Fred Keil Bemerkungen zur Literatur Aachen April 2001 Nr.236
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"Wenn das Schwert und der Geist aufeinander treffen, dann siegt der Geist." Napoleon
Literatur ist weiter entwickeltes Schwert, weiter entwickelte Kriegsmaschine. Deshalb ist sie in die historische Kontinuität der Waffenentwicklung ein- gewoben, von ihr gefördert und sie fördernd und in einem, sie übergreifenden Zusammenhang. Dies verschafft dem stumpfen Darwinismus kein neues Feld. Ebenso ist nicht beabsichtigt Nietzsches Machtwillen als zentrale Kategorie zu beleben. Reflexionen zur Literatur müssen mit dieser Kontinuität einsetzen und sie wie ein roter Faden durchhalten. Alles andere wäre ohne diesen Faden ein Rückfall noch hinter den, nun antiquierten historischen Materialis- mus. Es ist kein Ruhmesblatt der bürgerlichen Wissens- maschinerie, daß nach dem historischen Materialismus nur noch, bildlich gesagt, Provinz zu Wort kam. Der überall angetretene Positivismus kann darüber nicht hinweg helfen. Dort, wo Literatur dem historischen Kontinuum partiell entragt, in großer Dichtung und in zentralen natur- wissenschaftlichen Aufsätzen, bleibt sie doch in den gesellschaftlichen Kontex eingebunden. Die Einordnung der Artefakte in ihre Epoche gelingt denn auch mühelos.
Mit der Entwicklung mobiler Gesellschaftsformen, sichtbar in den aufkommenden Städten der Antike, wird Literatur auch zum Ausdruck menschlichen Selbstbewußtseins und Emanzipation. Die frühen Wissenschaften tragen diese Doppelheit von Überlebenswerkzeug und emanzipiertem Bewußtsein in sich. In der Philosophie finden sich die Reste der Göttermythen neben rationalen Weltanschauungen, in den technischen Wissenschaften steht spekulative Mathematik neben berechneten Wurfmaschinen. Ähnlich verhielt es sich bereits mit der noch schriftlosen Sprache als Vorstufe der Literatur: Einerseits Mittel zur Veständigung bei Krieg und Jagd, andererseits priesterliches Herrschaftsmittel mit den Beschwörungsformeln der Riten. Nebeneinander erwachsen die sich reproduzierenden Traditionen hier und die Traumbilder von etwas Neuem dort. Literatur beginnt in frühester Zeit die Wendung gegen sich selbst, die allen kulturellen Strebungen immanent ist und ihren Gipfel in der Doppelheit von potentieller Freiheit und potentieller atomarer Apokalypse findet.
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Die Literatur der Gegenwart ist gekennzeichnet durch ihre arbeitsteilige Fragmentierung in die veschiedensten Ausdrucksformen, in Genre, in Wissenschaften, Kunst Medien usw. ohne daß ihre Wirksamkeit und Wirklichkeit auch nur annähernd mit ihrem Erscheinungsbild übereinstimmen müßte. Manches wissenschaftliche Expose ist pure Ideologie und von hochmögenden Gönnern in Auftrag gegeben, und dabei pardoxerweise in der Aussage nicht stets unwahr. Andere, bewußt politisch motovierte Publikationen sind ungewollt rein aufklärender Natur, obwohl sie gerade dahingehend nicht intendiert waren. Die Veröffentlichungen der eigentlich geheimen Aussagen des Amerikanischen Präsidenten Bill Clinton vor dem Sonderausschuß zur Sache Lewinski gehören dahin. Sie haben mehr zur ungewollten Aufklärung über die Verkrustungen gesellschaftlicher Sexualmoral beigetragen als eine Vielzahl psychologischer Veröffentlichungen seit Freud. Das steckt hinter dem stehend dargebrachten Beifall der UNO Vollversammlung für Clinton, während zeitgleich die Vernehmungsvideos über Großbildschirme gezeigt wurden. Literatur, letztlich die Waffe der List, schlägt unbe- rechenbare Kapriolen mit ihrer verborgenen Dialektik. Auch vor der Literatur im heutigen verspießerten Wortsinne, den Kunstgattungen, macht diese Dialektik nicht halt. Tonnenweise vertriebene Bestseller fallen dem Vergessen anheim während gänzlich unbekannte Publikationen von verborgenen Liebhabern gesammelt und zuweilen eigenhändig abgeschrieben werden, wie dies vor nicht allzulanger Zeit hinter dem "Eisernen Vorhang" geschah. Insofern dreht sich, nach Nietzsches Worten, die Welt in unsichtbaren Angeln. Dies aber wird verkannt oder unterliegt Fehleinschätzungen. Nicht zuletzt deshalb, weil der Kampf um Überleben und Übermacht in seinem unfassenden Kontex, in dem Literatur nur ein Segment bildet, selten bedacht wird. Literatur als Bewaffnung ist Fortsetzung der Sprache als Bewaffnung, diese verwirkt mit dem sozialen Geflecht, welches seinerseits Vorläufer sprachlicher Gemeinschaften bildet. Darunter liegen die älteren biologischen Systeme, in erster Linie die Vermehrung und Sexualiät. Alle diese Erhaltungssysteme wirken fort, werden jedoch von den jüngeren überlagert und manchmal außer Kraft gesetzt.
Der ägyptische Monotheismus, dem Echnaton zum Durchbruch verhalf, ist Sieg der Literatur über ältere soziale Systeme. Die Entmachtung der Vielgötterwelt ist der geistige Reflex auf die Entmachtung der Clans zugunsten des Königshauses. Dieses aber steht an der Spitze dank der Überlegenheit einer neuen literarischen Welt. Die damals modernste Verwaltung der Welt im "alten Reich" Ägyptens war nur möglich durch hoch entwickelte Literatur. War bereits die Begründung steinzeitlicher Stämme die endgültige Ablösung der Vormacht biologischer Erhaltungs- mechanismen durch soziale, sprachlich gestützte Gemeinschaften, so tritt in der literarischen Epoche das niedergelegte Wissen vollends an die Stelle urwüchsiger Selektionsmechanismen. Allerdings um den Preis der Selbstvernichtung. Der entmachtete Sexual- und Vermehrungstrieb, manifest in dem Tabu der Viel- männerei, die den Schimpansen noch selbstverständlich ist, kehrt in den Sublimierungen sich gegen sich selbst. Die geistigen Spitzen antiker Gesellschaften bleiben kinder- arm und verschwinden letztlich durch Aussterben. Mit ihnen verschwindet auch der literarisch gestützte Überbau,- interessant ist, ob sich dieses Schauspiel wiederholen wird.
