- logie wurde der Fehler gemacht, menschliche Errungenschaften nach der Datierung ihrer Fundstücke einzuordnen. Das Modell menschlicher Frühgeschichte erstand aus dem, was zufällig gefunden worden war. Über diese Naivität ist man längst hinaus. Aber genau mit solcher Naivität werden wichtige Konstrukte, wie das "Ich", "Wachstum", "Leben" definiert. Konsequente Positivisten weichen der Analyse solcher Konstrukte aus und erklären sie als unbedeutend. Damit verfehlt der Positivismus jegliche tiefere Erklärung. Er sagt, was ist, das ist, setzt wie im Darwinismus eine Tautologie neben die nächste und erklärt die erste mit der letzten und umgekehrt. Ebenso, der in Grenzen berechtigte Begriff des Determinismusses. Bestimmte physikalische Anordnungen erbringen immer die gleichen Ergebnisse. Die Folge ist das naturwissenschaftliche Bild der elementaren materiellen Welt. Es ist erfolgreich, aber völlig unzureichend höhere Prozesse zu erläutern. Die Wahl einer Ja oder Nein Entscheidung widerlegt den Determin- ismus auf höheren Ebenen. Auch die Behauptung, es wären verborgene kausale Ketten, die diese Entscheidungen hervor-
238/3
rufen, hilft nicht weiter. Im Nachhinein läßt sich manches Modell den Prozessen imputieren, aber es führt zu nichts. Der Darwinismus, in engen Grenzen ein erfolgreiches Modell, ist in seinen überspannten Anwendungen nur der verklausul- ierte Satz:" Das was ist, das ist, weil es stärker ist. Und es ist stärker, weil es ist."
Was ist Denken nun wirklich ? Einerseits können in ihm Modelle wiedererkannt werden, die in mathematischen Prozessen umschrieben werden, andererseits ist es sehr komplex. Es denkt ein "Subjekt", aber es ist selbst zusammengesetzt aus "Subjekten", also kleinsten "Willens- zentren" und "Wachstumszonen". Aber es nicht einfach ein "Parlament von Trieben" wie es Freud sah. Das Bild eines Parlamentes von Trieben trifft zuweilen zu, aber es gibt auch einen Despotismus eines Triebes, es gibt die Dominanz eines fremdbestimmten Zieles, eines Begriffes usw. Das heißt, fast jedes Modell findet eine zeitlich oder räumlich eingegrenzte Entsprechung irgendwo in einem Menschen. Wo aber alles bewiesen werden kann, wird nichts bewiesen. Diese skizzierten Probleme erklären, warum in den Fragen der Erkenntnistheorie wenig Fortschritte zu verzeichnen sind und die Anwendung naturwissenschaftlicher Modelle so überaus magere Ergebnisse für die Erkenntnistheorie zeigt. Wenn das mathematische logische Denken streng angewandt wird, löst sich die materielle Welt auf in ungefähre Zahlenrelat- ionen. Es lassen sich Näherungswerte errechnen, die unter anderem genaue Flugbahnen für Raumsonden ermöglichen. Aber in zentralen Fragen ist dieses Verfahren nicht anwendbar. Das jeweils entscheidende Ich folgt gelegentlich den von Außen wirkenden Kräften, ist dann berechenbar, manchmal ist es widerspenstig, und selten erzeugt es phantastische Lösungen, die völlig unberechenbar sind. Dies besagt nicht, daß unter- halb von Determinanten Zufälle lauern oder etwa das Quanten- modell generalisierbar wäre, sondern es zeigt, daß die Grundkategorien wie Determinismus und Zufall selbst nur Modelle sind mit ihrem spezifisch eingegrenzten Wirkungsfeld. So wird auch verständlich, daß in einer rational durch- organisierten Gesellschaft die Einzelnen die wenigen notwend- igen rationalen Schritte unterlassen, die zum Weiterleben erforderlich sind: Sicherstellung der Reproduktion. Paradoxerweise ist diese Art "Geistesschwäche" eben in jenen Ländern am weitesten verbreitet, die sehr hoch rational organisiert sind, während in den archaischeren und unlog- ischeren Gesellschaften die Reproduktion noch funktioniert.
Was für Wirklichkeit gehalten wird, ist ein Konglomerat aus Vorstellungen, die nach Modellen gebildet wurden, die von erfolgreichen einfachen Produktionen abgeleitet wurden. Aber Leben ist komplex. Die archaischen Gesellschaften leben un- bewußt komplex und nicht von rationalen simplifizierten Modellen gelenkt. Aufklärung räumt damit im Wortsinne auf. Der Einzelne plant rational sein Leben, sein Vergnügen usw. und verlernt dabei überhaupt zu leben. Das steckt hinter dem Mechanismus der Degeneration der Hochkulturen, ob nun in
238/4
Babylon, Rom, Paris oder New York. Die Flucht in Aberglauben und "Transzendenz" verschafft gelegentlich Abhilfe, nicht weil der gedachte Unsinn richtig ist, sondern Submileaus damit abgegrenzt werden in denen wie im Zoo seltene Tiere, archaische Mechanismen gehütet werden. Sie sind denn auch für die Gesellschaft unbedeutend.
Isolation eines Dinges und seine Definition sind alte Erkenntnisweisen, die bereits im Tierreich angewendet werden. Der Einzeller isoliert aus dem umgebenden Meerwasser bestimmte Stoffe heraus, die er zur Nahrung verwendet. Seine Sensorik definiert diese Stoffe als nahrhaft in jenem Sinne, daß er Erinnerungsmechanismen anlegt, die das Wiedererkennen der nahrhaften Stoffe ermöglichen. Am Ende der vollständigen Entwicklung dieser Lebenstechniken stehen die Isolationen durch menschliche Begriffe und die sprachlichen Definitionen.
