Fred Keil   Bemerkungen zur Literatur     Aachen April 2001
                                                       Nr.236

             1
             "Wenn das Schwert und der Geist aufeinander treffen,
             dann siegt der Geist." Napoleon
             Literatur ist weiter entwickeltes Schwert, weiter
             entwickelte Kriegsmaschine. Deshalb ist sie in die
             historische Kontinuität der Waffenentwicklung ein-
             gewoben, von ihr gefördert und sie fördernd und in
             einem, sie übergreifenden Zusammenhang. Dies verschafft
             dem stumpfen Darwinismus kein neues Feld. Ebenso ist
             nicht beabsichtigt Nietzsches Machtwillen als zentrale
             Kategorie zu beleben.
             Reflexionen zur Literatur müssen mit dieser Kontinuität
             einsetzen und sie wie ein roter Faden durchhalten.
             Alles andere wäre ohne diesen Faden ein Rückfall
             noch hinter den, nun antiquierten historischen Materialis-
             mus. Es ist kein Ruhmesblatt der bürgerlichen Wissens-
             maschinerie, daß nach dem historischen Materialismus
             nur noch, bildlich gesagt, Provinz zu Wort kam.
             Der überall angetretene Positivismus kann darüber
             nicht hinweg helfen.
             Dort, wo Literatur dem historischen Kontinuum partiell
             entragt, in großer Dichtung und in zentralen natur-
             wissenschaftlichen Aufsätzen, bleibt sie doch in den
             gesellschaftlichen Kontex eingebunden. Die Einordnung
             der Artefakte in ihre Epoche gelingt denn auch mühelos.
             Mit der Entwicklung mobiler Gesellschaftsformen, sichtbar
             in den aufkommenden Städten der Antike, wird Literatur
             auch zum Ausdruck menschlichen Selbstbewußtseins und
             Emanzipation. Die frühen Wissenschaften tragen diese
             Doppelheit von Überlebenswerkzeug und emanzipiertem
             Bewußtsein in sich. In der Philosophie finden sich die
             Reste der Göttermythen neben rationalen Weltanschauungen,
             in den technischen Wissenschaften steht spekulative Mathematik
             neben berechneten Wurfmaschinen.
             Ähnlich verhielt es sich bereits mit der noch schriftlosen
             Sprache als Vorstufe der Literatur: Einerseits Mittel
             zur Veständigung bei Krieg und Jagd, andererseits
             priesterliches Herrschaftsmittel mit den Beschwörungsformeln
             der Riten. Nebeneinander erwachsen die sich reproduzierenden
             Traditionen hier und die Traumbilder von etwas Neuem dort.
             Literatur beginnt in frühester Zeit die Wendung gegen sich
             selbst, die allen kulturellen Strebungen immanent ist und
             ihren Gipfel in der Doppelheit von potentieller Freiheit und
             potentieller atomarer Apokalypse findet.
             2
             Die Literatur der Gegenwart ist gekennzeichnet durch ihre
             arbeitsteilige Fragmentierung in die veschiedensten
             Ausdrucksformen, in Genre, in Wissenschaften, Kunst
             Medien usw. ohne daß ihre Wirksamkeit und Wirklichkeit
             auch nur annähernd mit ihrem Erscheinungsbild übereinstimmen
             müßte. Manches wissenschaftliche Expose ist pure Ideologie
             und von hochmögenden Gönnern in Auftrag gegeben, und dabei
             pardoxerweise in der Aussage nicht stets unwahr. Andere,
             bewußt politisch motovierte Publikationen sind ungewollt
             rein aufklärender Natur, obwohl sie gerade dahingehend nicht
             intendiert waren. Die Veröffentlichungen der eigentlich
             geheimen Aussagen des Amerikanischen Präsidenten Bill Clinton
             vor dem Sonderausschuß zur Sache Lewinski gehören dahin.
             Sie haben mehr zur ungewollten Aufklärung über die
             Verkrustungen gesellschaftlicher Sexualmoral beigetragen
             als eine Vielzahl psychologischer Veröffentlichungen seit
             Freud. Das steckt hinter dem stehend dargebrachten Beifall
             der UNO Vollversammlung für Clinton, während zeitgleich
             die Vernehmungsvideos über Großbildschirme gezeigt wurden.
             Literatur, letztlich die Waffe der List, schlägt unbe-
             rechenbare Kapriolen mit ihrer verborgenen Dialektik.
             Auch vor der Literatur im heutigen verspießerten Wortsinne,
             den Kunstgattungen, macht diese Dialektik nicht halt.
             Tonnenweise vertriebene Bestseller fallen dem Vergessen
             anheim während gänzlich unbekannte Publikationen von
             verborgenen Liebhabern gesammelt und zuweilen eigenhändig
             abgeschrieben werden, wie dies vor nicht allzulanger Zeit
             hinter dem "Eisernen Vorhang" geschah.
             Insofern dreht sich, nach Nietzsches Worten, die Welt in
             unsichtbaren Angeln.
             Dies aber wird verkannt oder unterliegt Fehleinschätzungen.
             Nicht zuletzt deshalb, weil der Kampf um Überleben und
             Übermacht in seinem unfassenden Kontex, in dem Literatur
             nur ein Segment bildet, selten bedacht wird.
             Literatur als Bewaffnung ist Fortsetzung der Sprache
             als Bewaffnung, diese verwirkt mit dem sozialen Geflecht,
             welches seinerseits Vorläufer sprachlicher Gemeinschaften
             bildet. Darunter liegen die älteren biologischen Systeme,
             in erster Linie die Vermehrung und Sexualiät.
             Alle diese Erhaltungssysteme wirken fort, werden jedoch
             von den jüngeren überlagert und manchmal außer Kraft gesetzt.
             Der ägyptische Monotheismus, dem Echnaton zum Durchbruch
             verhalf, ist Sieg der Literatur über ältere soziale
             Systeme. Die Entmachtung der Vielgötterwelt ist der
             geistige Reflex auf die Entmachtung der Clans zugunsten
             des Königshauses. Dieses aber steht an der Spitze dank
             der Überlegenheit einer neuen literarischen Welt.
             Die damals modernste Verwaltung der Welt im "alten Reich"
             Ägyptens war nur möglich durch hoch entwickelte Literatur.
             War bereits die Begründung steinzeitlicher Stämme die
             endgültige Ablösung der Vormacht biologischer Erhaltungs-
             mechanismen durch soziale, sprachlich gestützte
             Gemeinschaften, so tritt in der literarischen Epoche
             das niedergelegte Wissen vollends an die Stelle
             urwüchsiger Selektionsmechanismen. Allerdings um den
             Preis der Selbstvernichtung. Der entmachtete Sexual-
             und Vermehrungstrieb, manifest in dem Tabu der Viel-
             männerei, die den Schimpansen noch selbstverständlich ist,
             kehrt in den Sublimierungen sich gegen sich selbst.
             Die geistigen Spitzen antiker Gesellschaften bleiben kinder-
             arm und verschwinden letztlich durch Aussterben.
             Mit ihnen verschwindet auch der literarisch gestützte
             Überbau,- interessant ist, ob sich dieses Schauspiel
             wiederholen wird.
             3
             Der Vorläufer der Literatur, die mündliche, oft im Ritual
             eingebundene Überlieferung muß einmal betrachtet werden, um
             die Wirkungen frühester Bücher zu verstehen. Alexander
             Tollmann hat in seinen Untersuchungen über die Sintflut
             darauf hin gewiesen, daß die Genesis im alten Testament,
             die die Weltentstehung erzählt, tatsächlich die Tage nach
             der Sintflut, die durch einen Kometeneinschlag erzeugt wurde,
             physikalisch präzise beschreibt.