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Der Vorläufer der Literatur, die mündliche, oft im Ritual eingebundene Überlieferung muß einmal betrachtet werden, um die Wirkungen frühester Bücher zu verstehen. Alexander Tollmann hat in seinen Untersuchungen über die Sintflut darauf hin gewiesen, daß die Genesis im alten Testament, die die Weltentstehung erzählt, tatsächlich die Tage nach der Sintflut, die durch einen Kometeneinschlag erzeugt wurde, physikalisch präzise beschreibt. Die Ausdruckskraft der Bibel ist durch ihre Anknüpfung an die jahrtausende währenden mündlichen Überlieferungen von der Sintflut begründet. Reste der mündlichen Überlieferungen fanden sich noch bei den Urvölkern Amerikas und Australiens, bevor Europäer ihre Kulturen verdrängten. Eine ähnliche Wirkung erzeugt die Sintflutüberlieferung auch bei den noch älteren ägyptischen Inschriften, die Kurt Sethe um 1900 zusammengetragen und übersetzt hat. Rückblickend zeigt die mündliche Überlieferung sich langlebiger als die schriftliche. Allerdings ist letztere über begrenzte Zeiträume gesehen exakter.
Diese frühen Bücher, oft Geschichtsschreibung, Sitten- und Gesetzeskodex, rudimentäre Naturwissenschaft, Prophetie und Kunstwerk in einem, sollen das ephemere Einzelwesen überdauern und die nachfolgenden Generationen nach dem Bild der alten formen und lenken. Sie stehen in gleicher Funktion nebem dem Schwert und dem Bogen, den der Vater auf den Sohn vererbt und dieser wieder auf seinen Nachkommen.
Die Welt der Signale bei der Jagd, einer der Vorläufer späterer Sprachwelten, erzeugt neben dem Erfolg oder Mißerfolg Verknüpfungen von Vorstellungen, die einer neuen, ihnen inneliegenden Logik gehorchen. Es entsteht rudimentär eine neue Welt, die mit der älteren sich verwirkt. Der Logik von Signalen und Wirklichkeit zu gehorchen, war eine Frage von Leben und Tod. Deshalb haben die ersten Sprachen das ungeheure Gewicht, welches in den magischen Ritualen nachglimmt. Aber die sich entwickelnde Logik der Signale und später der Sprachwelt, bleibt nicht deckungsgleich mit den traditionellen Gegebenheiten der sozialen Lebensformen. Der Priester und der Häuptling setzen List und Anmaßung ein und haben Erfolg damit. Diese Macht der List in der Sprache kommt aus der Bedeutung der Welt ursprünglicher Signale. Ihnen zu vertrauen, war zum Überleben notwendig. Der Stein- zeitmensch vertraut den Worten von Häuptlingen und Priestern. Der Häuptling legitimiert sich mit den Erfolgen bei Jagd und Krieg, der Priester mit den Erfindungen seiner geistigen Projektionen, die er geschickt mit Naturereignissen und Katastrophen usw. verknüpft.
Die archaische Wirklichkeit verwandelt sich durch den Einfluß der Signale und der Sprache zu einer Welt des Bewußtseins. In der Empfindung ein Ich zu sein, wird erstmals das bloße Aufgehen in die Umwelt unterbrochen, eine subjektive Welt tritt der objektiven gegenüber. Hier beginnt, was in der späteren Philosophie Subjekt und Objekt genannt wird, im Bewußtsein zu entstehen.
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Der Werkzeugcharakter der Sprache und der Literatur ist in den frühen Anweisungen zur Kriegführung, Erziehung, Medizin usw. deutlich sichtbar. Der Werkzeugcharakter der erzählenden Literatur ist nicht immer offensichtlich und der phantastischen sogar verdeckt. Gerade aber die letzteren Formen sind von besonderem Interesse, da sie die psychologischen und ideellen Voraussetzungen schaffen für die großen Entwicklungssprünge der Menschheit. Nietzsche hat einmal bemerkt, das Christentum habe mit seinen religiösen Spitzfindigkeiten zur Entwicklung der wissenschaftlichen Methoden beigetragen. Die religiöse Suche nach Wahrheit wurde zur Suche nach wahren Zusammen- hängen. Die Phantasien der Priester erzeugten Wünsche nach besseren Welten und zugleich den Widerspruch des Verstandes, der den Trug dieser Phantasmen durchschaute. Aber dem folgte in der Regel nicht ein einfaches Ablassen vom phantastischen Bild, sondern oft der Ehrgeiz, durch eigene Arbeit am Material das Gewünschte zu erzeugen. Die Mondphantasien des Cirano stehen in einem inneren und zwingenden Zusammenhang mit der Mondlandung 1969, ohne jenen nicht diese. Es ist dabei völlig unbedeutend ob die heutigen Mondfahrer den Cirano kennen. Die Wirkung der Phantasie ist eine doppelte: Sie stellt das Tabu und die Tradition in Frage und erschafft Bilder, die zu Zielrichtungen des erfinderischen Geistes werden. Es ist eine jener unsichtbaren Angeln, in denen die Welt sich dreht, von denen Nietzsche sprach. Wie der geistige, phantastische Vorläufer aussah, der Kolumbus beflügelte, ist unbekannt. Aber die Verborgenheit eines Zusamnmenhangs mindert nicht seine Stringenz.
Nach fast einhelliger Auffassung der Anthropologen hat das menschliche Gehirn vor etwa 10 000 Jahren seine heute verbreitete Größe erworben. Dies läßt die Vermutung zu, daß bereits vor 10 000 Jahren Literatur existierte oder aber, falls keine Literatur existierte, die Sprach- welt bereits derart komplex und hoch entwickelt war, daß sie des heute verbreiteten Gehirns bedurfte. Das Vorderhirn ist weitgehend von der Bindung an Körper- regionen und Funktionen befreit. Es könnte zum freien Denken verwendet werden. Seit der Entwicklung der Computer bieten sich Analogien an. Die Speichermodule sind ebenfalls frei und werden temporär genutzt. Ein direkter Zusammenhang zwischen freier Gehirnkapazität und phantastischen Leistungen ist anzunehmen. Tieren ist dies nicht oder nur sehr unentwickelt gegeben.
Der vor 10 000 Jahren erfolgte Kometeneinschlag, der fast die gesammte Menschheit ausrottete, erlaubt zur Zeit keine Antwort auf die Frage, ob es Literatur gab oder eine komplexe literaturlose Sprache. Sollte die durch Platon überlieferte Atlantislegende eine historische Tatsache sein, so wäre mit einer Literatur vor dem Impakt zu rechnen.
Die Entstehung einer phantastischen Welt läßt sich historisch erstmals bei den Ägyptern des alten Reiches beobachten. Der verstorbene Pharao geht ein ins Reich der Toten und besucht täglich als Sonne die Welt der Sterblichen. Um sich her hat er die Götterwelt versammelt, einen göttlichen Hof- staat in einer göttlichen Welt. Ob der phantastische Charakter dieser Welt den Pharaonen bewußt war, derart, wie heute die "Wirklichkeit" von Phantasien geschieden wird, ist zu bezweifeln. Denn auch und gerade die Wirklichkeit ist phantastisch und nicht anders konstruiert als jede Phantasie. Dies ist leicht nachzuvollziehen, wenn man sich die Mühe macht, in die Welt etwa des 17. Jahrhunderts sich einzufühlen. Ein Auto, eine Eisenbahn, ein Flugzeug sind aus der Sicht jenes Jahrhunderts etwas vollkommen Phantastisches. Es ist die Gewohnheit, die den Charakter des Phantastischen über- lagert. Das Phantastische im banalen und flachen Sinn ist jenes offensichtlich Unmachbare, das auch bei gröbster Betrachtung sich entlarvt. Aber dahinter steckt dann doch etwas gar nicht Phantastisches, meist ein Klischee, wie es in den Sience Fiction Filmen bis zum Ermüden dargebracht wird.