Unter dem Einfluß der Religionen sind die philosophischen Bemühungen seit der Spätantike den rationalen Systemen entglitten und nie wieder dorthin zurück gelangt.
Die Aufklärung orientierte sich deshalb konsequent an den Naturwissenschaften. Die Philosophie der Neuzeit entwickelte im Wesentlichen zwei Fraktionen. Die eine im traditionellen Fahrwasser der Theologie verbleibend, die andere im Bereich naturwissenschaftlichen Denkens. Erkenntnistheorie wird mehr und mehr zur Aufgabe von Soziologie und Psychologie. Die im Einfluß des theo- logischen Denkens verbleibende Philosophie sucht nach wie vor nach metaphysischen Zusammenhängen ohne etwas Fruchtbares hervorzubringen. Wenn mit Grund hervorgehoben wird, daß die Einzelwissen- schaften in ihrem Positivismus wenig zum Verständnis historischer Zusammenhänge und zu Grundfragen der Erkennt- nistheorie beitragen können, so sind umgekehrt die Ansätze der Metaphysik und Theologie deshalb nicht brauchbarer als früher. Es gibt auch hier kein wirkliches Zurück, es sei, der Anspruch auf Erkenntnuis wird zugunsten eines warmen Wohnzimmers aufgegeben - man versteht mich.
Die Mängel der positivistischen Methoden müssen durch ihre Verfeinerung zu besseren Ergebnissen führen, nicht aber abgelegt werden. Der Versuch ein großes übergreifendes System der Erkenntnis, basierend auf naturwissenschaftlichem Denken zu schaffen, scheitert vor allem an der mangelnden Detailauflösung der realen Fragestellungen, an mangelndem Material und am Fehlen einer "Fehlertheorie" die im Wesentlichen die Begriffe der Grenze und des Nichtidentischen am Material entfalten müßte.
238/5
Bemerkenswert ist die Verbreitung des Aberglaubens nach dem Zerfall der antiken Kulturen. Einer der Gründe ist das Ausweichen rationalen Denkens vor fundamentalen Fragestellungen, die im Aberglauben scheinbar beantwortet werden. Der unendlich große Wert des Individuums, den das Christentum postuliert, selbst wenn ihm jede Individualität abgeht, hat wesentlich zu dessen Verbreitung beigetragen. Aber auch die Suggestion der Macht der Schwäche und der untersten Schichten hat in diesem Sinne gewirkt. Das höhere Denken wurde dazu paralell durch Vernichtung der Intelligenz, Zerstörung der Bibliotheken und Universitäten, Abschaffung der olympischen Spiele und des Internationalismusses ausgerottet. Bis heute hat die Zivilisation sich davon nicht erholt. Mehr als in der Antike vermeidet rationales Denken wegen dieser Vorgeschichte die Behandlung elemetarer Frage- stellungen. Aber die Einsicht in menschliches Leben wird durch Aus- klammerung von Fragestellungen zum Stillstand gebracht. Immer wieder wird von positiver Wissenschaft angeführt, daß von einem Ich oder Bewußtsein, Wille oder Werden nichts gesagt werden könne, als was im Kontex der Details erklärt wird, bzw. daß sie nur als semantische Produkte existieren. Naturwissenschftliches Denken klammert systematisch alle Ansätze aus, die den Unterschied zwischen Subjekt und Objekt erklären könnten. Deshalb ist jede Fragestellung mitlerweile darauf reduziert, wie etwas als Objekt in Details aufgelöst werden könnte. Daher ist es nicht verwunderlich, daß der Unterschied zwischen Denken und Wachstum auf der einen Seite und elektronischen Signalen und ihre Verarbeitung auf der anderen Seite nicht mehr erfaßt wird. Die Rede von den denkenden Computern der Zukunft, oder noch übersteigerter vom künstlichen Leben, sind Ausdruck eines absoluten Tiefstandes des Denkens.
Der Begriff der Grenze betrifft in schärfster Wirkung die Begriffe des Subjekts und des Objekts. Objekte sind immer für das Subjekt. Objekte "an sich" sind eine Schimäre. Deshalb ist der neudeutsche Unterschied zwischen objektiver und intersubjektiver Objektivität ein Scheinunterschied. Subjekt aber unterliegt insofern der Grenze, als seine zentralen Inhalte nicht im Objekt nachvollziehbar sind. Nach wie vor gilt Schopenhauers Satz: das Subjekt ist sich selbst unerkennbar. Erweitert: Was am Subjekt erkennbar ist, ist objektiviert, also Subjekt als Objekt. Dies ist mehr als Sprachspiel. Deutlich wird die Relevanz dieses Unterschiedes bei der Frage nach den Strebungen des Lebens. Sämtliche, bisher erkannten Lebens- mechanismen sind, wo sie mehr als nachvollzogene Taulogien sein können, so allgemein und unverbindlich, daß sie beständig von Einzelfällen widerlegt werden.
238/6
Krasses Beispiel: die Hochzivilisationen als zunächst Inbegriff gelungener Lebenstechniken und Abwehr- lnstallationen wider Hunger, Naturwidrigkeiten usw. Ausgerechnet diese Systeme erzeugen einen allgemeinen Niedergang der in ihnen lebenden Menschen. Psychologie, Soziologie und neuerdings medizinische Biologie bemühen sich, diesen Niedergang in Einklang mit darwinistischen Evolutionsmodellen zu erklären. Die Unfruchtbarkeit wird aus Wohlstand oder Chemieeinflüssen, ein andermal aus Kriegsfolgen und Verweichlichung in Friedenszeiten, aus Religionsfanatismus oder anderen Prozessen erklärt. Im Hinblick auf die Struktur älterer Hochkulturen ein hoffnungsloses Unterfangen. Es scheint überflüssig zu sein, darauf hinzuweisen, daß die Römer keine Automobile kannten und die Ägypter keine Bleivergiftung erleiden konnten, wie sie, einer bestimmten Auffassung nach, den römischen Untergang einst begründet haben sollte.