             Die Ausdruckskraft der Bibel ist durch ihre Anknüpfung an
             die jahrtausende währenden mündlichen Überlieferungen von
             der Sintflut begründet. Reste der mündlichen Überlieferungen
             fanden sich noch bei den Urvölkern Amerikas und Australiens,
             bevor Europäer ihre Kulturen verdrängten.
             Eine ähnliche Wirkung erzeugt die Sintflutüberlieferung
             auch bei den noch älteren ägyptischen Inschriften, die Kurt
             Sethe um 1900 zusammengetragen und übersetzt hat.
             Rückblickend zeigt die mündliche Überlieferung sich
             langlebiger als die schriftliche. Allerdings ist letztere
             über begrenzte Zeiträume gesehen exakter.
             Diese frühen Bücher, oft Geschichtsschreibung, Sitten- und
             Gesetzeskodex, rudimentäre Naturwissenschaft, Prophetie
             und Kunstwerk in einem, sollen das ephemere Einzelwesen
             überdauern und die nachfolgenden Generationen nach
             dem Bild der alten formen und lenken. Sie stehen in
             gleicher Funktion nebem dem Schwert und dem Bogen, den der
             Vater auf den Sohn vererbt und dieser wieder auf seinen
             Nachkommen.
             Die Welt der Signale bei der Jagd, einer der Vorläufer
             späterer Sprachwelten, erzeugt neben dem Erfolg oder
             Mißerfolg Verknüpfungen von Vorstellungen, die einer
             neuen, ihnen inneliegenden Logik gehorchen. Es entsteht
             rudimentär eine neue Welt, die mit der älteren sich verwirkt.
             Der Logik von Signalen und Wirklichkeit zu gehorchen, war
             eine Frage von Leben und Tod. Deshalb haben die ersten
             Sprachen das ungeheure Gewicht, welches in den
             magischen Ritualen nachglimmt. Aber die sich entwickelnde
             Logik der Signale und später der Sprachwelt, bleibt nicht
             deckungsgleich mit den traditionellen Gegebenheiten der
             sozialen Lebensformen. Der Priester und der Häuptling setzen
             List und Anmaßung ein und haben Erfolg damit. Diese Macht der
             List in der Sprache kommt aus der Bedeutung der Welt
             ursprünglicher Signale.
             Ihnen zu vertrauen, war zum Überleben notwendig. Der Stein-
             zeitmensch vertraut den Worten von Häuptlingen und Priestern.
             Der Häuptling legitimiert sich mit den Erfolgen bei Jagd und
             Krieg, der Priester mit den Erfindungen seiner geistigen
             Projektionen, die er geschickt mit Naturereignissen und
             Katastrophen usw. verknüpft.
             Die archaische Wirklichkeit verwandelt sich durch den Einfluß
             der Signale und der Sprache zu einer Welt des Bewußtseins.
             In der Empfindung ein Ich zu sein, wird erstmals das bloße
             Aufgehen in die Umwelt unterbrochen, eine subjektive Welt
             tritt der objektiven gegenüber. Hier beginnt, was in der
             späteren Philosophie Subjekt und Objekt genannt wird, im
             Bewußtsein zu entstehen.
             
             4
             Der Werkzeugcharakter der Sprache und der Literatur ist
             in den frühen Anweisungen zur Kriegführung, Erziehung,
             Medizin usw. deutlich sichtbar. Der Werkzeugcharakter
             der erzählenden Literatur ist nicht immer offensichtlich
             und der phantastischen sogar verdeckt. Gerade aber
             die letzteren Formen sind von besonderem Interesse, da
             sie die psychologischen und ideellen Voraussetzungen
             schaffen für die großen Entwicklungssprünge der Menschheit.
             Nietzsche hat einmal bemerkt, das Christentum habe mit seinen
             religiösen Spitzfindigkeiten zur Entwicklung der
             wissenschaftlichen Methoden beigetragen. Die religiöse
             Suche nach Wahrheit wurde zur Suche nach wahren Zusammen-
             hängen. Die Phantasien der Priester erzeugten Wünsche
             nach besseren Welten und zugleich den Widerspruch des
             Verstandes, der den Trug dieser Phantasmen durchschaute.
             Aber dem folgte in der Regel nicht ein einfaches Ablassen
             vom phantastischen Bild, sondern oft der Ehrgeiz, durch
             eigene Arbeit am Material das Gewünschte zu erzeugen.
             Die Mondphantasien des Cirano stehen in einem inneren und
             zwingenden Zusammenhang mit der Mondlandung 1969, ohne jenen
             nicht diese. Es ist dabei völlig unbedeutend ob die heutigen
             Mondfahrer den Cirano kennen. Die Wirkung der Phantasie
             ist eine doppelte: Sie stellt das Tabu und die Tradition
             in Frage und erschafft Bilder, die zu Zielrichtungen
             des erfinderischen Geistes werden. Es ist eine jener
             unsichtbaren Angeln, in denen die Welt sich dreht, von denen
             Nietzsche sprach. Wie der geistige, phantastische Vorläufer
             aussah, der Kolumbus beflügelte, ist unbekannt. Aber die
             Verborgenheit eines Zusamnmenhangs mindert nicht seine Stringenz.
             Nach fast einhelliger Auffassung der Anthropologen hat
             das menschliche Gehirn vor etwa 10 000 Jahren seine heute
             verbreitete Größe erworben. Dies läßt die Vermutung zu,
             daß bereits vor 10 000 Jahren Literatur existierte
             oder aber, falls keine Literatur existierte, die Sprach-
             welt bereits derart komplex und hoch entwickelt war, daß
             sie des heute verbreiteten Gehirns bedurfte.
             Das Vorderhirn ist weitgehend von der Bindung an Körper-
             regionen und Funktionen befreit. Es könnte zum freien
             Denken verwendet werden. Seit der Entwicklung der
             Computer bieten sich Analogien an. Die Speichermodule
             sind ebenfalls frei und werden temporär genutzt.
             Ein direkter Zusammenhang zwischen freier Gehirnkapazität
             und phantastischen Leistungen ist anzunehmen. Tieren
             ist dies nicht oder nur sehr unentwickelt gegeben.
             Der vor 10 000 Jahren erfolgte Kometeneinschlag, der fast
             die gesammte Menschheit ausrottete, erlaubt zur Zeit
             keine Antwort auf die Frage, ob es Literatur gab oder
             eine komplexe literaturlose Sprache. Sollte die durch
             Platon überlieferte Atlantislegende eine historische
             Tatsache sein, so wäre mit einer Literatur vor dem Impakt
             zu rechnen.
             Die Entstehung einer phantastischen Welt läßt sich historisch
             erstmals bei den Ägyptern des alten Reiches beobachten.
             Der verstorbene Pharao geht ein ins Reich der Toten und
             besucht täglich als Sonne die Welt der Sterblichen. Um sich
             her hat er die Götterwelt versammelt, einen göttlichen Hof-
             staat in einer göttlichen Welt. Ob der phantastische Charakter
             dieser Welt den Pharaonen bewußt war, derart, wie heute
             die "Wirklichkeit" von Phantasien geschieden wird, ist
             zu bezweifeln. Denn auch und gerade die Wirklichkeit ist
             phantastisch und nicht anders konstruiert als jede Phantasie.
             Dies ist leicht nachzuvollziehen, wenn man sich die Mühe
             macht, in die Welt etwa des 17. Jahrhunderts sich einzufühlen.