Die These, das Wirkliche ist phantastisch, ist zu entfalten: Die Welt der Sprache ist nicht ein Spiegelbild der "Wirklichkeit". Keiner der Begriffe ist "Wirklichkeit". Aber die Simulation von Abläufen im Gehirn, geleistet durch Verknüpfungen zwischen Begriffen und Vorstellungen und sensorischen Aktivitäten und Rückkopplungen, erlaubt erfolgreiches Handeln. Dieses erbringt in der Regel einen produktiven Schritt, der wiederum nicht eine Einheit zwischen Vorstellungen und "Wirklichkeit" stiftet, sondern für "Wirklichkeit" gehalten und so definiert wird. Dies ist keinesfalls dasselbe wie "Wirklichkeit" zu sein. Die in den Definitionen "harmonisierten" Formen behalten ihr Eigenleben und bereiten manche spätere Überraschung. Hier liegt der grundsätzliche Unterschied zwischen der Welt der Tiere und der Menschen. Das vorsprachliche Leben ist eingebettet in die Umweltabläufe, die Vorstellungen schmiegen sich ihnen an, Widerstand ist kaum denkbar. Noch die frühen, bereits sprachlichen Kulturen zeigen diese Anpassung an die Natur. So betet der Eingeborene zu seinen Göttern um Regen zu erhalten. Ein Steinschlag gilt als göttlicher Fingerzeig. Die Götterwelt ist wohl schon Teil einer phantastischen Welt, aber die Unterordnung unter die Abläufe der Natur entspringt den älteren Lebensstufen. Die Produktion einer "Innenwelt", zum bedeutendsten Teil geleistet durch Sprache und später auch Literatur, ist eine Überformung der älteren "Gefühlswelt", die sich stets unterordnet. Es entsteht ein "Zentrum" im Einzelnen, welches sich auch der Natur widersetzt, indem er sich als eigenständig definiert gegenüber jener. Dieses Zentrum ist nur scheinbar individuell, nur scheinbar ein "Ich", denn sein es konstituierendes Interieur ist vorwiegend sprachlicher Art. Sprache aber ist das Werkzeug einer sozialen Einheit, sei es Clan, Stamm oder Staat und ohne diese nicht entstanden und denkbar.
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Literatur ermöglicht eine objektive Unterteilung der wahrgenommenen Welt in Ebenen der Bedeutung und Gültigkeit. Das, was immer wiederkehrt, ist realistisch. Die Beschreibung des Realistischen in der Erzählung, den wissenschaftlichen Analysen und Modellen rangiert auf oberster Ebene der Bedeutung, gestützt auf den Erfolg im sozialen Geflecht. Darin eingewoben ist jenes geglaubt Realistische, welches die Priester mit den Religionen vermitteln. Obwohl es phantastische Züge ent- hält, man denke an die Erlösungsvorstellungen, ist ihre Bedeutung in manchen Epochen und Völkern oft über der realistischen Literatur angesiedelt. Fortwährend differenziert der produktive Erfolg die Literatur. Längst ist Philosophie in dutzende von Wissenschaften aufgespalten. Literatur im engeren Wortsinn ist dem gefolgt und unter anderem auch in ihren erzählenden Bereichen wiederum differenziert worden. Leicht verführt jene Differenzierung zu dem Schluß, in ihr eine bündige Gewichtung für relevante gesell- schaftliche Aufgaben zu haben. Der Mathematikunterricht hat heute eine Bedeutung in den Schulen, die nicht dem derzeitigen Stand des Bedarfs entspricht, sondern eher dem der frühen Industrialisierung, wo es an mathematisch ge- schulten Fachkräften mangelte. Der bis in die jüngste Gegenwart hineingeschleppte obligatorische Latein- unterricht bekam sein Gewicht in den spätmittel- alterlichen Klosterschulen, als ein einheitliches Deutsch noch nicht in Sicht war. Dergleichen läßt sich fortsetzen. Dabei liegt das Grundproblem nicht allein in der Aufteilung der Unterrichtsstunden, sondern in der Abwesenheit brauchbarer Didaktik. Wenn man sieht wie die mühsam den Schülern eingetrichterte Differentialrechnung ein halbes Jahr nach dem Abitur nicht mehr beherrscht wird und die Vokabeln zur Hälfte bereits vergessen sind, wenn vom Fachwissen in Biologie und Chemie nurmehr Bruchstücke erinnert werden, die weniger Anwendungswert besitzen als ein gut beherrschtes Wissen auf einfacherer Stufe, so fragt man sich, was das bedeuten soll. Verhindert wird mit dieser verfehlten Schulbildung und Stoffgewichtung die Unterrichtung dringend benötigter Stoffe und Inhalte. Lebenswichtige Kenntnisse im Umgang mit Menschen und Familie, die früher im sozialen Kontex automatisch erlernt wurden, sind heute nicht mehr erlernbar. Dort müßte sinnvoller Unterricht einsetzen, aber es geschieht da wenig und mit verkehrten Mitteln. Die stiefmütterliche Darbietung von, meist unter- qualifiziertem Geschichtsunterricht, trug nicht unwesentlich dazu bei, daß nach dem Zerfall der napoleonischen Ansätze zu einem zentralistischen Europa noch weitere Kriege geführt wurden. Bismarck hat Wilhelm dem Zweiten einen für Deutschland verhängnisvollen Krieg prophezeit, und ein relativ unpolitischer Künstler wie Dali sah 1939 bereits das Ende des zweiten Weltkrieges so voraus, wie es eintrat. Im tieferen Sinne ist dieses Versagen der Erziehung auch ein Versagen der Literatur, sowohl der historischen im engeren Sinne als auch der allgemein bildenden, innerhalb derer die erzählende sehr unterschätzt wird.