Die Wandlungen der Subjekte wird hingegen nicht adäquat in die Untersuchungen einbezogen. Hierunter ist nicht die Untersuchung des Einzelnen als Objekt wissenschaftlicher Analysen zu verstehen. Keineswegs aber ist das Subjekt etwas Geheimnnisvolles, Metaphysisches oder der materiellen Welt irgendwie Entragendes. Alle Versuche etwas Derartiges zu postulieren waren haltlos.
Der Erfolg mechanischer Produktion, ihre Analyse, Mathematisierung und Erfolge verstellen den Blick darauf, daß die Anwendung der praktischen Kenntnisse der technischen Produktion sich in Gestalt von Modellen realisiert. Die Produkte der Produktion sind weitgehend identisch mit ihren theoretischen Konzeptionen. Dies gilt für die klassische Mechanik, die Chemie, die Physik, Teile der Biologie, Soziologie und Psychologie. Aber die wesentlichen Prozesse des Lebens bleiben mangelhaft verstanden. Das zentrale Steuerungszentrum im Individuum, das Ich und sein Bewußtsein funktionieren nur in Teilbereichen derart übersichtlich, daß die naturwissenschaftlichen Methoden Verständnis erbringen würden. Konsequente Positivisten ziehen sich aus der Schwierigkeit zurück, indem sie die Oberbegriffe des Lebens als irrelevant erklären. Das Individuum funktioniert wie jedes Lebewesen nach Mechanismen, die von sogenannten Zufällen mitbestimmt werden. Es sind aber keine Zufälle und auch keine verborgenen einfachen chemischen und pysikalischen Prozesse, sondern Resultanten von Steuerungszentren, die wie im Frühjahr die Bäume für einen einzelnen Schritt das Verfahren massenhafter Streuung von Hormonen, Spermien, elektrischen Signalen, Gedächtnismolekülen usw. anwenden. Jeder Versuch, einzelne Ursachenlinien herauszufiltern muß enorme Fehler beinhalten.
238/7
Dazu im Vergleich die Prozesse in Computer: Die Signale sind digitalisiert und mathematisiert. Das Ja Signal bleibt ein Ja Signal, das Nein Signal bleibt ein Nein Signal. Stelle man sich vor, im Progragrammablauf würden nach nicht vorher programmierten Schritten plötzlich Ja Signale in Nein Signale umgewandelt. Dies könnte nach dem Mechanismus geschehen, wie Zufallsgeneratoren arbeiten. Es ist ganz klar, daß daraus letztlich nur unsinnige Resultate efolgen würden. Aber es wäre auch denkbar, daß die Umwandlung durch Steuerungszentren bestimmt würde. Wenn diese nicht autonom wären und nach dem Muster von Programmen arbeiten würden, gäbe es nur eine Vielfalt verschiedener Antworten, jede aber letztlich mit einem berechneten Ergebnis. Das heißt der Vorgang im Computer würde verkompliziert aber nicht verändert. Wie könnte nun ein autonomes Steuerungszentrum beschaffen sein ? Es müßte einen wollenden Kern haben mit einem Kanon von Aufgaben, Zielrichtungen und Rückkopplungen. In diesem Kern müßten Variablen wirken können, die zwischen Input Signalen wählen könnten und die Sensorik bestimmten. Das Ergebnis dieser Operationen müßte dann zu einer Produktion führen, die derart beschaffen ist, daß sie nicht etwa einen Kreis schließt,- denn wäre es so, würde immer wieder dasselbe geschehen, in Form einer gigantischen Wiederholungsschleife. Es mußte also eine offene Spirale sein. Man sieht bereits aus diesen Ansätzen, daß es völlig unmöglich ist den Lebensprozeß substanziell zu simulieren in seinen wesentlichen Vorgängen. Nur oberflächlich betrachtet ist dies eine Frage der feineren Instrumente. Ich wage die Behauptung, daß selbst Instrumente, die einzelne Atome verbauen könnten, nicht zum Erfolg führen würden.
Erkenntnistheoretische Begriffe
Hier verwende ich meine entsprechenden Vorarbeiten der zurückliegenden Jahre. Alle Gegenstände der Anschauung sind begrenzt, so auch die von ihnen gemachten Begriffe. Das heißt, ihre Existenz ist nur vermöge der Nichtexistenz außerhalb ihrer Begrenzungen. Ein physikalisches Bild: Ein Eisenwürfel ist u.a. räumlich begrenzt, hätte er nicht eine räumliche Begrenzung, so wäre alles aus Eisen, ein Universum aus Eisen, in dem für kein Subjekt noch Raum bliehe. Die Begrenzung gilt für alle Ebenen. Ein zeitlich unbegrenzter, mithin ewig dauernder Eisenwürfel würde absolute Ruhelage bedeuten. In diese wäre kein Eingriff von innen oder außen möglich, auch nicht der der Schwerkraft. Weil jedoch alle Materie über Kraftfelder miteinander in Beziehung steht, wäre ein ewiger Eisenwürfel nur in einem ebenso ewig ruhenden Universum möglich. Der Begriff lebt wie der Eisenwürfel von seinen Abgrenzungen. Gesetzt ein Begriff wäre nicht abgegrenzt, so würde er alles bedeuten können und auch nichts bedeuten. In anderen Worten: das Moment des Nichtidentischen ermöglicht erst das Identische. Zwischen den beiden Begriffen: Identisches und Nichtidentisches siedle ich den Begriff der Grenze an. Die Grenze ist das Moment der Verhärtung in bewegten Systemen und
238/8
die Kluft zwischen These und Antithese in der Konstruktion des dialektischen Widerspruchs. Die Grenze darf nicht verdinglicht werden, denn sie ist nicht absolut gegeben; ihre Gültigkeit ist allein die Vermittlung von Bewegtem in einer relativen Unbewegtheit. Relative Unbewegtheit läßt sich im Gegensatz zur Starre selbst wieder als Bewegung nachweisen.