             Ein Auto, eine Eisenbahn, ein Flugzeug sind aus der Sicht
             jenes Jahrhunderts etwas vollkommen Phantastisches. Es ist
             die Gewohnheit, die den Charakter des Phantastischen über-
             lagert. Das Phantastische im banalen und flachen Sinn ist
             jenes offensichtlich Unmachbare, das auch bei gröbster
             Betrachtung sich entlarvt. Aber dahinter steckt dann doch
             etwas gar nicht Phantastisches, meist ein Klischee, wie es
             in den Sience Fiction Filmen bis zum Ermüden dargebracht wird.
             Die These, das Wirkliche ist phantastisch, ist zu entfalten:
             Die Welt der Sprache ist nicht ein Spiegelbild der
             "Wirklichkeit". Keiner der Begriffe ist "Wirklichkeit".
             Aber die Simulation von Abläufen im Gehirn, geleistet durch
             Verknüpfungen zwischen Begriffen und Vorstellungen und
             sensorischen Aktivitäten und Rückkopplungen, erlaubt
             erfolgreiches Handeln. Dieses erbringt in der Regel einen
             produktiven Schritt, der wiederum nicht eine Einheit zwischen
             Vorstellungen und "Wirklichkeit" stiftet, sondern für
             "Wirklichkeit" gehalten und so definiert wird. Dies ist
             keinesfalls dasselbe wie "Wirklichkeit" zu sein. Die in den
             Definitionen "harmonisierten" Formen behalten ihr Eigenleben
             und bereiten manche spätere Überraschung.
             Hier liegt der grundsätzliche Unterschied zwischen der
             Welt der Tiere und der Menschen. Das vorsprachliche Leben
             ist eingebettet in die Umweltabläufe, die Vorstellungen
             schmiegen sich ihnen an, Widerstand ist kaum denkbar.
             Noch die frühen, bereits sprachlichen Kulturen zeigen
             diese Anpassung an die Natur.
             So betet der Eingeborene zu seinen Göttern um Regen zu
             erhalten. Ein Steinschlag gilt als göttlicher Fingerzeig.
             Die Götterwelt ist wohl schon Teil einer phantastischen
             Welt, aber die Unterordnung unter die Abläufe der Natur
             entspringt den älteren Lebensstufen.
             Die Produktion einer "Innenwelt", zum bedeutendsten Teil
             geleistet durch Sprache und später auch Literatur, ist
             eine Überformung der älteren "Gefühlswelt", die sich stets
             unterordnet. Es entsteht ein "Zentrum" im Einzelnen,
             welches sich auch der Natur widersetzt, indem er sich als
             eigenständig definiert gegenüber jener.
             Dieses Zentrum ist nur scheinbar individuell, nur scheinbar
             ein "Ich", denn sein es konstituierendes Interieur ist
             vorwiegend sprachlicher Art. Sprache aber ist das Werkzeug
             einer sozialen Einheit, sei es Clan, Stamm oder Staat und
             ohne diese nicht entstanden und denkbar.

             5
             Literatur ermöglicht eine objektive Unterteilung der
             wahrgenommenen Welt in Ebenen der Bedeutung und Gültigkeit.
             Das, was immer wiederkehrt, ist realistisch. Die
             Beschreibung des Realistischen in der Erzählung, den
             wissenschaftlichen Analysen und Modellen rangiert auf
             oberster Ebene der Bedeutung, gestützt auf den Erfolg
             im sozialen Geflecht. Darin eingewoben ist jenes
             geglaubt Realistische, welches die Priester mit den
             Religionen vermitteln. Obwohl es phantastische Züge ent-
             hält, man denke an die Erlösungsvorstellungen, ist
             ihre Bedeutung in manchen Epochen und Völkern oft über
             der realistischen Literatur angesiedelt.
             Fortwährend differenziert der produktive Erfolg die
             Literatur. Längst ist Philosophie in dutzende von
             Wissenschaften aufgespalten. Literatur im engeren
             Wortsinn ist dem gefolgt und unter anderem auch in ihren
             erzählenden Bereichen wiederum differenziert worden.
             Leicht verführt jene Differenzierung zu dem Schluß,
             in ihr eine bündige Gewichtung für relevante gesell-
             schaftliche Aufgaben zu haben. Der Mathematikunterricht
             hat heute eine Bedeutung in den Schulen, die nicht dem
             derzeitigen Stand des Bedarfs entspricht, sondern eher dem
             der frühen Industrialisierung, wo es an mathematisch ge-
             schulten Fachkräften mangelte. Der bis in die jüngste
             Gegenwart hineingeschleppte obligatorische Latein-
             unterricht bekam sein Gewicht in den spätmittel-
             alterlichen Klosterschulen, als ein einheitliches Deutsch
             noch nicht in Sicht war. Dergleichen läßt sich fortsetzen.
             Dabei liegt das Grundproblem nicht allein in der Aufteilung
             der Unterrichtsstunden, sondern in der Abwesenheit
             brauchbarer Didaktik. Wenn man sieht wie die mühsam
             den Schülern eingetrichterte Differentialrechnung ein
             halbes Jahr nach dem Abitur nicht mehr beherrscht wird
             und die Vokabeln zur Hälfte bereits vergessen sind, wenn
             vom Fachwissen in Biologie und Chemie nurmehr Bruchstücke
             erinnert werden, die weniger Anwendungswert besitzen als
             ein gut beherrschtes Wissen auf einfacherer Stufe, so
             fragt man sich, was das bedeuten soll. Verhindert wird mit
             dieser verfehlten Schulbildung und Stoffgewichtung die
             Unterrichtung dringend benötigter Stoffe und Inhalte.
             Lebenswichtige Kenntnisse im Umgang mit Menschen und Familie,
             die früher im sozialen Kontex automatisch erlernt wurden,
             sind heute nicht mehr erlernbar. Dort müßte sinnvoller
             Unterricht einsetzen, aber es geschieht da wenig und mit
             verkehrten Mitteln.
             Die stiefmütterliche Darbietung von, meist unter-
             qualifiziertem Geschichtsunterricht, trug nicht unwesentlich
             dazu bei, daß nach dem Zerfall der napoleonischen Ansätze
             zu einem zentralistischen Europa noch weitere Kriege
             geführt wurden. Bismarck hat Wilhelm dem Zweiten einen
             für Deutschland verhängnisvollen Krieg prophezeit, und ein
             relativ unpolitischer Künstler wie Dali sah 1939 bereits das
             Ende des zweiten Weltkrieges so voraus, wie es eintrat.
             Im tieferen Sinne ist dieses Versagen der Erziehung auch
             ein Versagen der Literatur, sowohl der historischen
             im engeren Sinne als auch der allgemein bildenden,
             innerhalb derer die erzählende sehr unterschätzt wird.
             6
             Die Epen Homers schildern die Entstehung des Individuums,
             welches es wagt sich der Natur, den Göttern und Menschen
             entgegen zu stellen. Odysseus widersteht den Gewalten der
             Natur, aber auch den eigenen Triebkräften. Den Verführungen
             der Sirenen und der Kirke unterliegt er nicht.
             Hier am Beginn der uns überlieferten Literatur wird das
             Prinzip der Individuation beschrieben und gefördert, die
             Macht des traditinellen Kontex gebrochen.
             Diese Tendenz hat Literatur immer wieder verfolgt und
             zuletzt in Sartres Existenzialismus auf die Spitze
             getrieben. Aber bei Sartre kippt die Fürsprache fürs
             Individuelle um. In seinen Romanen, wird nach Adornos Worten
             das Gegenteil seiner Intentionen nachgewiesen. Nicht
             Freiheit der Entscheidung bringt die Helden in "Die Fliegen"
             dazu nach ihrem Aufenthalt im Himmel erneut auf der Erde alles
             so zu machen wie im ersten Leben, sondern die verinnerlichte
             Struktur einer unfreien Gesellschaft.