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Die Epen Homers schildern die Entstehung des Individuums, welches es wagt sich der Natur, den Göttern und Menschen entgegen zu stellen. Odysseus widersteht den Gewalten der Natur, aber auch den eigenen Triebkräften. Den Verführungen der Sirenen und der Kirke unterliegt er nicht. Hier am Beginn der uns überlieferten Literatur wird das Prinzip der Individuation beschrieben und gefördert, die Macht des traditinellen Kontex gebrochen. Diese Tendenz hat Literatur immer wieder verfolgt und zuletzt in Sartres Existenzialismus auf die Spitze getrieben. Aber bei Sartre kippt die Fürsprache fürs Individuelle um. In seinen Romanen, wird nach Adornos Worten das Gegenteil seiner Intentionen nachgewiesen. Nicht Freiheit der Entscheidung bringt die Helden in "Die Fliegen" dazu nach ihrem Aufenthalt im Himmel erneut auf der Erde alles so zu machen wie im ersten Leben, sondern die verinnerlichte Struktur einer unfreien Gesellschaft. Literatur war stets Beides: Organon der Emanzipation und ideologisches Werkzeug der Anpassung. Viele Werke sind von Beidem etwas. Versäumt ist aber in der Literatur die Formulierung realistischer Utopie, von wenigen Aus- nahmen und Ansätzen abgesehen. Dieses ist weder Folge eilfertiger Anpassung, noch Unvermögen. Vielmehr ist es die Beschaffenheit der Sprache und ihrer Literatur selbst, die sich strukturell sperrt. Das Bild der Schildkröte, die einen Panzer sich entwickelt und den Selektionsprozeß besteht und damit zugleich beinahe bewegungslos wird, ist auf Literatur zu übertragen. Die Zivilisationsschäden sind nicht etwas Überflüssiges und Vermeidbares sondern Ausdruck des ganzen Prozesses selbst. Ohne Panzer kein Schutz und ohne Schutz kein Über- leben.
Sprache definiert und scheidet von sich ab, was der Definition entragt. In der Anordnung der Sätze, in der Komposition des Textes ward versucht, diese Richtung umzukehren. Dem Nichtidentischen, nach Adornos großer Anstrengung so Entwickelten, sich zuzuwenden und es gleichsam ins menschliche Leben zurück zu holen, galten die Untersuchungen der Aufklärung und die Experimente der Moderne. Zuletzt hat Krishnamurti den Versuch unternommen, mit an Psycho- therapie erinnernden Methoden, den zivilasatorischen Panzer des Bewußtseins aufzubrechen. Seine Methode ist einfach und genial: Das Bewußtsein soll sich aufmerksam von jeder Aufmerksamkeit abwenden, sich versenken in das Nahe und Kleinste und ähnlich wie in der "reinen Anschauung" Schopenhauers sich befreien. Jedoch erwacht der Einzelne aus diesen Zuständen und findet sich wieder in dem, wovon er sich abzulösen bemühte. Einen ähnlichen Weg versuchte Buddha, und die weite und langlebige Verbreitung des Buddhismus spricht für die Ausstrahlung solcher Bemühungen. Das Scheitern aber ist ihnen so gewiß wie die Langeweile dem bequem Angepaßten. Zu erkennen ist, daß Sprache alle menschlichen Bezüge und Regungen sich integriert, sie funktionalisiert und dem historischen Prozeß einverleibt. Tabula Rasa entmachtet ihn so wenig, wie der Rausch die Welt verändert, der er entfliehen helfen möchte. Die Welt der Vorstellung, die wesentlich eine der Sprache und Literatur ist, hat nicht nur urwüchsige und keineswegs nur geliebte Urzustände abgelöst, sondern sie in umge- wandelter Form in sich aufgesogen. Wesentliche Kategorien wie die der Vermittlung, der Erkenntnis, der Zielrichtung und des Lebensfähigen, um nur einige zu nennen, sind zu erhalten und rückzuübersetzen in ihre eigenen Beschränkungen. Das Individuum braucht wie jedes Gemeinwesen Ziele und auch die Fähigkeit neben und über ihnen sich selbst zu leben. Etwas dieser utopische Richtung enthielt der frühe Marxismus bevor er zugunsten des ökonomisch Machbaren zur politischen Ideologie degenerierte. Engels hat vergeblich versucht, diese Entwicklung, für die der Marx des Kapitals steht, abzufangen.
Propagiert wurde vom Sozialismus die Veränderung der Gesell- schaft und polemisch gegen die Veränderung der Menschen ausgespielt. Letztere sei pure Ideologie des absterbenden Bürgertums. Am Ende stand die Entrechtung der Besitzenden und der totalitäre Staat, von dem Adorno sagte, er sei ein Hohn auf alles, was einmal über das Verhältnis zwischen Einzelnem und Gemeinwesen fundiert gedacht worden sei. Der bürgerliche Reflex auf diesen Crash der Utopien war Erleichterung und Verzicht auf jede auch nur strategisch zu nennende Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen. So sehr der Eigentumsbegriff ein Pfeiler der Zivilisation ist, so ist doch auch der Rekurs auf die wundersame Kraft der Märkte Kapitulation vor den Aufgaben der näheren Zukunft.
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Die Frage der Bedeutung von Literatur entzündet sich daran, was sie bewegen kann. Die Fachliteratur erscheint dieser Fragestellung enthoben. Konstruktionszeichnungen von Maschinen beweisen durch ihre gelungene Realisierung ihre Bedeutung. Dies ist ein Trugschluß. Die Tatsache, daß eine mechanische Wassermühle der Antike wie ebenso eine moderne Wasserversorgung mit elektrischen Punmpen innerhalb von Diktaturen nicht anders arbeiten als in demokratischen Gemeinwesen, verweist auf eine gewisse Insuffiziens. Langfristig verändern die Technologien die Welt, aber in einer Breite, die verschiedene Entwicklungen der Gesellschaft zuläßt. Bedeutend für den konkreten gesellschaftlichen Gang in der Geschichte sind die psychologisch und sozial wirksamen Aufzeichnungen. Dahin gehören sämtliche den Sittenkodex betreffenden Texte, Gesetzesbücher, Verwaltungsstrukturen, Lehrbücher in den Schulen, Erzählungen usw. In minderem Maße auch die entsprechende Fachliteratur. Der Marxismus hat, wie die bürgerliche Ideologie, deren Ableger er ist, auf die materiale Basis verwiesen und im Verein mit der latenten Geistfeindschaft frohlockt, daß die Worte nicht an die Bedeutung des Portemonais heranreichen. Das ist nicht nur Ausfluß des urbürgerlichen Ressentiments gegen den abgeschafften Adel und jede Aristokratie des Geistes sondern auch berechtigt. Der niedergehende Adel Europas hatte längst vor den bürgerlichen Revolutionen in den Fragen geistiger Ent- wicklungen resigniert und der Aufklärung sich innerlich nie befreunden können. Wie jedoch jedes Extrem wiederum durch ein Extrem abgelöst wird, ist auch das Pochen auf wirtschaftliche Basis so verkehrt wie ehedem aufs blaue Blut.