Die Begriffe Iassen sich "ausdehnen". Zum Beispiel die Angst kann spezifisch als Schmerzangst gegeben sein oder spezifisch als Angst vor Hunger usw. Die erste Erweiterung der spezifischen Ängste zu der Angst ganz allgemein ermöglicht eine neue spezifische Bestimmung, wie z.B Angst als ein nervöser Unruhezustand. Dies ist aber zugleich ein Verlust an Bestimmtem, weil nicht mehr deutlich ist, ob es Schmerzangst oder eine andere Form der Angst ist. Der nervöse Unruhezustand der Angst kann wiederum verallgemeinert werden, indem ich sage, daß alle Lebewesen diesen Zustand gelegentlich durchmachen, sodaß Angst als Lebenserscheinung des Lebenden schlechthin aufgefasst werden kann. Angst als allgemeine Lebenserscheinung ist gegenüber der Angst als Unruhe ein weiterer Verlust an Bestimmtheit. Auch diese letzte Erweiterung kann neuerlich verallgemeinert werden. Am Ende der möglichen Erweiterungen wäre die Bestimmtheit fast gänzlich ins Unbe- stimmbare übergegangen. Der Begriff: "Alles was ist", erlaubt die Verallgemeinerung bis zum Umschlag ins Unbestimmte. Während der Satz: " Alle Meere sind aus Wasser", noch Bestimmbares übrig läßt, ist der Satz:" Alle festen Stoffe sind Materie", weit unbestimmbarer. Der Satz aber:" Alles Seiende ist Sein", bestimmt nur noch, daß zwei Begriffe gleichermaßen absolut gesetzt sind. 2wei Absolute sind jedoch nicht mehr trennbar, so daß hier das Bestimmte zugleich ein Nichtbestimmtes ist. Der Begriff "Alles" negiert die Bestimmtheit der unter ihm erfassten Teile; steht er ohne eingrenzende Bestimmungen, so benennt er ein Un- bestimmbares. Der Begriff als das "Bestimmende" und "Begriffene" neutralisiert sich am Ende der Verallgemeinerungen selbst.
Ich nenne diese Neutralisierung des Begriffes durch seine Verallgemeinerung die erste Grenzfunktion.
Die Verallgemeinerung ist der Versuch einer Grenzüber- schreitung ins Makrologische; denkbar ist sie ebenso ins Mikrologische. Während jedoch in der ersten Grenzfunktion die Neutralisation von Identischem und Nichtidentischem durch Überdehnung des identfizierbaren Bereichs zustande kommt, wird die Grenze im mikrologischen Bereich durch Abtrennung des Nichtidentischen vom Identifizierten verursacht. Ich illustriere: Der Raum ist als dreidimensionale abstrakte Konstruktion an verschiedenen Eigenschaften mit dem wirklichen Raum identifizierbar. Die Fläche als zweidimensionale Konstruktion bereitet der Identifizierung jedoch Schwierig- keiten: Die meisten Flächen können empirisch nur als Schichten identifiziert werden, also in drei Dimensionen wie der Raum. Die Linie läßt sich noch schwerer mit Vorhandenem identi-
238/9
fizieren, weil nur noch eine Eigenschaft der Linie mit der empirischen Welt gemeinsam ist. Der Punkt erlaubt aber keine direkte Identifizierung mehr, obwohl er für die mathematischen Analysen unerlässlich ist. Der Punkt ist als Begriff völlig von der empirischen Welt abgetrennt. Nur weil der Punkt innerhalb der mathematischen Gebäude durch Anwendungen mit empirischer Nähe vermittelt wird, wie z. B. als Anfangs- und Endpunkt einer Bewegung, wird er nicht zur leeren Hülse neutralisiert. Der Abbruch der Vermittlung, also die völlige Trennung von Begriff und "Sache", ist der Endpunkt der immer genauer, immer weniger mit Nichtidentischem vermengten Identifikation. Sie führt bei gleichzeitig steigender Exakt- heit ebenso zur Neutralisation wie die erste Grenzfunktion. Ich nenne die Neutralisation durch völlige Trennung die zweite Grenzfunktion.
Die Konfrontation mit einer vermuteten tödlichen Erkrankung brachte mich dazu, mir den Tod vorstellen zu wollen. Ganz gleich, was ich mir vorstellte, so sah ich doch immer wieder den Raum in dem ich gerade war und mich selbst, bei dem Versuch den Raum als nicht vorhanden mir vorzustellen. Es vermittelte mir das Gefühl, als ob ich gegen eine Gummi- wand spränge, die mich wieder in den Raum zurück wirft. Beim Versuch der Überschreitung jeder aüßeren und inneren Vorstellungs falle ich wieder zurück in den Zustand, in welchen ich vorher gewesen war. Eine Grenzüberschreitung aller Wahrnehmungen meiner äußeren und inneren Situation gelingt nicht. Das Subjekt vermag nicht sich zu überschreiten. Ich nenne diese Funktion der Grenzerfahrungen: die dritte Grenzfunktion.
Eine ähnliche Grenzfunktion, die ich als die vierte be- zeichnen möchte, ist das ständige Auftreten von Gegensätzen und antipodischen Paaren. Wir finden bei jeder Analyse uns vor die Notwendigkeit gestellt in Paaren zu operieren. Die elementarste Paarbildung ist die zwischen dem Objekt in seinen Abgrenzungen und sein Umfeld, von dem es ab- gegrenzt ist.