             Literatur war stets Beides: Organon der Emanzipation und
             ideologisches Werkzeug der Anpassung. Viele Werke sind
             von Beidem etwas. Versäumt ist aber in der Literatur
             die Formulierung realistischer Utopie, von wenigen Aus-
             nahmen und Ansätzen abgesehen. Dieses ist weder Folge
             eilfertiger Anpassung, noch Unvermögen. Vielmehr ist
             es die Beschaffenheit der Sprache und ihrer Literatur selbst,
             die sich strukturell sperrt.
             Das Bild der Schildkröte, die einen Panzer sich entwickelt
             und den Selektionsprozeß besteht und damit zugleich
             beinahe bewegungslos wird, ist auf Literatur zu übertragen.
             Die Zivilisationsschäden sind nicht etwas Überflüssiges
             und Vermeidbares sondern Ausdruck des ganzen Prozesses
             selbst. Ohne Panzer kein Schutz und ohne Schutz kein Über-
             leben.
             Sprache definiert und scheidet von sich ab, was der Definition
             entragt. In der Anordnung der Sätze, in der Komposition des
             Textes ward versucht, diese Richtung umzukehren. Dem
             Nichtidentischen, nach Adornos großer Anstrengung so
             Entwickelten, sich zuzuwenden und es gleichsam ins
             menschliche Leben zurück zu holen, galten die Untersuchungen
             der Aufklärung und die Experimente der Moderne. Zuletzt
             hat Krishnamurti den Versuch unternommen, mit an Psycho-
             therapie erinnernden Methoden, den zivilasatorischen
             Panzer des Bewußtseins aufzubrechen. Seine Methode ist
             einfach und genial: Das Bewußtsein soll sich aufmerksam von
             jeder Aufmerksamkeit abwenden, sich versenken in das Nahe
             und Kleinste und ähnlich wie in der "reinen Anschauung"
             Schopenhauers sich befreien. Jedoch erwacht der Einzelne aus
             diesen Zuständen und findet sich wieder in dem, wovon er
             sich abzulösen bemühte. Einen ähnlichen Weg versuchte Buddha,
             und die weite und langlebige Verbreitung des Buddhismus
             spricht für die Ausstrahlung solcher Bemühungen.
             Das Scheitern aber ist ihnen so gewiß wie die Langeweile
             dem bequem Angepaßten. Zu erkennen ist, daß Sprache alle
             menschlichen Bezüge und Regungen sich integriert, sie
             funktionalisiert und dem historischen Prozeß einverleibt.
             Tabula Rasa entmachtet ihn so wenig, wie der Rausch die
             Welt verändert, der er entfliehen helfen möchte.
             Die Welt der Vorstellung, die wesentlich eine der Sprache
             und Literatur ist, hat nicht nur urwüchsige und keineswegs
             nur geliebte Urzustände abgelöst, sondern sie in umge-
             wandelter Form in sich aufgesogen. Wesentliche Kategorien
             wie die der Vermittlung, der Erkenntnis, der Zielrichtung
             und des Lebensfähigen, um nur einige zu nennen, sind zu
             erhalten und rückzuübersetzen in ihre eigenen Beschränkungen.
             Das Individuum braucht wie jedes Gemeinwesen Ziele und auch
             die Fähigkeit neben und über ihnen sich selbst zu leben.
             Etwas dieser utopische Richtung enthielt der frühe Marxismus
             bevor er zugunsten des ökonomisch Machbaren zur politischen
             Ideologie degenerierte. Engels hat vergeblich versucht, diese
             Entwicklung, für die der Marx des Kapitals steht, abzufangen.
             Propagiert wurde vom Sozialismus die Veränderung der Gesell-
             schaft und polemisch gegen die Veränderung der Menschen
             ausgespielt. Letztere sei pure Ideologie des absterbenden
             Bürgertums.
             Am Ende stand die Entrechtung der Besitzenden und der
             totalitäre Staat, von dem Adorno sagte, er sei ein Hohn
             auf alles, was einmal über das Verhältnis zwischen Einzelnem
             und Gemeinwesen fundiert gedacht worden sei.
             Der bürgerliche Reflex auf diesen Crash der Utopien war
             Erleichterung und Verzicht auf jede auch nur strategisch
             zu nennende Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen.
             So sehr der Eigentumsbegriff ein Pfeiler der Zivilisation
             ist, so ist doch auch der Rekurs auf die wundersame Kraft
             der Märkte Kapitulation vor den Aufgaben der näheren Zukunft.
   

             7
             Die Frage der Bedeutung von Literatur entzündet sich
             daran, was sie bewegen kann. Die Fachliteratur erscheint
             dieser Fragestellung enthoben. Konstruktionszeichnungen
             von Maschinen beweisen durch ihre gelungene Realisierung
             ihre Bedeutung. Dies ist ein Trugschluß. Die Tatsache,
             daß eine mechanische Wassermühle der Antike wie ebenso
             eine moderne Wasserversorgung mit elektrischen Punmpen
             innerhalb von Diktaturen nicht anders arbeiten als in
             demokratischen Gemeinwesen, verweist auf eine gewisse
             Insuffiziens. Langfristig verändern die Technologien
             die Welt, aber in einer Breite, die verschiedene Entwicklungen
             der Gesellschaft zuläßt. Bedeutend für den konkreten
             gesellschaftlichen Gang in der Geschichte sind die
             psychologisch und sozial wirksamen Aufzeichnungen. Dahin
             gehören sämtliche den Sittenkodex betreffenden Texte,
             Gesetzesbücher, Verwaltungsstrukturen, Lehrbücher in den
             Schulen, Erzählungen usw. In  minderem Maße auch die
             entsprechende Fachliteratur.
             Der Marxismus hat, wie die bürgerliche Ideologie,
             deren Ableger er ist, auf die materiale Basis verwiesen
             und im Verein mit der latenten Geistfeindschaft
             frohlockt, daß die Worte nicht an die Bedeutung des
             Portemonais heranreichen. Das ist nicht nur Ausfluß des
             urbürgerlichen Ressentiments gegen den abgeschafften Adel
             und jede Aristokratie des Geistes sondern auch berechtigt.
             Der niedergehende Adel Europas hatte längst vor den
             bürgerlichen Revolutionen in den Fragen geistiger Ent-
             wicklungen resigniert und der Aufklärung sich innerlich
             nie befreunden können. Wie jedoch jedes Extrem wiederum
             durch ein Extrem abgelöst wird, ist auch das Pochen auf
             wirtschaftliche Basis so verkehrt wie ehedem aufs blaue Blut.
             Die Kolonisierung der Welt durch Europa, die in ihren
             verdeckten Formen noch immer am Werke ist, basiert nicht
             allein und nicht unmittelbar auf der christlichen Missionsidee
             oder anderen ideologischen Komponenten sondern entstammt einer
             sozusagen ungeschriebenen Literatur, die sich als diffuses
             aber doch auch bündiges System von Bewußtseinshaltungen und
             Meinungen, Triebstruktur und Bildungsbackground durchgesetzt
             hat. Die Bedeutung dieses Sytems kann nicht hoch genug
             angesetzt werden.
             Aber es ist mehr als nur die Geister, die der Zauberlehrling
             rief und nicht mehr los ward. Der Mensch ist, nach Adornos
             Worten, zu seiner Ideologie geworden. Oder wie Nietzsche
             im gleichen Sinne sagt, was immer geschauspielert werde,
             würde letztlich den Charakter zu dem machen, was er vor-
             spielt.