Die Kolonisierung der Welt durch Europa, die in ihren verdeckten Formen noch immer am Werke ist, basiert nicht allein und nicht unmittelbar auf der christlichen Missionsidee oder anderen ideologischen Komponenten sondern entstammt einer sozusagen ungeschriebenen Literatur, die sich als diffuses aber doch auch bündiges System von Bewußtseinshaltungen und Meinungen, Triebstruktur und Bildungsbackground durchgesetzt hat. Die Bedeutung dieses Sytems kann nicht hoch genug angesetzt werden. Aber es ist mehr als nur die Geister, die der Zauberlehrling rief und nicht mehr los ward. Der Mensch ist, nach Adornos Worten, zu seiner Ideologie geworden. Oder wie Nietzsche im gleichen Sinne sagt, was immer geschauspielert werde, würde letztlich den Charakter zu dem machen, was er vor- spielt. Abgesehen von der ökonomischen gesellschaftlichen Basis, die in gut verwalteten Zeiten Überbauprobleme mit ihrer allgegenwärtigen Perfektion zudeckt, macht die Insuffiziens des Bewußtseins in wesentlichen Fragen der Menschheit anfällig für alle Formen von Rückfällen in unaufgeklärtes Denken. Nach den Nationalitätshysterien treten nun nach- einander ökologische Weltuntergangshysterien, an Verwaltungs- akten sich entzündende Phobien vor dem imaginärem "großen Bruder" Orwells und andere Rudimente ehemaliger Massenpsychosen auf den Plan. Was daraus werden könnte, wenn der Versorgungsapparat kolabiert, erinnert mich an die wüstesten Alpträume. Dennoch ist die Rede von den verloren gegangenen "Werten", die aus konservativen Lagern immergleich zu hören ist, selbst nicht unerheblich am Dilemma des Bewußtseins beteiligt. Alles was irgend für die junge Generation von Interesse ist, wird mit Geboten und Verboten überladen, sodaß verständlicher- weise der Trotz zur beherrschenden Regung aufgeklärter junger Leute und ihrer Mitläufer geworden ist. Nicht ungestraft wird jegliches literarische Potential, das irgend sozial brauchbar ist, egoistischen oder ökonomischen Zwecken untergeordnet. Der Glaubwürdigkeitsverlust aller Traditionen rührt, lax gesagt her aus dem "Klüngel".
Friedrich der Große steht als Aufklärer einsam und relativ unbekannt in der literarischen Landschaft. Oberflächliche Betrachtung vermeint in seinem "Antimachiavell" nur eine Spielart von Moralphilosophie zu finden. Die Hart- näckigkeit, mit der seine Werke im deutschen Bildungs- wesen totgeschwiegen werden, erinnert an den verstockten Ladendieb, der selbst vor 20 Augenzeugen leugnet. Friedrich hat darüber geklagt, daß es unter den Lehrern nur so wenig gute gäbe, das verzeiht der Bildungsbürger nie. Er hat davon gesprochen, daß verborgene Talente oft nie entdeckt werden. Welch ein unerhörter Angriff auf das was als geistige Elite sich definert... Dergleichen könnte fortgesetzt werden. Friedrich der Große hat als einer der seltensten Geister, die Europa hervorgebracht hat, den Versuch unternommen eine Moral außerhalb der süßsaueren abend- ländischen Traditionen zu entwickeln. Dabei ist er rein zufällig einer zukünftigen Business-Generation in die Quere gekommen, deren Götzen er geschmäht hat:
"Ihr Toren, die der falsche Glanz Flüchtigen Erdenguts betört, Die ihr dem goldnen Götzen ganz, Dem Herzverderber, angehört! Für wen denn schafft ihr? Häuft ihr, rafft ihr? Im flücht`gen Weltvorüberwallen, Flüchtig wie Lenz und Blütenfallen! O kindisch Wähnen, Wert der Tränen: Was wird von all den Herrlichkeiten Euch niederwärts begleiten?..." aus: Friedrich der Große "An Maupertius"
Das Buch "Der Fürst" von Machiavell beschreibt Erfolge von groß angelegter List, Betrug usw. Historisch belegbar sind diese Erfolge etwa bei Cäsars Vorgehen gegen die Tenktrerer in Gallien, deren Häuptlinge er hinterrücks ermorden ließ, die sich im Vertrauen auf sein Wort bei ihm eingefunden hatten. Ohne Zweifel war machiavellsches Vorgehen häufig erfolgreich. Unzählige eingeborene Völker- schaften sind mit List, Mord usw. von europäischen Ein- wanderern beseitigt worden. In der tieferen Schicht machiavellschen Denkens steckt eine technokratische Philosophie, die keineswegs seine Propheten ungeschoren läßt. Dies hat Friedrich der Große erkannt. Sein Anti- Machiavell beschreibt die Parameter funktionierender Sozialität. Die letzten zwei Jahrhunderte politischer Entwicklungen haben ihm Recht gegeben.
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Die Sexualität hat in der Geschichte, vielleicht aber noch mehr in vorgeschichtlichen Epochen Wandlungen durchgemacht, die im wahrsten Sinne alles umwerteten, was mit ihr irgend zusammen hängt. Unzählige Publikationen religiösen und halbreligiösen Tenors haben Sexualität verunglimpft und verteufelt. In Reaktion darauf entstanden Satanskulte, die Perversionen eines de Sade, aufklärende Schriften und wissenschaftliche Experimente. Paralell dazu wurde in kleinsten Nischen Sexualität kultiviert oder exzessiv ge- lebt. Heute stehen an den Rändern dieser Auseinandersetzung animierende Produkte der sogenannten Pornografie, ihre kriminellen Steigerungen und unverdrossener Eifer von Moral- verfechtern. Dabei sind Gängelung der Sexualität und ihre Entfaltung zu fast artistischen Höhen nebeneinander entstanden. Das romantische und immer wieder aufgewärmte Ideal einer vor- zivilisatorischen freien Sexualität hält der Forschung nicht stand. Sexualität ist in ihren hohen Formen Kultur, Gedichten und Kompositionen vergleichbar. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß Tiere keine Sexualität im menschlichen Sinne kennen. Sie ist im Tierreich Beiwerk der Kopulation. Auch dort mögen Ausnahmen zu finden sein. Die Primaten haben ja auf vielen Ebenen so etwas wie Kultivierung vorweggenommen. Literatur ist dem Zeitlauf gemäß vorwiegend antisexuell ge- prägt, aber oberflächlich erotisiert. Der Begriff der Liebe ist ihr zentral. Er entstand in seiner heutigen Form im Minnegesang als Kompensation für die ihren Frauen abhanden gekommenen Kreuzritter. Die Sehnsucht tritt an die Stelle der Erfüllung. Konsequenterweise enden die leichteren Liebes- geschichten der verschiedenen Genre damit, daß die Liebenden sich finden und Hochzeitsglocken läuten. Die oft erst danach entstehenden Schwierigkeiten, die heute an den Scheidungs- raten zu ahnen sind, werden ausgeblendet. Der bürgerliche Roman in seiner jüngeren psychologisch aufbereiteten Variante schildert in den Dreiecksdramen, Eifersuchtstragödien usw. den Fortgang der Geschichten nach ihrem Happy End. Kunstgewerbliche Importe, wie das indische Kama Sutra sind kleine harmlose Farbtupfer auf einer eingegilbten literarischen Landschaft. Die auf schlichten Voyarismus zu- gerüstete sexuelle Literatur, oberflächlich im Sujet und im Grunde ebenso antisexuell wie die "seriöse", beherrscht den Konsumentenmarkt, jede tiefer reichende würde nicht verstanden, - zu weit ist die zivilisierte Gesellschaft von einer ins Leben integrierten sexuellen Kultur entfernt. Der Schein zeigt jedoch das Gegenteil. Die Film- und Fernsehproduktionen sind heute ohne hübsche, frei schwingende Brüste nicht mehr zu verkaufen. Vor den Fernsehern sitzen dazu die ins Appartement umgesiedelten Bruchstücke ehemaliger Familien oder dem, was einmal Familie werden wollte. Die Studentenbewegung der sechsziger Jahre strebte in einigen ihrer Fraktionen nach sexueller Befreiung. Aber sie reichte nicht tief genug in das Problemgeflecht hinein. Die Publikationen jener Zeit sind teils politisch doktrinär und tragen den Stempel ver- krampfter Unfreiheit. Teils sind sie, besonders in den Filmen, wie "Pourquoi pas" ein schönes Märchen, dessen Realisierung ausgeschlossen ist. Kampf um Sinnlichkeit folgt aus diesen Zusammenhängen. Die Ausdruckskraft der Villion Vorträge Kinskis ist ohne abendländische Sexualgeschichte undenkbar.
