Fred Keil Nr.215 1999
Gespräche im alten Turm
Die Silhouette des Leuchtturms war in klarer Nacht als schwarzer Körper nur schwach gegen den Sternenhimmel abgehoben. Bei Mondlicht stand er deutlich wie eine den Himmel stützende Säule vor aufgehelltem Grund.
Er war achteckig, hatte einen gläsernen Zylinder oben aufsitzen und um diesen herum einen Balkon. Dort standen zwei Flechtstühle, davor ein Fernrohr und manchmal saß da eine Gestalt und beobachtete die Objekte des Himmels. In solchen Nächten kam aus dem naheliegenden Wald eine weitere Gestalt, die in den Leuchtturm ging und bald oben auf dem Balkon nebem dem anderen Platz nahm.
Der Mann aus dem Wald begann dann ein Gespräch. Der Mann am Fernrohr hörte zu und selten gab er etwas zurück. Den Stimmen nach waren es alte Männer, vielleicht achtzig oder neunzig Jahre alt oder noch älter. Der Mann am Fernrohr hatte eine dunkle Stimme, die sich älter anhörte als die des Mannes aus dem Wald. Es sprachen also der Ältere mit dem relativ Jüngeren, der aber auch schon alt war.
"Weißt Du", begann an jenem Abend der Jüngere, während der Ältere ins Fernrohr sah:" ich habe heute in der Stadt im Zentrum in einem Cafe gesessen, draußen in der kühlen Luft. Ich las eine Zeitung. Eine Frau kam vorbei und sah mir in die Augen. Ich schätze, sie war fünfzig Jahre alt, also sehr jung. Sie sah mich an. Stell Dir vor, sie sah mich an. Ich habe das seit fünfzehn Jahren nicht mehr erlebt. Sie sah nicht einfach hin sondern sie wollte etwas von mir." Der Ältere antwortete:" Du hast dafür aber eine plausible Erklärung !?, Dämmerung oder etwas Ähnliches." Der Ton der Stimme war spöttisch erheitert. Der Jüngere antwortete:" Natürlich war es eine Trick, aber es war ein Zufall. Ich hatte die Zeitung vor dem Gesicht und meine Mütze auf. Sie sah meine Augen und die Mütze, alles Weitere nicht,- und dämmrig war es auch." "Hast Du nicht probiert was passiert, wenn die Zeitung weg ist ?" "Doch, aber sie ging gleich wieder. Ich weiß nicht ob sie mich gesehen hat." "Aber Du bist noch fleißig ?" "Ja, Du kennst meine Frau ja, sie ist nicht tot zu kriegen."
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Der Ältere wurde nun ernster, sah in sein Fernrohr und sprach dann:" Du hast in der letzten Nacht gesagt, es gibt keinen dritten Weg. Wieso ?" "Historisch gesehen deshalb, weil es kein freiwilliges Zurück gibt für die Staaten und Völker. Der Einzelne kann es machmal in seltenen Fällen, Völker nicht. Oder unter dem Erwerbstrieb betrachtet: Heute leben sechs Milliarden Menschen, in dreißig Jahren 12 Milliarden, es sei denn, durch Nahrungsmangel bleiben nicht soviele am Leben. Das wäre ein unfreiwilliges Zurück. Ebenso mit dem Erwerb des Wissens: Wissen verschafft neue Genüsse und Bequem- lichkeiten. Man erfindet keine Maschine, die eine abgelegte erschwerte Arbeit wieder notwendig macht. Die Kunst, das Wissen, der Luxus, der Konsum, alles Erwerbungen, von denen es kein freiwilliges Zurück gibt. Es gibt nur Vorwärts, das heißt Kampf, List, Verbrechen. Das bedeutet Hierarchiebildung um den Vorteil zu erlangen. Der erste Weg regelt das Aufstreben, die Konkurrenz, den Kampf, den Krieg durch erworbenes Kapital. Der zweite Weg regelt durch die gleichen Mechanismen, aber unter völliger Ver- deckung. Es darf bei dieser Form nichts aufgedeckt werden. Deshalb gibt es dann schwarz übermalte Textstellen, Lager, Diktatur. Der erste Weg ist oft ähnlich und dazu noch in anderer Weise gefährlich. Überzeichnet ist der erste Weg eine Methode des Terrors nach außen, der zweite eine Methode des