             Abgesehen von der ökonomischen gesellschaftlichen Basis,
             die in gut verwalteten Zeiten Überbauprobleme mit ihrer
             allgegenwärtigen Perfektion zudeckt, macht die Insuffiziens
             des Bewußtseins in wesentlichen Fragen der Menschheit
             anfällig für alle Formen von Rückfällen in unaufgeklärtes
             Denken. Nach den Nationalitätshysterien treten nun nach-
             einander ökologische Weltuntergangshysterien, an Verwaltungs-
             akten sich entzündende Phobien vor dem imaginärem
             "großen Bruder" Orwells und andere Rudimente ehemaliger
             Massenpsychosen auf den Plan. Was daraus werden könnte, wenn
             der Versorgungsapparat kolabiert, erinnert mich an die
             wüstesten Alpträume.
             Dennoch ist die Rede von den verloren gegangenen "Werten",
             die aus konservativen Lagern immergleich zu hören ist,
             selbst nicht unerheblich am Dilemma des Bewußtseins beteiligt.
             Alles was irgend für die junge Generation von Interesse ist,
             wird mit Geboten und Verboten überladen, sodaß verständlicher-
             weise der Trotz zur beherrschenden Regung aufgeklärter junger
             Leute und ihrer Mitläufer geworden ist. Nicht ungestraft wird
             jegliches literarische Potential, das irgend sozial brauchbar
             ist, egoistischen oder ökonomischen Zwecken untergeordnet.
             Der Glaubwürdigkeitsverlust aller Traditionen rührt, lax
             gesagt her aus dem "Klüngel".
             Friedrich der Große steht als Aufklärer einsam und relativ
             unbekannt in der literarischen Landschaft. Oberflächliche
             Betrachtung vermeint in seinem "Antimachiavell" nur eine
             Spielart von Moralphilosophie zu finden. Die Hart-
             näckigkeit, mit der seine Werke im deutschen Bildungs-
             wesen totgeschwiegen werden, erinnert an den verstockten
             Ladendieb, der selbst vor 20 Augenzeugen leugnet.
             Friedrich hat darüber geklagt, daß es unter den Lehrern
             nur so wenig gute gäbe, das verzeiht der Bildungsbürger nie.
             Er hat davon gesprochen, daß verborgene Talente oft
             nie entdeckt werden. Welch ein unerhörter Angriff auf das
             was als geistige Elite sich definert... Dergleichen könnte
             fortgesetzt werden. Friedrich der Große hat als einer der
             seltensten Geister, die Europa hervorgebracht hat, den Versuch
             unternommen eine Moral außerhalb der süßsaueren abend-
             ländischen Traditionen zu entwickeln. Dabei ist er rein
             zufällig einer zukünftigen Business-Generation in die
             Quere gekommen, deren Götzen er geschmäht hat:
             "Ihr Toren, die der falsche Glanz
             Flüchtigen Erdenguts betört,
             Die ihr dem goldnen Götzen ganz,
             Dem Herzverderber, angehört!
             Für wen denn schafft ihr?
             Häuft ihr, rafft ihr?
             Im flücht`gen Weltvorüberwallen,
             Flüchtig wie Lenz und Blütenfallen!
             O kindisch Wähnen,
             Wert der Tränen:
             Was wird von all den Herrlichkeiten
             Euch niederwärts begleiten?..."    aus: Friedrich der Große
                                                     "An Maupertius"
              
             
             Das Buch "Der Fürst" von Machiavell beschreibt Erfolge
             von groß angelegter List, Betrug usw. Historisch belegbar
             sind diese Erfolge etwa bei Cäsars Vorgehen gegen die
             Tenktrerer in Gallien, deren Häuptlinge er hinterrücks
             ermorden ließ, die sich im Vertrauen auf sein Wort bei
             ihm eingefunden hatten. Ohne Zweifel war machiavellsches
             Vorgehen häufig erfolgreich. Unzählige eingeborene Völker-
             schaften sind mit List, Mord usw. von europäischen Ein-
             wanderern beseitigt worden. In der tieferen Schicht
             machiavellschen Denkens steckt eine technokratische
             Philosophie, die keineswegs seine Propheten ungeschoren
             läßt. Dies hat Friedrich der Große erkannt. Sein Anti-
             Machiavell beschreibt die Parameter funktionierender
             Sozialität. Die letzten zwei Jahrhunderte politischer
             Entwicklungen haben ihm Recht gegeben. 
             8
             Die Sexualität hat in der Geschichte, vielleicht aber noch
             mehr in vorgeschichtlichen Epochen Wandlungen durchgemacht,
             die im wahrsten Sinne alles umwerteten, was mit ihr irgend
             zusammen hängt. Unzählige Publikationen religiösen und
             halbreligiösen Tenors haben Sexualität verunglimpft und
             verteufelt. In Reaktion darauf entstanden Satanskulte,
             die Perversionen eines de Sade, aufklärende Schriften und
             wissenschaftliche Experimente. Paralell dazu wurde in
             kleinsten Nischen Sexualität kultiviert oder exzessiv ge-
             lebt. Heute stehen an den Rändern dieser Auseinandersetzung
             animierende Produkte der sogenannten Pornografie, ihre
             kriminellen Steigerungen und unverdrossener Eifer von Moral-
             verfechtern. Dabei sind Gängelung der Sexualität und ihre
             Entfaltung zu fast artistischen Höhen nebeneinander entstanden.
             Das romantische und immer wieder aufgewärmte Ideal einer vor-
             zivilisatorischen freien Sexualität hält der Forschung nicht
             stand. Sexualität ist in ihren hohen Formen Kultur, Gedichten
             und Kompositionen vergleichbar. Mit Recht ist darauf
             hingewiesen worden, daß Tiere keine Sexualität im menschlichen
             Sinne kennen. Sie ist im Tierreich Beiwerk der Kopulation.
             Auch dort mögen Ausnahmen zu finden sein. Die Primaten haben
             ja auf vielen Ebenen so etwas wie Kultivierung vorweggenommen.
             Literatur ist dem Zeitlauf gemäß vorwiegend antisexuell ge-
             prägt, aber oberflächlich erotisiert. Der Begriff der Liebe
             ist ihr zentral. Er entstand in seiner heutigen Form
             im Minnegesang als Kompensation für die ihren Frauen abhanden
             gekommenen Kreuzritter. Die Sehnsucht tritt an die Stelle der
             Erfüllung. Konsequenterweise enden die leichteren Liebes-
             geschichten der verschiedenen Genre damit, daß die Liebenden
             sich finden und Hochzeitsglocken läuten. Die oft erst danach
             entstehenden Schwierigkeiten, die heute an den Scheidungs-
             raten zu ahnen sind, werden ausgeblendet. Der bürgerliche
             Roman in seiner jüngeren psychologisch aufbereiteten Variante
             schildert in den Dreiecksdramen, Eifersuchtstragödien usw.
             den Fortgang der Geschichten nach ihrem Happy End.
             Kunstgewerbliche Importe, wie das indische Kama Sutra
             sind kleine harmlose Farbtupfer auf einer eingegilbten
             literarischen Landschaft. Die auf schlichten Voyarismus zu-
             gerüstete sexuelle Literatur, oberflächlich im Sujet und im
             Grunde ebenso antisexuell wie die "seriöse", beherrscht den
             Konsumentenmarkt, jede tiefer reichende würde nicht
             verstanden, - zu weit ist die zivilisierte Gesellschaft von
             einer ins Leben integrierten sexuellen Kultur entfernt.