Aber kein Objekt bleibt in seiner Lage, es ist sowohl im Raum als auch in seinen Bausteinen in Bewegung. Jeder Versuch bündige Definitionen zu finden, ist einge- grenzt durch die ständigen "Verflüssigungen", die mehr oder minder die Definition tangieren. Sämtliche physikalischen Modelle haben Bewegung und Nicht-. bewegung, genauer: relative Bewegungen zueinander zum Grunde liegend. Der Herakleitische Satz: "Man steigt nicht zweimal in den gleichen Fluß" trifft völlig diese Grenzfunktion, die ich als fünfte bezeichnen möchte.
238/10
Erkenntnistheorie vermag vor allem daran zu scheitern, daß man verbindliche Antworten auf wichtige Lebensfragen mit den Mitteln von Logik und Mathematik geben will. Ihr A=A gilt nicht in komplexen lebendigen Systemen. Es gibt nichts "vorzufinden", was mit sich identisch ist und bleibt. Alle diesbezüglichen Begriffe sind nur nur als stets sich wandelnde verwendbar. Sie verbleiben nicht im Rahmen der Identitätslogik. Erkenntnnis ist ein Produktionsprozeß, der optimale Wahrheit anstrebt und dennoch Produkt ist. Diese Widersprüchlichkeit ist unausweichlich. Sie ist die gleiche, die sich in der Existenz eines "Ich" zeigt und in einer "objektiven Wirklichkeit". Beide sind nicht in einem System plazierbar.
Der Positivismus der amerikanisierten Naturwissenschaften, der Mathematiker und der, an ihnen sich anlehnenen Philosophie hat, wenn er auf sachfremdes Terrain sich vorwagt, etwas Ermüdendes. Umständlich werden in den Chaostheorien "Gesetzmäßigkeiten" gefunden, die aus den Zufällen sich mathematisch-statistisch ergeben. Man wundert sich über die "Fraktale" im "Chaos" und ihre Mathematisierbarkeit, anstatt sich über die Projektionen verinnerlichter Denkmodelle in ihnen zu wundern. Man begreift nicht die Produktionen des Denkens und ihre Grenzfunktionen und sieht außen etwas, das innen geschieht. Aber nocheinmal: Es gibt keine Eins, kein A=A, keine Notwendig- keit, keine Gesetze der Natur usw. und ebenso nicht: Zufall, Chaos usw. Alles ist Produktion eines nicht völlig definier- baren Ich-Zentrums inmitten von nichtidentischem "Material", Produktion eines "Dritten", produziert durch ein Subjekt mittels seiner Objekte.
Das Bestimmbare oszilliert vom Identischen zum Nicht- identischen. Unbestimmtheit entsteht aus dieser Oszillation. Sie muß gegeben sein, erstens aus der Erfahrung von Objekten, welche Momente der Bestimmbarkeit haben, zweitens daraus, daß ein Verharren im einfachen Nichtidentischen ein einfaches Nichts hervorbrächte. Dieses wäre aher negative Bestimmtheit. Hohe Wahrscheinlichkeit nähert sich der Wahrheit an. Während aber Ableitungen aus wahren Sätzen selber wahr bleihen, so führen Ableitungen aus hohen Wahrscheinlichkeiten nur zu weniger wahrscheinlichen Sätzen. Hierbei ist vorausgesetzt, daß die Ableitungen aus wahren Sätzen wahre Ableitungen sind, die Ableitungen aus Sätzen hoher Wahrscheinlichkeit aber selber hoch wahrscheinlich sind. Je mehr Ableitungen aus hoch wahrscheinlichen Sätzen folgen, umso unwahrscheinlicher werden sie, d.h. das Nichtidentische wächst an.
Unter dem Gesichtspunkt betrachtet, daß alles in Bewegung und Veränderung sich befindet, wird verständlich, warum kein Objekt unsere Anschauung mit sich identisch bleibt. Wir nehmen ein Wort, mit dem wir ein Detail des Lebens oder der Dingwelt definieren, - aber es entrinnt dem Wort die Sache. Die
238/11
Identität ist selbst nur ein Moment im Flusse. Wir bedürfen dieser Identitätsmomente.