Unsichtbar verlaufen die Fronten zwischen vitalem und absterbendem Leben. Reichs Konstrukt vom "genitalen Charakter" wider die "emotionale Pest" meint vermutlich etwas Ähnliches wie Nietzsche mit seinen "Schlechtweggekommenen". Der Marxismus hat lebhaft sich bemüht diese Frontziehung mit dem Primat der Ökonomie zu zukleistern. Der Spruch: "Partisanen gibt es hüben wie drüben", der einmal für einen anderen Sachverhalt gesagt ward, trifft hier gewiß zu. Der amerikanische Film erzählt nicht selten Geschichten, in denen ein Reicher einem Gestrauchelten beisteht, selbst wenn dieser ihm geschadet hatte oder noch schaden wird. Die Idee des "Fair Play" in diesen Filmen heftet sich mit Vorliebe an solche unterschwellig im Einvernehmen stehende Gespanne, die oft sozial im Gegensatz stehen wie in dem Film "Trouble in Hollywood". Dahinter steht das Gespür dafür, daß jene Frontziehung, wenn auch nicht als eine dominante, so doch als eine reale für den vitalen Typus von Bedeutung ist. Großzügigkeit, wie Nietzsche an alten Patrizierfamilien Roms sie gewahrte, welche später etwa einen Goethe ermöglichte, gilt dem Vitalen von jenen, die mit dem Vitalen sympathisieren.
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Bedeutende Literatur kämpft um Freiheit, nachdem die Organisation des gesellschaftlichen Lebens in ihren Grund- zügen zuende gedacht ist. Dieser Kampf hat zwei Hauptfronten: Die eine ist der Weg ins Neue, Unbekannte und noch nicht Dagewesene. Hier ist die artistische Expression führend, wie sie in den Elegien von Rilke, Rimbaud und Nietzsches Zarathustra sich artikuliert. Die zweite ist die Be- freiung von alten und neuen Fesseln der Gesellschaft. Dahin gehören "Das Schloß" Kafkas, die Romane Henry Millers, die Gedichte von Günther Eich, Celan, und das "Heilige Jerusalem" Friedrich des Großen. Aber auch die Psychologie hat in den Ideen Wilhelm Reichs, - der leider mit seinem späteren Unsinn sehr geschadet hat - die Soziologie in Adorno, bedeutenden Anteil an Versuchen der Befreiung. Alle diese Versuche rufen die Reaktion auf den Plan, die mit den vielfältigsten Mitteln arbeitet. Grobe Methoden wie die Bücherverbrennungen durch Fanatiker aller Epochen werden ergänzt, besonders in friedlicheren Zeiten durch subtile Gängelungsversuche. Einer der wirksamsten ist die durch Massenbeeinflussung mit sogenannten Experten. Das Muster ist stets gleich: Vorgeblich fortschrittliche Formen werden den älteren als Nachfolger im Stil zugeordnet: Surrealismus, Dadaismus, folgt auf Expressionismus usw. Einteilungen in Klassik, Moderne, Impressionismus, Neue Wilde usw. werden zur Definition von Stilen herangezogen, allerdings erst nachdem ihre Brisanz sich durch Ablagerung verbraucht hat. Wer diesen Stilen nicht sich fügt oder mindestens "überholte" nicht vermeidet, gilt als hoffnungsloser Epigone oder Plagiator. So sehr auch im Versuch einer Stilbestimmung etwas Bündiges durchscheint,- manche Ausdrucksformen gehen nicht mehr,- ist sie doch letztlich unverholene Gängelung der noch nicht Angepaßten durch die Kulturmaschinerie. Gelegentlich schwemmt die Dynamik authentischer Expression, wie in den Beatles, kurzfristig das bedrückende Netz der Bevormundung beiseite. Längst aber werden die aus der Jugend kommenden Impulse kanalisiert, die Gruppen in kommerziellen Großlabors gezüchtet. Die Zeiten Liverpools sind vorbei. In der Buchliteratur behilft man sich durch einfache, aber ebenso wirksame Methoden: Gedruckt wird, was aus altväterlichem Erbe, zudem von Copyrightproblemen befreit, Einnahmen verspricht. An die Stelle neuer Texte treten neue Schutzumschläge. Wo der Trend etwas "neues" verlangt, wird aus amerikanischem Fundus importiert. Das kleinste Risiko bei größtmöglichem Gewinn ist die leitende literarische Maxime. Daher ist es fruchtlos, sich in die Literatur- kritik einzuschalten. In ihr gilt das ironische Wort: "Wo jeder Recht hat und alle Draußen Unrecht". Symptomatisch für den Zeitgeist sind verräterische Kleinig- keiten. In deutschen Lexikas werden die Barrikaden von Paris 1968 dokumentiert, die Barrikaden von Frankfurt 1967 finden sich darin nicht. Vergeblich sucht man in der verlegten Literatur frische, gewagte und unter die Haut gehende Experimente. Überalterung ist wie überall in der Gesellschaft tonangebend. Ein befreundeter junger Maler umriß diese Problematik mit dem Satz: "Und mit 47 bist Du dann ein junger Nachwuchskünstler".
Die Rückwärtsorientierung des Literaturbetriebs zeigt sich vielerorts. Experimente wie Bukowskis Schmuddeljargon, auf den sich die Studenten stürzten, als wäre es ein Lebenselexier, kamen aus den USA. Im deutschen Sprachraum waren Objekt- künstler wie Beuys und Drehbücher, wie in "Chapeau clack", Lichtblicke, die das sterile bundesrepublikanische Wohnzimmer ins Visier nahmen, nicht aber Bücher. Die Furcht um Einnahmeverluste aus nicht mehr überschaubaren Copyrightproblemen hat die Verlagsbranche zum ausdrücklichen Hemmklotz und Gegner des aufkommenden Internet gemacht. Aufschläge für Computerteile, die zur Vervielfältigung genutzt werden können, - gefürchtet sind die Musikraubkopien,- sind in Vorbereitung. Der Verdacht auf Nutzung begründet das Abkassieren. Über die internationalen Datenbahnen läuft nicht die Literatur, sondern die Werbebroschüre der Verlage. Während Organisationen wie die Nasa ihre millionen Dollar teuren Fotografien im Internet kostenlos verbreiten, sind Büchertexte im Netz die seltene Ausnahme.