             Der Schein zeigt jedoch das Gegenteil. Die Film- und
             Fernsehproduktionen sind heute ohne hübsche, frei schwingende
             Brüste nicht mehr zu verkaufen. Vor den Fernsehern sitzen
             dazu die ins Appartement umgesiedelten Bruchstücke ehemaliger
             Familien oder dem, was einmal Familie werden wollte.
             Die Studentenbewegung der sechsziger Jahre
             strebte in einigen ihrer Fraktionen nach sexueller
             Befreiung. Aber sie reichte nicht tief genug in das
             Problemgeflecht hinein. Die Publikationen jener Zeit sind
             teils politisch doktrinär und tragen den Stempel ver-
             krampfter Unfreiheit. Teils sind sie, besonders in den
             Filmen, wie "Pourquoi pas" ein schönes Märchen, dessen
             Realisierung ausgeschlossen ist.
             Kampf um Sinnlichkeit folgt aus diesen Zusammenhängen.
             Die Ausdruckskraft der Villion Vorträge Kinskis ist
             ohne abendländische Sexualgeschichte undenkbar.
             Unsichtbar verlaufen die Fronten zwischen vitalem und
             absterbendem Leben. Reichs Konstrukt vom "genitalen Charakter"
             wider die "emotionale Pest" meint vermutlich etwas Ähnliches
             wie Nietzsche mit seinen "Schlechtweggekommenen".
             Der Marxismus hat lebhaft sich bemüht diese Frontziehung
             mit dem Primat der Ökonomie zu zukleistern. Der
             Spruch: "Partisanen gibt es hüben wie drüben", der einmal
             für einen anderen Sachverhalt gesagt ward, trifft hier
             gewiß zu. Der amerikanische Film erzählt nicht selten
             Geschichten, in denen ein Reicher einem Gestrauchelten
             beisteht, selbst wenn dieser ihm geschadet hatte oder noch
             schaden wird.
             Die Idee des "Fair Play" in diesen Filmen heftet sich mit
             Vorliebe an solche unterschwellig im Einvernehmen stehende
             Gespanne, die oft sozial im Gegensatz stehen wie in dem
             Film "Trouble in Hollywood". Dahinter steht das Gespür
             dafür, daß jene Frontziehung, wenn auch nicht als eine
             dominante, so doch als eine reale für den vitalen Typus
             von Bedeutung ist. Großzügigkeit, wie Nietzsche an alten
             Patrizierfamilien Roms sie gewahrte, welche später etwa
             einen Goethe ermöglichte, gilt dem Vitalen von jenen, die
             mit dem Vitalen sympathisieren.
             9
             Bedeutende Literatur kämpft um Freiheit, nachdem die
             Organisation des gesellschaftlichen Lebens in ihren Grund-
             zügen zuende gedacht ist. Dieser Kampf hat zwei Hauptfronten:
             Die eine ist der Weg ins Neue, Unbekannte und noch nicht
             Dagewesene. Hier ist die artistische Expression führend,
             wie sie in den Elegien von Rilke, Rimbaud und Nietzsches
             Zarathustra sich artikuliert. Die zweite ist die Be-
             freiung von alten und neuen Fesseln der Gesellschaft.
             Dahin gehören "Das Schloß" Kafkas, die Romane Henry Millers,
             die Gedichte von Günther Eich, Celan, und das "Heilige
             Jerusalem" Friedrich des Großen. Aber auch die Psychologie
             hat in den Ideen Wilhelm Reichs, - der leider mit seinem
             späteren Unsinn sehr geschadet hat - die Soziologie in Adorno,
             bedeutenden Anteil an Versuchen der Befreiung.
             Alle diese Versuche rufen die Reaktion auf den Plan,
             die mit den vielfältigsten Mitteln arbeitet. Grobe
             Methoden wie die Bücherverbrennungen durch Fanatiker
             aller Epochen werden ergänzt, besonders in friedlicheren
             Zeiten durch subtile Gängelungsversuche.
             Einer der wirksamsten ist die durch Massenbeeinflussung mit
             sogenannten Experten. Das Muster ist stets gleich:
             Vorgeblich fortschrittliche Formen werden den älteren als
             Nachfolger im Stil zugeordnet: Surrealismus, Dadaismus,
             folgt auf Expressionismus usw.  Einteilungen in Klassik,
             Moderne, Impressionismus, Neue Wilde usw. werden zur
             Definition von Stilen herangezogen, allerdings erst nachdem
             ihre Brisanz sich durch Ablagerung verbraucht hat.
             Wer diesen Stilen nicht sich fügt oder mindestens "überholte"
             nicht vermeidet, gilt als hoffnungsloser Epigone oder
             Plagiator. So sehr auch im Versuch einer Stilbestimmung
             etwas Bündiges durchscheint,- manche Ausdrucksformen gehen
             nicht mehr,- ist sie doch letztlich unverholene Gängelung
             der noch nicht Angepaßten durch die Kulturmaschinerie.
             Gelegentlich schwemmt die Dynamik authentischer Expression,
             wie in den Beatles, kurzfristig das bedrückende Netz
             der Bevormundung beiseite. Längst aber werden die aus
             der Jugend kommenden Impulse kanalisiert, die Gruppen in
             kommerziellen Großlabors gezüchtet. Die Zeiten Liverpools
             sind vorbei. In der Buchliteratur behilft man sich durch
             einfache, aber ebenso wirksame Methoden: Gedruckt wird, was
             aus altväterlichem Erbe, zudem von Copyrightproblemen befreit,
             Einnahmen verspricht. An die Stelle neuer Texte treten neue
             Schutzumschläge. Wo der Trend etwas "neues" verlangt, wird
             aus amerikanischem Fundus importiert. Das kleinste Risiko
             bei größtmöglichem Gewinn ist die leitende literarische
             Maxime. Daher ist es fruchtlos, sich in die Literatur-
             kritik einzuschalten. In ihr gilt das ironische Wort:
             "Wo jeder Recht hat und alle Draußen Unrecht".
             Symptomatisch für den Zeitgeist sind verräterische Kleinig-
             keiten. In deutschen Lexikas werden die Barrikaden
             von Paris 1968 dokumentiert, die Barrikaden von Frankfurt
             1967 finden sich darin nicht. Vergeblich sucht man in
             der verlegten Literatur frische, gewagte und unter die Haut
             gehende Experimente. Überalterung ist wie überall in der
             Gesellschaft tonangebend. Ein befreundeter junger Maler
             umriß diese Problematik mit dem Satz: "Und mit 47 bist Du
             dann ein junger Nachwuchskünstler".
             Die Rückwärtsorientierung des Literaturbetriebs zeigt sich
             vielerorts. Experimente wie Bukowskis Schmuddeljargon, auf
             den sich die Studenten stürzten, als wäre es ein Lebenselexier,
             kamen aus den USA. Im deutschen Sprachraum waren Objekt-
             künstler wie Beuys und Drehbücher, wie in "Chapeau clack",
             Lichtblicke, die das sterile bundesrepublikanische Wohnzimmer
             ins Visier nahmen, nicht aber Bücher.
             Die Furcht um Einnahmeverluste aus nicht mehr überschaubaren
             Copyrightproblemen hat die Verlagsbranche zum ausdrücklichen
             Hemmklotz und Gegner des aufkommenden Internet gemacht.
             Aufschläge für Computerteile, die zur Vervielfältigung
             genutzt werden können, - gefürchtet sind die Musikraubkopien,-
             sind in Vorbereitung. Der Verdacht auf Nutzung begründet
             das Abkassieren. Über die internationalen Datenbahnen läuft
             nicht die Literatur, sondern die Werbebroschüre der Verlage.