Denken operiert mit Elementen, die als identifizierbar gesetzt werden. Die Grundformel dafür ist: A gleich A. Die Trag- fähigkeit dieser Identität ist für die einzelnen Elemente von unterschiedlicher Lebensdauer. Die Präzision der Identität schwankt ebenfalls von Element zu Element. Je präziser ein Element gefaît wird, umso kürzer ist in der Regel seine Lebens- dauer und umso mehr nähert es sich einem Ausdruck an, der in der Formel A ungleich A beschrieben wird. Ich nehme zwei beliebige Zeitdefinitionen zur Illustration: Das Datum 1.1.1992, 0 Uhr ist definiert durch eine bestimmte Konstellation des Sonnensystems in unserer Galaxis und der Erde im Sonnensystem und der Stellung des irdischen 0 Meridians im Sonnensystem. Es wäre ein grobes A-A. Es enthält aber auch schon nichtidentische Elemente. Die Präzision mit der diese Konstellation festgestellt werden kann, ist davon abhängig wie weit der Rahmen der Definitionen in den Kosmos hinein auasgedehnt wird. Wenn z.B. ein Zeitpunkt von einer Milliardstel Sekunde definiert werden soll, ausgedrückt in einer bestimmten Konstellation des Sonnensystems in unserer Galaxis, so ist dies nicht möglich. Der bestimmte Augenblick ist bereits im Moment des Bewußtswerdens vergangen. Die Positionen der kosmischen Objekte sind durch die Lichtlauf- zeiten nur ungefähr zeitlich bestimmbar. Die Bewegungen aller beteiligten Dinge sind es selbst, die ein punktgenaues A-A ausschließen. Das A ist ungleich A bereits im Moment seines Auftretens und erst recht im Moment des Gedachtwerdens. A ist ungleich A, aber A ist nicht voll- ständig nur ungleich A sondern es enthält auch identische Momente, die im Verlauf der folgenden Produktionen sich entfalten. Hier ist einzufügen, was schon häufig entwickelt wurde: Jeder Prozeß wird aufgefaßt als Produktion. Es ist grundsätzlich jeder Nervenreiz, jede Erfahrung, jede Verarbeitung, jeder Gedanke, jede Lebensäußerung, jedes Geschehen Produktion. Allerdings ist nicht jede Produktion gleichermaßen erfahrbar und definierbar. A produziert A 1. Dieses A 1 ist das was aus dem A geworden ist. Es enthält identische Momente, daher A, es enthält nicht- identische Momente, daher A 1. Der Ausgangspunkt allerdings, jenes A, muß selbst schon als A ungleich A verstanden werden. A ist eigentlich bereits ein A 1. Es gibt streng genommen kein erfahrbares A. Es ist ein A 1 welches identische und nicht- identische Momente enthält. Es ist ein A 1 welches zum A 2 wird. Dem A 2 widerfährt das gleiche wie dem A 1. Der allgegenwärtige Verwandlungsprozeß, anders: die Zeit, zeigt sich in einer ständigen Entfaltung aller Elemente von einem A 1 zu A 2, zu A 3, A 4, A 5, usw. Aber auch dieses Modell verliert bald seine Relevanz. Das A 20 zum Beispiel könnte bereits derart entleert von identischen Momenten sein, daß es zu einem anderen Element sich gewandelt hat. Aus A wird B. A ist aber auch dann nicht zu definieren als A = B sondern A ist ungleich B mit identischen Momenten in
238/12
seinem Entfaltungsprozeß. Setze ich dafür den Begriff Wachstum, so finde ich zugleich eine Formel für den Lebensprozeß: A 1 produziert A 2, A 3, A 4, usw. bis B und B 1. Dann geht es weiter, von B zu C usw. Die zutreffende Analyse eines beliebigen Wachstums zeigt sich daher gedoppelt als Begreifen und Entgleiten der Elemente. Denken ist ein Produktionsprozeß, der scheinbar in Gestalt von Modellen und anderen Bewußtseinselementen eine gültige äußere Welt widerspiegelt. Man sieht, woher die Widerspiegel- ungstheorien kommen. Sie entstehen aus einer unvollständigen Beobachtung des A gleich A. Menschliche Produktion kann aufgefaßt werden als eine zweite Produktion gegenüber einer ersten Produktion durch die Natur. Dies gilt nur als Erkenntnismodell, ist aber nicht "wirklich". Die Gültigkeit dieses Modells zeigt sich darin, daß sich erfolgreiches Denken als erfolgreiche Produktion positiv mit der natürlichen Produktion verflechtet. Menschliche Geschichte zeigt allerdings, daß diese Vorstellung sehr harmonistisch ist.
Die Nichtidentität begründet sich nicht nur aus dem Zeitfluß sondern grundlegender noch aus der Notwendigkeit, im Denken so etwas wie eine zweite Welt hervorzubringen. Das optische Bild, welches dem Gehirn zur Verarbeitung vom Auge geboten wird, ist eine einfache visuelle sogenannte Verdopplung des optisch real Vorhandenen. Die Ordnungskategorien mittels derer eine optisch gebotene Figur überhaupt als Figur aufgefaßt werden kann, sind Repräsentanten eines Geflechtes geistiger Arbeit der ganzen Menschheit. Die Einfachheit, mit der ein Bild verstanden wird, ist ein Trugschluß, der aus generationenlangem Training des Hirns resultiert. Nun ist die "reale" Welt, welche zur Grundlage der "zweiten Welt" im Kopf genommen wird, nicht wörtlich zu nehmen. Es ist ein notwendiges Modell, welches uns zwingend auferlegt ist. Die "reale Welt" ist uns gar nicht anders denn als "zweite Welt" erfahrbar. Die "reale Welt" bleibt uns so fremd, daß schon der Begriff "reale Welt" unzutreffend ist. Wir haben immer einen Produktionsprozeß, der unter bestimmten Kriterien als Ausdruck einer wahren Sicht der "Wirklichkeit" definiert werden kann. Wenn ich an einen Baum denke, so ist offensichtlich, daß das Wort Baum und alles was davon sichtbar, fühlbar, erfahrbar, gewußt ist, sich sehr unter- scheidet von dem, was der Baum "für sich" ist. Das "für sich" ist nicht erfahrbar, selbst wieder eine notwendige Hypothese, mehr nicht. Die Gültigkeit der Erfahrung einer Wirklichkeit kommt zustande mittels eines komplexen Systems von Techniken, die praktisch und gedanklich zu wiederholbaren Momenten führen, in welchen z.B. sich eine Eigenschaft: "Holz ist fest"," Holz ist brennbar", für uns sinnvoll verstehen und verwerten läßt. Eine dieser Techniken ist die ständige Anpassung der Elemente des Bewußtseins an das sinnlich und logisch abgeleitete Erfahrbare. Aus A wurde A 1, aus A 1 wird ... B. Dieses B wird wiederum als A gleich A gesetzt. Es wird ein Netz von wiederholbaren Momenten und Ereignissen entwickelt, welches wir als "Wirklichkeit" erfahren.
238/13
Da es keine Möglichkeit gibt, wie Nietzsche bemerkte, etwas anderes einzufangen, als unser Netz fangen kann, gibt es auch keine dieser Wirklichkeit grundsätzlich widersprechenden Erfahrungen. Im Einzelfalle wird ein Irrtum erkannt, aber im Ganzen sind die Ergebnisse unzähliger wiederholbarer "richtiger" Erfahrungen vorrangig. Ein Rechenfehler widerlegt nicht sondern bestätigt mathematische Theorie. Man kann daher in der dauernden Erprobung des Erfahrbaren die Effektivität, Gewalt und Nützlichkeit unserer "Wirklichkeit" steigern.