Literatur ist potentielle unbekannte Welt und zugleich potentielle Erlösung von bedrückenden Zeiterscheinungen. Lao Tse hat mit seinem Tao Te King psychologische Alternativen zum Getriebe seiner Zeit entworfen: Nichttun an der Stelle des losgelassenen Tuns, Rücksicht an der Stelle des Egoismuses, der in seinen extremen Formen selbstzerstörerisch ist. Ähnlich wirkte Marc Aurel in seiner Epoche. Heute liegt die Bedeutung ebenfalls in psychologischen Alternativen zu den Mechanismen der Gegenwart. Der Markt wird allerdings beherrscht vom Kunstgewerbe: Antroposophie, Wunderkugeln, Esoterik usw. bieten harmlose Zerstreuung. Die vollständige Verwässerung der Psychoanalyse, der Abbruch ihrer Ent- wicklung in wissenschaftliche Bahnen hat dazu beigetragen. Die Gängelung der literarischen Kräfte beginnt im Kopf. Alles was vom mittleren Pfad möglichst unterhaltsamer Literatur abweicht ist tabuiert: erotische Literatur wird der Sparte Pornografie, politische dem Kommunismus oder anderen -ismen zugeordnet. Es hat alles im Rahmen der Schichten und Klassifizierungen zu verbleiben. Philosophische Literatur erstickt im Keim sich selbst, da die philosophischen Schulen ein Dickicht halbverdauter Problemstellungen hinterlassen haben und der akademische Fachbereich Nietzsches Kritik auch heute noch verdient. In der Regel stehen hinter den zeitge- nössischen Publikationen irgendwelche Schrullen, wie das Spekulieren über Darwinismus in den Gehirnvorgängen, Automatenmenschen oder aufgewärmte philosophische Ethik des erhobenen Zeigefingers. Alles erscheint schon dagewesen zu sein, alles erscheint unlösbar oder gelöst. Poppers Trivialpositivismus, der Vulgärmarxismus und Russels atomistische Philosophie reichen sich die Hände und erläutern achselzuckend, daß es mehr nicht zu denken gibt. Den Rest besorgen die Experten, die direkten Nachfolger der Seher, Scharlatane und Propheten, ergänzt durch die Abschaffung der Geisteswissenschaften zugunsten von Betriebs- wirtschaft und Informatik durch die Bürokratie. Die Unfrucht- barkeit der niedergehenden Geisteswissenschaften liegt nicht in der Sache sondern im administrativen Apparat, der die über Beziehungsklüngel geförderten Altstudenten im fort- geschrittenen Alter auf die Lehrstühle beruft. Der junge, auf einen Lehrstuhl in Basel berufene Nietzsche war und ist der Ausnahmefall, der wie stets die trostlose Regel bestätigt. Das Experiment Jugend, im Sport noch gewagt, da die alten Herren keine Rekorde erbringen können, ist in der Literatur völlig unbekannt...
Neue Welten in der Literatur entstehen nicht durch die Wortschöpfungen der Sience Fiktion- und Computersprache. Die in Phantasy und Sience Fiktion dargebotenen Storys sind altväterliche Muster mit frisch gestiltem Outfit. Das Unbekannte tritt fein und leise ins Bewußtsein. Daudet mit seinen scheinbar realen und doch letztlich entrückten Provincelandschaften vermittelt eine Ahnung von dem, was vielleicht werden könnte, wenn Empfindung sich veredeln würde. Die Verzweiflung des Lautréamont ist bei aller Bizarrheit durchtränkt von Schemen einer besseren Zukunft. Würde sein "Maldoror" heute geschrieben, wäre er nicht mehr zu veröffentlichen,- und vielleicht zu Recht, da er mißverstanden würde.
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Noch immer ist Literatur im Kern Bewaffnung, obwohl dies durch Raffinierung verschleiert ist. Dazu bedarf es eines kurzen Rückgriffs zum Ausgangspunkt der Sprache, den Signalen. Die Signale dienen der Verständigung bei der Jagd und am Lagerplatz. Sie führen zum Jagderfolg, und als Warnsignale ermöglichen sie die erfolgreiche Abwehr von Eindringlingen. Sie ermöglichen organisierte Jagd und organisierten Krieg. Aber mit dem Aufkommen der List, kommt ein weiterer Nutzen der Signale hinzu: Sie eignen sich zur Täuschung. Lärm täuscht ebenso wie Tier- masken einen kräftigeren Gegner vor. Daraus entwickeln die Frühmenschen die Rituale. Mit ihnen täuscht der Erzeuger der Signale sich selbst. Er macht sich Mut gegen widrige Witterung, wilde Tiere und Feinde. Er handelt mutiger und hat Erfolg damit. Die Täuschung wird durch den Erfolg überlagert und tritt nicht mehr als Selbsttäuschung ins Bewußtsein. Die Beobachtung des Sterbens anderer wird bei zunehmender Geistestätigkeit zur Antezipation des eigenen Todes. Wann diese Erfahrung zuerst gemacht wurde - ich weiß es nicht und Quellen dazu sind nicht bekannt. Die Folge dieser Erfahrung ist die Entwicklung von Kompensations- mechanismen im Ritual und in der Sprache, in der Religion und der Kunst, später in der Philosophie. Wer die Todesfurcht besiegt, ist so wie besser bewaffnet. Er jagt und kämpft erfolgreicher. Ein frühes typisches Werk solcher kompensierenden Philosophie ist das bereits erwähnte Buch von Lao Tse. Es vermittelt psychologischen Techniken, mit denen die Illusion von Schmerzlosigkeit, Unverwundbarkeit und langem Leben erzeugt werden kann. Es funktioniert wie der Großteil der Religionen u.a. durch Abhärtung mittels Vorstellungen und durch Abwendung von körperlicher Bedürftigkeit. Diese psychologischen Techniken, unter anderem Bedürfnislosigkeit, Geduld, Ruhe usw. sind die Anfänge einer religiösen Moral. Aber Elemente wie die Bestrafung für falsches Leben, Versprechungen auf ein Leben nach dem Leben fehlen bei Lao Tse noch. Sie sind aber rudimentär enthalten, denn der falsch Lebende wird als gefährdet dargestellt. Es ist verwandt der Gefährdung dessen, der sich durch Drogenkonsum gesundheitlich schadet.