             Während Organisationen wie die Nasa ihre millionen Dollar
             teuren Fotografien im Internet kostenlos verbreiten, sind
             Büchertexte im Netz die seltene Ausnahme.
             Literatur ist potentielle unbekannte Welt und zugleich
             potentielle Erlösung von bedrückenden Zeiterscheinungen.
             Lao Tse hat mit seinem Tao Te King psychologische
             Alternativen zum Getriebe seiner Zeit entworfen: Nichttun
             an der Stelle des losgelassenen Tuns, Rücksicht an der
             Stelle des Egoismuses, der in seinen extremen Formen
             selbstzerstörerisch ist. Ähnlich wirkte Marc Aurel in
             seiner Epoche. Heute liegt die Bedeutung ebenfalls in
             psychologischen Alternativen zu den Mechanismen der
             Gegenwart. Der Markt wird allerdings beherrscht vom
             Kunstgewerbe: Antroposophie, Wunderkugeln, Esoterik usw.
             bieten harmlose Zerstreuung. Die vollständige
             Verwässerung der Psychoanalyse, der Abbruch ihrer Ent-
             wicklung in wissenschaftliche Bahnen hat dazu beigetragen.
             Die Gängelung der literarischen Kräfte beginnt im Kopf.
             Alles was vom mittleren Pfad möglichst unterhaltsamer
             Literatur abweicht ist tabuiert: erotische Literatur
             wird der Sparte Pornografie, politische dem
             Kommunismus oder anderen -ismen zugeordnet. Es
             hat alles im Rahmen der Schichten und Klassifizierungen
             zu verbleiben. Philosophische Literatur erstickt im Keim
             sich selbst, da die philosophischen Schulen ein Dickicht
             halbverdauter Problemstellungen hinterlassen haben und
             der akademische Fachbereich Nietzsches Kritik auch heute
             noch verdient. In der Regel stehen hinter den zeitge-
             nössischen Publikationen irgendwelche Schrullen,
             wie das Spekulieren über Darwinismus in den Gehirnvorgängen,
             Automatenmenschen oder aufgewärmte philosophische Ethik
             des erhobenen Zeigefingers.
             Alles erscheint schon dagewesen zu sein, alles erscheint
             unlösbar oder gelöst. Poppers Trivialpositivismus, der
             Vulgärmarxismus und Russels atomistische Philosophie reichen
             sich die Hände und erläutern achselzuckend, daß es mehr nicht
             zu denken gibt.
             Den Rest besorgen die Experten, die direkten Nachfolger
             der Seher, Scharlatane und Propheten, ergänzt durch die
             Abschaffung der Geisteswissenschaften zugunsten von Betriebs-
             wirtschaft und Informatik durch die Bürokratie. Die Unfrucht-
             barkeit der niedergehenden Geisteswissenschaften liegt nicht
             in der Sache sondern im administrativen Apparat, der die
             über Beziehungsklüngel geförderten Altstudenten im fort-
             geschrittenen Alter auf die Lehrstühle beruft. Der
             junge, auf einen Lehrstuhl in Basel berufene Nietzsche
             war und ist der Ausnahmefall, der wie stets die trostlose
             Regel bestätigt.
             Das Experiment Jugend, im Sport noch gewagt, da die alten
             Herren keine Rekorde erbringen können, ist in der Literatur
             völlig unbekannt...
             Neue Welten in der Literatur entstehen nicht durch die
             Wortschöpfungen der Sience Fiktion- und Computersprache.
             Die in Phantasy und Sience Fiktion dargebotenen
             Storys sind altväterliche Muster mit frisch gestiltem
             Outfit. Das Unbekannte tritt fein und leise ins Bewußtsein.
             Daudet mit seinen scheinbar realen und doch letztlich
             entrückten Provincelandschaften vermittelt eine Ahnung
             von dem, was vielleicht werden könnte, wenn Empfindung sich
             veredeln würde. Die Verzweiflung des Lautréamont ist
             bei aller Bizarrheit durchtränkt von Schemen einer
             besseren Zukunft. Würde sein "Maldoror" heute
             geschrieben, wäre er nicht mehr zu veröffentlichen,-
             und vielleicht zu Recht, da er mißverstanden würde.

             10
             Noch immer ist Literatur im Kern Bewaffnung, obwohl dies
             durch Raffinierung verschleiert ist. Dazu bedarf es eines
             kurzen Rückgriffs zum Ausgangspunkt der Sprache, den
             Signalen. Die Signale dienen der Verständigung bei der
             Jagd und am Lagerplatz. Sie führen zum Jagderfolg, und
             als Warnsignale ermöglichen sie die erfolgreiche Abwehr
             von Eindringlingen. Sie ermöglichen organisierte Jagd
             und organisierten Krieg. Aber mit dem Aufkommen der
             List, kommt ein weiterer Nutzen der Signale hinzu: Sie
             eignen sich zur Täuschung. Lärm täuscht ebenso wie Tier-
             masken einen kräftigeren Gegner vor. Daraus entwickeln
             die Frühmenschen die Rituale. Mit ihnen täuscht der
             Erzeuger der Signale sich selbst. Er macht sich Mut
             gegen widrige Witterung, wilde Tiere und Feinde.
             Er handelt mutiger und hat Erfolg damit. Die Täuschung
             wird durch den Erfolg überlagert und tritt nicht mehr
             als Selbsttäuschung ins Bewußtsein. 
             Die Beobachtung des Sterbens anderer wird bei zunehmender
             Geistestätigkeit zur Antezipation des eigenen Todes.
             Wann diese Erfahrung zuerst gemacht wurde - ich weiß es
             nicht und Quellen dazu sind nicht bekannt. Die Folge
             dieser Erfahrung ist die Entwicklung von Kompensations-
             mechanismen im Ritual und in der Sprache, in der Religion
             und der Kunst, später in der Philosophie. Wer die Todesfurcht
             besiegt, ist so wie besser bewaffnet. Er jagt und kämpft
             erfolgreicher.
             Ein frühes typisches Werk solcher kompensierenden Philosophie
             ist das bereits erwähnte Buch von Lao Tse. Es vermittelt
             psychologischen Techniken, mit denen die Illusion von
             Schmerzlosigkeit, Unverwundbarkeit und langem Leben
             erzeugt werden kann. Es funktioniert wie der Großteil der
             Religionen u.a. durch Abhärtung mittels Vorstellungen und
             durch Abwendung von körperlicher Bedürftigkeit. Diese
             psychologischen Techniken, unter anderem Bedürfnislosigkeit,
             Geduld, Ruhe usw. sind die Anfänge einer religiösen Moral.
             Aber Elemente wie die Bestrafung für falsches Leben,
             Versprechungen auf ein Leben nach dem Leben fehlen bei
             Lao Tse noch. Sie sind aber rudimentär enthalten, denn
             der falsch Lebende wird als gefährdet dargestellt.
             Es ist verwandt der Gefährdung dessen, der sich durch
             Drogenkonsum gesundheitlich schadet.
             Aufklärung lief der Entwicklung der Religionen paralell.