Terros nach innen." Der Ältere hatte sich das angehört und dabei an seinem Fernrohr etwas eingestellt. Nun lehnte er sich im Stuhl zurück und sprach:" Wie ist es mit den friedlichen Zeiten, das Goldene Zeitalter Roms, die Jahrhunderttwende.." Der Jüngere erwiderte:" Ich habe auch den Eindruck, es wird allmählich besser, aber im Weltmaßstab sind Katastrophen von nie vorher gekannter Größe gewesen. Halb Afrika ver- hungert, Mexiko.... aber das weißt Du selbst." Der Ältere griff das Thema auf und sprach:" Der alte Selektionsmechanismus ist immer noch da, mit aller Grausamkeit der Natur. Die Zahl der Löwen wird durch Verhungern reguliert, und Menschen werden immer noch genauso in ihre Schranken ver- wiesen." "Andererseits die Zivilisation, - die verfeinerten Völker starben seit je aus. Aber warum ?" " Sie hatten Wichtigeres zu tun." Dabei lächelte der Ältere. "Heute sind sie einfach schlapp." Der Jüngere sagte: "Wenn man es prosaisch sehen will. Es steckt immer irgend etwas Schäbiges dahinter. Aber Reichsein ist schön !" " Das ist nicht sehr überzeugend, bei Deinem Lebenswandel." Der Jüngere lachte nun und erwiderte:" Ich glaube, ich habe mich geirrt, es ist schön sich vorzustellen Reichsein ist schön."
Der Ältere hatte nicht mehr recht zugehört, denn diese Art Gespräche hatten die beiden Herren schon sehr oft geführt. Es lief immer wieder auf Selbstbestätigung hinaus. Das wußten sie natürlich. Sie waren aber nicht ihre eigenen Sittenrichter sondern einfach etwas verspielt und kindisch,- wobei den Kindern in solchem Vergleich Unrecht getan wird.
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"Wenn wir eines Tages Besuch bekommen, wird sich alles klären", sagte der Ältere:" sie lassen sich in der Andromeda Galaxis nach drei Jahren ebenso scheiden wie wir und führen ihren Sternenkrieg wie wir unsere Weltkriege. Wir werden sie allerdings nicht verstehen, denn sie sprechen ja ihre Sprache. Aber das ist auch nicht nötig. Hast Du schon einmal eine zänkische Chinesin gesehen ?" Der Jüngere antwortete:" Eine Koreanerin, es war ganz genau dasselbe wie bei uns zu Hause. Man fragt sich, warum es über- haupt noch verschiedene Nationen gibt..." "Deshalb", sagte der Ältere,: "werden wir keinen Besuch bekommen. Da sie technisch weiter sind als wir, denn nur dann können sie die weite Reise schaffen, sind sie auch weiter in der Erkenntnis. Was wir hier entdecken, wissen dort schon die Schulanfänger. Man wird keine Reise machen nur um eine zänkische Koreanerin oder Europäerin zu sehen. Und was haben wir sonst noch zu bieten ?" Der Jüngere hatte geschmunzelt, wie es oft geschah, wenn der Ältere seine tiefsinnigen Ausführungen machte. Dann sprach er:" Sie werden uns kolonisieren, die Erde besetzen, ausrotten..." Diese Bemerkung war nicht ganz ernst gemeint. Der Ältere ging aber darauf ein:" Wir taugen für die höheren Wesen als Sklaven so wenig wie für uns die Affen als Sklaven taugen könnten. Und ausrotten ? - "
Nun hatte der Ältere im Fernrohr etwas gesehen. Er winkte den Jüngeren heran:" Heute ist der Ringnebel in der Leier sehr deutlich zu sehen. Er machte dem Jüngeren Platz, der nun durch das Rohr sah und dann sagte: " Sterne sterben mehr- mals. Ich denke wir haben es ganz gut als Nichtsterne." "Wir haben es sogar noch viel besser. Abgesehen von der Todesvorstellung sterben wir nie." "Ja, Epikur", sagte der Jüngere, als hätte er diesen Satz schon etwas zu oft gehört." Der Ältere bemerkte den Ton in der Stimme und sprach:" Junger Mann !, Epikur wird Ihnen vielleicht noch einmal hilfreich sein."