Aufklärung lief der Entwicklung der Religionen paralell. Wahrscheinlich hat der frühe Handel den Völkern die Götter anderer Völker nahegebracht und die Begrenztheit der Religionen sichtbar gemacht. Die philosophische Schule Epikurs hat versucht, die Todesfurcht durch die Mittel des rationalen Denkens zu mildern. Der Lebende ist danach ohne Erfahrung des Todes, der Tote aber hat keine Erfahrung des Todes. also ist für den Epikuräer der Tod subjektiv nicht existent. Der Buddhismus arbeitet mit einem psychologisch raffinierten System. Aufbauend auf der seit vorbuddhistischen Zeiten in Indien verbreiteten Lehre von der Wiedergeburt in Menschen und Tierkörpern, zeigt er Erlösung durch endgültiges Ausscheiden aus dem Sansara, dem ewigen Lebenskreis. Nichtsein ist die höchste Form des Glücks. Da aber der untergründige Zweifel fortbesteht, ob das Nichts Erlösung ist, klammert die Hoffnung sich an die Möglichkeit der Wiedergeburt. So hat der Gläubige und nur halb Glaubende in jedem Falle einen Ausweg. Der erste Weg verheißt ewiges Glück, der zweite Wiedergeburt. Das Christentum operiert umgekehrt. Es verheißt Auferstehung und ewiges Leben der Person, der Zweifel daran nährt die Furcht vor dem Nichtsein. Es ist im Gegensatz zum Buddhismus furchterregend. Wahrscheinlich hat der Buddhismus deshalb so weite und langdauernde Verbreitung gefunden, während das Christentum sich früh zur politisch wirksamen, praktischen Morallehre säkularisierte. Die Furcht entsteht durch das was geglaubt wird, wenn der Zweifel aufkommt. Während der Buddhist beim Zweifel an Erlösung noch eine Chance in der Wiedergeburt findet, wartet auf den gläubigen Christen die Hölle, falls er gefehlt hatte, und beim Unglauben das Nichtsein, welches endgültig ist. Marc Aurel hat versucht, das Nichtsein durch eine tapfere römische Haltung erträglich zu machen. Die Kürze des einzelnen Lebens stellt er in seinen "Selbsbetrachtungen" der Ewigkeit des Nichtseins, die Bedeutungslosigkeit der Sinnengenüsse der veredelten Seele gegenüber.
Interessant ist die Frage, welche Literatur die Überlegenheit Europas bewirkt hat, und die weitere Frage, warum der Buddhismus weitgehend zugrunde ging. Beides hängt zusammen. Die Geschichte Japans, in der der Buddhismus bis heute weiter wirkt, zeigt, daß er ohne die hinduistisch-indische, extrem pazifistische Prägung ein wehrhaftes Volk stützt, während in Indien eine Zähmung und Wehrunfäigkeit sich ver- breitete, die den asiatischen Eindringlingen und dem Islam den Weg bereitete. Aber der japanische Buddhismus ist nicht von einer ständigen Anzweiflung begleitet wie das Christentum mit seinen Spitzfindigkeiten und Aufspaltungen in Konfessionen und Sekten. Gerade dieses könnte den Boden für die untraditio- nellen Denkweisen hervorgebracht haben, die die weltliche Philosophie und Wissenschaften förderten und die Erfindungen ermöglichte.
Ein weiterer Umstand dürfte das europäische Denken geprägt haben. Der Kampf zwischen weltlicher Legitimität und geistlicher Autorität hat die Bedeutung der Urkunden und Bücher begründet und gesteigert in einem weltweit erstmals erreichtem Ausmaß. Luthers Bibelübersetzung war ein Baustein der Verinnerlichung religiösen Denkens, welches die Verantwortung vor den kirchlichen Autoritäten verlagerte in das Gewissen des Einzelnen. Das berühmte lutherische: "Hier stehe ich und kann nicht anders", zeigt das neue zur Macht gekommene Prinzip individuellen Denkens.
Der Individualismus ist eine Erfindung der europäischen Neuzeit, vorbereitet durch die altgriechische Literatur und gipfelnd im Zarathustra Nietzsches und Remarques "Der Funke Leben", in welchem das Individuum auch über weltliche Gewalt triumphiert, nachdem es die geistliche bereits überwunden hatte.
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Adornos "Negative Dialektik" ist der vorläufige Endpunkt produktiver Erkenntnistheorie, die bereits publiziert ist. In wie weit nicht veröffentlichte Weiterentwicklungen existieren, entzieht sich meiner Kenntnis. Adorno hat mit der Dialektik Ernst gemacht, die bei Hegel formal bereits voll entwickelt, aber völlig im Traditionellen verhaftet ist und in zentralen Kategorien den Konsequenzen ausweicht. Die Antithese zur These des dialektischen Verfahrens setzt sämtliche Kategorien außer Kraft und hebt sie in der Synthese auf. Adorno hat dies auf das Erkenntnis- instrumentarium als Ganzes angewandt. Sprache und Begriffe definieren und scheiden nach seiner Einsicht das ihnen Inkommensurable aus. Bei fortschreitender Entwicklung des Erkenntnissystems wird das Inkommensurable und daher "Nichtidentische" zum Bodenlosen, welches den Begriffen den Boden entzieht und sie zum Prozeß auflöst. Dieser aber ist nicht der "Gang des Weltgeistes" eines Hegels, sondern negativ. Nicht nur als Prozeß bleibt er inkommensurabel der Erkenntnis sondern ist mit seinen administrativ und ökonomisch alles sich einverleibenden Strukturen wirklich negativ: akkumulierte historische Gewalt.
Die Konsequenz daraus ist in "Die Welt als Augenblick und Idee" F.Keil 1980 eine antithetische Konstruktion, die sämtliche objektiven Kategorien in ein subjektives zeitloses Moment hinein zurückverdichtet. Dieser "Augenblick", der sich im "Ich" realisiert wird zum "Urknall" der Entstehung des subjektiven Kosmos, der die Objektivität im "Nachhinein" entwickelt. Dieses Verfahren ist erkenntnistheoretisch nicht statt- haft, es ist reine Antithese, die sämtliche Kategorien erfaßt. Es stehen daher der äußerste Stand gesellschaftlich-philosophischer Theorie und die "subjektive Perspektive" der "Welt als Augenblick und Idee" unver- bunden nebeneinander. Ihre Synthese im lebenden "Ich" ist äußerlich, ein erkenntnistheoretisch nicht erlaubtes Gebilde. Der Verfasser dieser Theorie ist aber der Ansicht, daß nur in diesem unvermittelten Nebeneinander die Wahrheit über Vermittlung sichtbar wird: Daß sie als etwas, das erreicht werden kann Ideologie bleibt, mit allen Konsequenzen ideologischer, also fremdbestimmter Gewalt. Die "Negative Dialektik" erscheint als der wahrhaft negative Ausweg: Unterordnung unter die Spielregeln oktroierter Objektivität. Daher ist bei aller Gültigkeit der Analysen Adornos das von ihm formulierte Resultierende nicht akzeptabel. Nach seiner eigenen Kategorie des Nichtidentischen, ist es mit dem Definierten nicht zu versöhnen. Dies übersetzt in die "Subjektive Perspektive" heißt: Kampf des Einzelbewußtseins gegen das Allgemeine. Und obwohl in Jedem auch das Andere enthalten ist, verbindet es sich nicht nach Art von Legierungen sondern bleibt in tätiger Auseinandersetzung um Vormacht und Freiheit.
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