Adornos "Negative Dialektik" ist der vorläufige Endpunkt produktiver Erkenntnistheorie, die bereits publiziert ist. In wie weit nicht veröffentlichte Weiterentwicklungen existieren, entzieht sich meiner Kenntnis. Adorno hat mit der Dialektik Ernst gemacht, die bei Hegel formal bereits voll entwickelt, aber völlig im Traditionellen verhaftet ist und in zentralen Kategorien den Konsequenzen ausweicht. Die Antithese zur These des dialektischen Verfahrens setzt sämtliche Kategorien außer Kraft und hebt sie in der Synthese auf. Adorno hat dies auf das Erkenntnis- instrumentarium als Ganzes angewandt. Sprache und Begriffe definieren und scheiden nach seiner Einsicht das ihnen Inkommensurable aus. Bei fortschreitender Entwicklung des Erkenntnissystems wird das Inkommensurable und daher "Nichtidentische" zum Bodenlosen, welches den Begriffen den Boden entzieht und sie zum Prozeß auflöst. Dieser aber ist nicht der "Gang des Weltgeistes" eines Hegels, sondern negativ. Nicht nur als Prozeß bleibt er inkommensurabel der Erkenntnis sondern ist mit seinen administrativ und ökonomisch alles sich einverleibenden Strukturen wirklich negativ: akkumulierte historische Gewalt.
Theorie der Perspektiven
Nietzsche hat bereits das Perspektivische der Erkenntnis betont. Dies legt den Gedanken nahe, es gäbe nur eine Perspektive, die zwangsläufig der Mensch einnimmt, andere sind ihm demnach verschlossen oder vielleicht auch gar nicht existent.
Der Siegeszug der Naturwissenschaften hat seit Nietzsche weitere Fortschritte gemacht und ein Weltbild hervor- gebracht, welches nicht als die Perspektive sondern als Realität und Objektivität schlechthin, konkurrenzlos da steht. Das gleichzeitige Wiedererstarken abergläubiger Vorstellungen in Zirkeln, Religionen und Sekten hat den Gedanken an weitere Perspektiven der Erkenntnis diskreditiert.
238/14
Mindestens eine weitere Perspektive ist individuell nachvoll- ziehbar: Die Erfahrung der Zeit ist immer ein Vergleichs- prozess in welchem verschiedene Bilder, Erlebnisse und Erinnerungen miteinander in Bezug gesetzt werden. Vorrangig für die unmittelbare Wahrnehmung ist aber nicht die Zeit sondern die dimensionslose Gegenwart, der jetzt erlebte Augenblick. Betrachtet man ihn genauer, so zeigt er sich als dauerhaft, da er von einem unmerklich in den nächsten über- geht. Das Zeitlose des Jetzt ist unmittelbar erfahrbar, nicht aber die Zeit einer beliebigen Zeitstrecke. Sobald der Augenblick objektiviert wird, zeigt er sich als Struktur von sich aneinander reihenden Ereignissen, die sich in automatischen Vergleichsprozessen als Zeitstrecke darstellen. Die Perspektive, aus der heraus der Augenblick erfahren wird ohne Zeitstrecke zu sein, ist die subjektive Perspektive. Zu ihr gehört auch die Empfindung von mir selbst, daß das "Ich" kein Anderer und auch kein anderes Lebewesen ebenso sein kann. Als "Ich" existiert der Andere nicht. Ich kann wohl annehmen, daß der Andere mir so sehr ähnlich ist, daß er für sich selbst auch ein Ich ist. Er wird auch mitteilen, er wäre Ich. Aber dies ist nur abstrakt objektiv gültig. Ich kann nicht durch die Augen des Anderen hindurch dessen Welt sehen. Ich kann nicht in seinem Hirn denken usw. Das was ich für mich bin, kann der Andere nicht sein. So gesehen gibt es streng genommen nur ein Ich, nämlich mich. Dies ist die subjektive Perspektive der Welt.
Vorläufer der subjektiven Perspektive sind vermutlich in der Frühgeschichte der Menschheit zu finden. Der Mensch in der Vorzeit erlebt, wie möglicherweise das Tier, sich als Mittelpunkt der Welt. Er ist sich selbst das Absolute. Mit der Bildung von Gesellschaften und Staaten erfährt er seine Einschränkung durch Andere, Das komplexer werdende soziale Verhalten zwingt ihn, im Anderen oft auch den Überlegenen anzuerkennen. Diese Anerkennung, etwa des Häuptlings durch seine Stammesbrüder, kollidiert mit dem archaischen Gefühl, selbst Zentrum und Mittelpunkt u sein. Es entsteht ein Nebeneinander: Hier das "Ich" als Mittel- punkt der Welt, als einziges erfahrbares Zentrum, dort der Stärkere, der "meine" Handlungen bestimmen kann. Aber der "Andere" ist nicht mein Mittelpunkt, will aber mehr als "Ich" sein. Dies könnte zur Rebellion führen. Vermutlich liegt hier der Ursprung von Projektionen in eine Welt von Vorstellungen. Das Bedürfnis einen Stärkeren in einer eingebildeten Welt zu finden, könnte aus diesem Nebeneinander zweier Machtzentren resultieren: Das "Ich" und der stärkere "Andere". Die Gottheit als das absolut Starke versöhnt den Widerspriuch. Beide "Mittel- punkte" können in einer Projektion zusammenfallen und sich dieser unterordnen. Denkbar ist aber auch, daß de Störkere die Projektion zu Hilfe nimmt um die Unterordnung der Stammesbrüder zu erzwingen und ihnen zu erleichtern. An dieser Stelle des historischen Prozesses, der nicht auf Jahreszahlen eingegrenzt werden kann, tritt die Welt
238/15
des Wachbewußtseins mit der "objektiven Perspektive" in den Vordergrund des Lebens. Am vorläufigen Ende dieses Prozesses steht das Absterben der Religionen, das Schwinden des Restes von Mittelpunktsgefühlen und die Einvernahme der Welt des Geistes durch das soziale -, wirtschaftliche Geflecht der modernen Gesellschaft. Philosophie hat diesen geschichtlichen Prozeß fragmentarisch aufgezeichnet und aufgeklärt. Der Verlust des Mittelpunktgefühls und der dazu gehörenden "subjektiven Perspektive" ist gleichbedeutend mit der Aufhebung des Subjekts. Mit dem Aufkommen des modernen Bewußtseins, der "objektiven Perspektive", tritt auch die Zeitempfindung in den Vordergrund. Man lebt in Zeitstrecken, wartet auf das was kommt und bedenkt, was gerade geschah. Der Augenblick mit seiner scheinbaren Unendlichkeit findet sich projektiv wieder im "ewigen Leben" und anderen abergläubigen Vor- stellungen. Die zeitlose Gottheit ist die Projektion des Ichs im Augenblick, welches nicht mehr im Bewußtsein präsent ist.