Der Jüngere wandte sich nun um und ging durch eine kleine Stahltür in das Innere des gläsernen Zylinders. Dort stand in der Mitte ein gläserner, mit Facetten versehener Zylinder, in dem früher einmal eine elektrische Lampe brannte, die den Schiffen den Weg durch die gefährlichen Untiefen anzeigte. Seit einigen Jahren war diese Fahrrinne nahe der Küste nicht mehr befahren worden. Es gab einen neuen Hafen, der auf einer weiter draußen im Meer gelegenen Route angesteuert wurde. Der Leuchtturm war vergessen worden. Die beiden Alten hatten ihn aufgesucht, weil der Ältere von Beiden den Turm noch aus seiner Jugendzeit kannte. Da er nun verlassen war, bot er sich als Ausguck für die Astronomen an. Der Jüngere setzte einen Wasserkessel auf einen Spirituskocher und bereitete den Tee vor. Während das Wasser sich erwärmte ging er wieder auf die Ballustrade zu dem Älteren und sprach:" Ich denke manchmal, daß ich auch ein alter Leuchtturm bin, der nicht mehr den Weg zeigen muß, weil die Fahrrinne ganz anders verläuft als früher." Der Ältere erwiderte:" Das täuscht. Der Markt der Meinungen verdaut alles. Wenn Du in die Stadt gehen willst, bitte ! Jeder findet seine Jünger. Du mußt nur lange genug dasselbe
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sagen. Erst glaubt es einer, dann zehn und zuletzt das halbe Land." "Aber sie ändern nichts !" "Oh doch, sie ändern alles. Nur machen sie es ganz anders als Du es beabsichtigst. Wenn Du die Bedürfnislosigkeit anpreist und Du Erfolg hast, dann machen Sie in vierhundert Jahren einen vergoldeten Gipskopf mit Deinem Namensschild darauf und Deine Sektenbrüder haben Villen auf den Bahamas." Der Jüngere lachte:" Aber das weiß ich doch. Dennoch ist es ein nostalgisch schönes Spiel sich vorzustellen die Leute würden sich bessern." Der Ältere sagte:" Damit wäre Nietzsche nicht zufrieden gewesen, man hätte sie schon Bösern müssen."
Der Jüngere war in den Glasaufbau zurück gegangen und brachte den Tee hinaus. Während er Platz nahm sagte er:" Diese romantische Vorstellung vom Bösen, mit dem Casanovablick auf frühreife Früchtchen, ist aber sehr überholt." "Ja, ja, ich weiß, draußen würde ich so etwas nicht mehr sagen." "Nicht mehr ?" Der Alte lächelte, wurde aber dann schlagartig ernst:" Seit 1915 oder 1916. Da begann der Krieg ein Monster zu werden. Später kamen ja diese braunen Nietzsche-Interpreten, die das Böse in den Lagern feierten. Scheußlich, nur schon daran zu denken."
Am sternenklaren, schwarzblauen Himmel war der Saturn auf- gegangen. Der Ältere stellte das Fernrohr darauf ein und bot dann dem Jüngeren an hindurch zu sehen. Während dieser den Saturn betrachtete sagte der Ältere:" Diese Geschichte mit den zwei Wegen geht vielleicht an den Problemen vorbei. Ich hatte da eine Idee, das Ganze in einem Beispiel zu verstehen. Es sind doch vielerlei Lebensformen im Weltraum denkbar. Warum sollten also nicht viele Wege der Gesellschaft offen stehen ? Andererseits können wir vielleicht sehr viele Lebensformen gar nicht wahrnehmen, weil sie für uns nicht wahrnehmbnar sind. Das heißt auf die Gesellschaft bezogen, viele Wege sind nicht durchsetzbar, weil sie nicht wahrnmehm- bar sind." "Ich verstehe das nicht." "Denk Dir einmal Lebewesen aus, die zwischen den Galaxien leben, Wesen aus feinstverteilten Gasen, groß wie Galaxien und so langsam in ihren Bewegungen, daß wie sie nicht erkennen können." Der Jüngere meinte nun:" Und auf Gesellschaft angewandt meinst Du das etwa so, daß wir Entwicklungen nicht erkennen, weil sie unsere Wahrnehmungsfähigkeit überschreiten ?" "Ja, aber noch weiter: Wir können bestimmte Wege nicht ein- schlagen, weil wir ihre mutmaßliche Richtung nicht wahrnehmen." Der Jüngere hatte sich vom Fernrohr gelöst und fragte: "Ist es dann nicht gleichgültig ob es so etwas gibt, was es für uns wegen unserer Beschränkungen nicht geben kann.?" Der Ältere sagte:" Das wäre natürlich gleichgültig, wenn die Verhältnisse so einfach wären: Suchen und Finden und Aussuchen und Probieren. Aber es ist nicht so. Wir erfinden was wir suchen und dann auch finden." Der Jüngere starrte den Älteren an:" Deine Lieblingsidee, die Produktion, aber hier begreif ich es nicht."