             Wahrscheinlich hat der frühe Handel den Völkern die
             Götter anderer Völker nahegebracht und die Begrenztheit
             der Religionen sichtbar gemacht. Die philosophische Schule
             Epikurs hat versucht, die Todesfurcht durch die Mittel
             des rationalen Denkens zu mildern. Der Lebende ist
             danach ohne Erfahrung des Todes, der Tote aber hat keine
             Erfahrung des Todes. also ist für den Epikuräer der Tod
             subjektiv nicht existent. Der Buddhismus arbeitet mit
             einem psychologisch raffinierten System. Aufbauend auf der
             seit vorbuddhistischen Zeiten in Indien verbreiteten Lehre
             von der Wiedergeburt in Menschen und Tierkörpern, zeigt
             er Erlösung durch endgültiges Ausscheiden aus dem Sansara,
             dem ewigen Lebenskreis. Nichtsein ist die höchste Form
             des Glücks. Da aber der untergründige Zweifel fortbesteht,
             ob das Nichts Erlösung ist, klammert die Hoffnung sich
             an die Möglichkeit der Wiedergeburt. So hat der Gläubige
             und nur halb Glaubende in jedem Falle einen Ausweg. Der erste
             Weg verheißt ewiges Glück, der zweite Wiedergeburt.
             Das Christentum operiert umgekehrt. Es verheißt Auferstehung
             und ewiges Leben der Person, der Zweifel daran nährt die
             Furcht vor dem Nichtsein. Es ist im Gegensatz zum Buddhismus
             furchterregend. Wahrscheinlich hat der Buddhismus deshalb so
             weite und langdauernde Verbreitung gefunden, während das
             Christentum sich früh zur politisch wirksamen, praktischen
             Morallehre säkularisierte. Die Furcht entsteht durch das was
             geglaubt wird, wenn der Zweifel aufkommt. Während der Buddhist
             beim Zweifel an Erlösung noch eine Chance in der Wiedergeburt
             findet, wartet auf den gläubigen Christen die Hölle, falls
             er gefehlt hatte, und beim Unglauben das Nichtsein, welches
             endgültig ist.
             Marc Aurel hat versucht, das Nichtsein durch eine tapfere
             römische Haltung erträglich zu machen. Die Kürze des einzelnen
             Lebens stellt er in seinen "Selbsbetrachtungen" der Ewigkeit
             des Nichtseins, die Bedeutungslosigkeit der Sinnengenüsse
             der veredelten Seele gegenüber.
             Interessant ist die Frage, welche Literatur die Überlegenheit
             Europas bewirkt hat, und die weitere Frage, warum der
             Buddhismus weitgehend zugrunde ging. Beides hängt zusammen.
             Die Geschichte Japans, in der der Buddhismus bis heute
             weiter wirkt, zeigt, daß er ohne die hinduistisch-indische,
             extrem pazifistische Prägung ein wehrhaftes Volk stützt,
             während in Indien eine Zähmung und Wehrunfäigkeit sich ver-
             breitete, die den asiatischen Eindringlingen und dem Islam
             den Weg bereitete.
             Aber der japanische Buddhismus ist nicht von einer ständigen
             Anzweiflung begleitet wie das Christentum mit seinen
             Spitzfindigkeiten und Aufspaltungen in Konfessionen und
             Sekten. Gerade dieses könnte den Boden für die untraditio-
             nellen Denkweisen hervorgebracht haben, die die weltliche
             Philosophie und Wissenschaften förderten und die Erfindungen
             ermöglichte.
             Ein weiterer Umstand dürfte das europäische Denken geprägt
             haben. Der Kampf zwischen weltlicher Legitimität und
             geistlicher Autorität hat die Bedeutung der Urkunden und
             Bücher begründet und gesteigert in einem weltweit
             erstmals erreichtem Ausmaß. Luthers Bibelübersetzung
             war ein Baustein der Verinnerlichung religiösen Denkens,
             welches die Verantwortung vor den kirchlichen Autoritäten
             verlagerte in das Gewissen des Einzelnen. Das berühmte
             lutherische: "Hier stehe ich und kann nicht anders", zeigt
             das neue zur Macht gekommene Prinzip individuellen Denkens.
             Der Individualismus ist eine Erfindung der europäischen
             Neuzeit, vorbereitet durch die altgriechische Literatur
             und gipfelnd im Zarathustra Nietzsches und Remarques
             "Der Funke Leben", in welchem das Individuum auch über
             weltliche Gewalt triumphiert, nachdem es die geistliche
             bereits überwunden hatte.
       
             11
             Adornos "Negative Dialektik" ist der vorläufige Endpunkt
             produktiver Erkenntnistheorie, die bereits publiziert
             ist. In wie weit nicht veröffentlichte Weiterentwicklungen
             existieren, entzieht sich meiner Kenntnis.
             Adorno hat mit der Dialektik Ernst gemacht, die bei Hegel
             formal bereits voll entwickelt, aber völlig im
             Traditionellen verhaftet ist und in zentralen Kategorien
             den Konsequenzen ausweicht.
             Die Antithese zur These des dialektischen Verfahrens
             setzt sämtliche Kategorien außer Kraft und hebt sie
             in der Synthese auf. Adorno hat dies auf das Erkenntnis-
             instrumentarium als Ganzes angewandt. Sprache und
             Begriffe definieren und scheiden nach seiner Einsicht
             das ihnen Inkommensurable aus. Bei fortschreitender
             Entwicklung des Erkenntnissystems wird das Inkommensurable
             und daher "Nichtidentische" zum Bodenlosen, welches
             den Begriffen den Boden entzieht und sie zum Prozeß
             auflöst. Dieser aber ist nicht der "Gang des Weltgeistes"
             eines Hegels, sondern negativ. Nicht nur als Prozeß
             bleibt er inkommensurabel der Erkenntnis sondern ist
             mit seinen administrativ und ökonomisch alles sich
             einverleibenden Strukturen wirklich negativ:
             akkumulierte historische Gewalt.
             Die Konsequenz daraus ist in "Die Welt als Augenblick
             und Idee" F.Keil 1980 eine antithetische Konstruktion,
             die sämtliche objektiven Kategorien in ein subjektives
             zeitloses Moment hinein zurückverdichtet.
             Dieser "Augenblick", der sich im "Ich" realisiert
             wird zum "Urknall" der Entstehung des subjektiven Kosmos,
             der die Objektivität im "Nachhinein" entwickelt.
             Dieses Verfahren ist erkenntnistheoretisch nicht statt-
             haft, es ist reine Antithese, die sämtliche Kategorien
             erfaßt.
             Es stehen daher der äußerste Stand
             gesellschaftlich-philosophischer Theorie und die "subjektive
             Perspektive" der "Welt als Augenblick und Idee" unver-
             bunden nebeneinander. Ihre Synthese im lebenden "Ich"
             ist äußerlich, ein erkenntnistheoretisch nicht erlaubtes
             Gebilde.
             Der Verfasser dieser Theorie ist aber der Ansicht, daß
             nur in diesem unvermittelten Nebeneinander die Wahrheit
             über Vermittlung sichtbar wird: Daß sie als etwas,
             das erreicht werden kann Ideologie bleibt, mit allen
             Konsequenzen ideologischer, also fremdbestimmter Gewalt.
             Die "Negative Dialektik" erscheint als der wahrhaft negative
             Ausweg: Unterordnung unter die Spielregeln oktroierter
             Objektivität.
             Daher ist bei aller Gültigkeit der Analysen Adornos das
             von ihm formulierte Resultierende nicht akzeptabel.
             Nach seiner eigenen Kategorie des Nichtidentischen, ist
             es mit dem Definierten nicht zu versöhnen. Dies übersetzt
             in die "Subjektive Perspektive" heißt: Kampf des
             Einzelbewußtseins gegen das Allgemeine. Und obwohl
             in Jedem auch das Andere enthalten ist, verbindet es sich
             nicht nach Art von Legierungen sondern bleibt in
             tätiger Auseinandersetzung um Vormacht und Freiheit.
                               --------------