Die vorgeschichtliche, archaische Wirklichkeit verwandelt sich durch den Einfluß der Signale und der Sprache zu einer Welt des Bewußtseins. In der Empfindung ein Ich zu sein, wird erstmals das bloße Aufgehen in die Umwelt unterbrochen, eine subjektive Welt tritt der objektiven gegenüber. Hier beginnt, was in der späteren Philosophie Subjekt und Objekt genannt wird, im Bewußtsein zu entstehen.
Die mit der Vorherrschaft von Zeitstrecken im Bewußtsein verbundene Furcht vor dem Ende des Lebens erzeugt die Todesvorstellungen, gegen die Epikur seine Lehre entwickelt hat. Die Todesangst ist übertragene Schmerzangst, da das Todsein nicht an sich selbst erfahrbar ist, Schmerzen sehr wohl. Epikur sagt: wo der Tod sei, wäre der Tote nicht mehr im Leben, und könne den Tod also nicht erfahren, wo aber der Tod noch nicht sei, würde man noch leben. Dennoch ist das Wissen um den Tod kein Nebenprodukt der Entstehung des objektiven Bewußtsein sondern offensichtlich durch evolutionäre Prozesse begünstigt worden und nützlich. Sie ist eine Art Sperrriegel gegen Leichtfertigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Körper, der im objektivierten Bewußtsein zum bloßen Objekt wird und daher extrem gefährdet ist. Man denke an den lebensgefährlichen Genuß von Nikotin und anderen Drogen, Waghalsigkeit usw. Todesvorstellungen gehen davon aus, daß man als Toter noch alles beobachten, aber nichts mehr dagegen tun kann. Es ist die Vorstellung einer grenzenlosen Ohnmacht, die daher rührt, daß wir den toten Anderen sehen, wie er nichts mehr tun kann. Nirgendwo ist die Anwendung der falschen Perspektive deutlicher als hier: Denn diese Gleichsetzung und Identifizierung des Ichs mit einem Toten bedeutet, daß ein Objekt aus objektiver Perspektive so gesehen wird, als sei es eine subjektive Perspektive. Der Fehler ist
238/16
offensichtlich, denn das Ich existiert nie als totes Objekt für sich. Es kann also auch nicht die Rolle eines wehrlosen Toten einnehmen. In der Todesfurcht setzt man das Subjekt als Objekt. Da man sich selbst verobjektivieren kann und sich in einer Art Selbstbespiegelung erfährt, wird der Schritt in die objektive Perspektive nicht bemerkt. Das Ich ist aber eine Selbsterfahrung innerhalb der subjektiven Perspektive, Verobjektivierungen ändern daran nichts. Objekte verbleiben nach ihrem Zerfall als zerfallene Objekte beobachtbar für das Ich. Das Ich ist hingegen nicht in der Lage sich als Objekt nach seinem Zerfall zu betrachten. Der Andere ist insofern grundsätzlich anders, als wir ihn immer als Objekt, uns selbst immer als Subjekt erfahren.
Die Konsequenz aus den beiden Perspektiven ist, daß die objektive Welt in die subjektive Perspektive hinein- gezogen werden kann, sowie umgekehrt das Subjekt in die Welt der objektiven Perspektive gestellt wird. Dieser "Augenblick", der sich im "Ich" realisiert wird zum "Urknall" der Entstehung des subjektiven Kosmos, der die Objektivität im "Nachhinein" entwickelt. Dieses Verfahren ist erkenntnistheoretisch nicht statt- haft, es ist reine Antithese, die sämtliche Kategorien erfaßt. Es stehen daher der äußerste Stand objektiver Theorien und die "subjektive Perspektive" der "Welt als Augenblick und Idee" scheinbar unverbunden nebeneinander. Ihre Synthese im lebenden "Ich" vermittelt die Perspektiven und läßt sie dennoch wie in einem erkenntnistheoretisch nicht "erlaubten" Gebilde neben- einander stehen, obschon sie dazu neigen sich gegenseitig zu neutralisieren. Dies ist das objektive Bild, das Bild der "subjektiven Perspektive" zeigt den Kampf des Einzelbewußtseins gegen das Allgemeine. Und obwohl in Jedem auch das Andere enthalten ist, verbindet es sich nicht nach Art von Legierungen sondern bleibt in tätiger Auseinandersetzung um Vormacht und Freiheit.
----------------