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"Oh doch, Du weißt es. Selbst in den trockenen Wissenschaften wird es so gemacht. Gibt es ein Atom ? Nein, wir haben ein Modell gemacht und dann etwas gesucht und gefunden, was ihm nahekommt. Wir haben das Modell dann verbessert und wiederum gesucht und gefunden." "Also wir erfinden die Gaswesen im Raum und dann finden wir sie ? - Der Stuhl den Fichte mit seinen Gedanken gemacht hat indem er ihn denkt." Dabei lächelte der Jüngere etwas merk- würdig. "Lach nur, aber es ist fast so und doch anders. Wenn Du etwas probierst, dann kann zweierlei geschehen: Es trifft oder trifft nicht, also Versuch und Irrtum. Das gilt doch überall. Aber ist aus dem Irrtum zu schließen, daß jeder Versuch jedesmal zum Irrtum führt ?" "Du siehst also doch die Möglichkeit eines dritten Weges ?" Der Ältere erwiderte:" Der dritte Weg ist vielleicht so ein Irrtum, aber der vierte oder meinetwegen der 110 sind machbar. Es kommt auf die produktive Phantasie an." "Die nirgendwo gewünscht wird. Schon den Kindrn wird sie mit fünfen und sechsen in der Schule ausgetrieben." "Da muß man nachsichtig sein. Welcher Fürst der Gegenwart will von Fürsten der Möglichkeiten entthront werden ? Und doch ist es so." Der Alte trank seinen Tee, sah hinaus zu dem heller werdenden Streifen hin, der die Dämmerung ankündete und sprach:" Die Welt willst Du immer noch verbessern." "Gewiß." "Du hast nicht so viel dazu gelernt in den letzten dreißig Jahren ?!" Der Jüngere lachte und sprach:" Ich denke nicht mehr, daß ich Erfolg mit meinen Unternehmungen habe, nicht mehr den Erfolg, der hinter solchen Verbesserungswünschen steht. Aber es ist notwendig. Wer Beine hat muß laufen..." "Und wer Gedanken hat, muß die Leute bessern ?", warf der Alte ein. "Ich bin schon etwas zurück gegangen. Es gibt Einzelne, denen es gefallen wird was ich sage. Es wird sich auch etwas ändern. Einiges, ganz wenig vielleicht wird sich bessern." "So wird es sein", sagte der Ältere und sprach weiter: "In bösen Zeiten ist es leicht neue Wege zu wünschen. Man will nicht den Krieg und den Terror. Aber wohin gehen wir, wenn es wirklich gelingt die großen Katastrophen in Zukunft zu vermeiden ?" Damit stand er auf und sagte:" Ich muß nach Hause." Der Jüngere schloß sich dem an. Die beiden alten Herren gingen die Wendeltreppe im Turm hinab und verließen den Ort. Der Jüngere ging in den Wald, der Ältere stieg auf sein Fahrrad und fuhr am Strand entlang in die entgegen gesetzte Richtung.
Zwei Tage später ging der alte Professor Berg in das Straßen- cafe, welches gegenüber der Bushhaltestelle im Stadtzentrum lag. Da es warm war, konnte man draußen unter den Sonnen- schirmen sitzen. Kurz darauf kam der fast ebenso alte Herr Korthaus vorbei. Er sah den Professor dort sitzen, ging auf ihn zu und sprach:" Kann ich mich zu Ihnen setzen." "Bitte." Die beiden alten Herren waren eben die, die im alten Turm
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gewesen waren und dort ihre Gespräche geführt hatten. Es gab unter ihnen die Vereinbarung außerhalb des Turmes die Sie Form beizubehalten, ein kleiner Spleen, der irgendwas bedeutete. "Gestern war ich tanzen im "Paradiso", sagte der Professor. "War Ihre Frau mitgegangen ?", fragte Korthaus. "Diesmal war ich allein. Ich habe mit einer sehr jungen Frau einige Male getanzt. Sie war sehr schön, etwa fünfzig Jahre alt, blond etwas füllig." "Das war so einfach möglich ? War es sehr dunkel ?" "Ja, das ist im Paradieso vorgesehen. Bei Licht wäre sie vielleicht nicht so zugänglich gewesen." "Wie ging es weiter ?" fragte Korthaus. Wir haben uns dann zusammengesetzt. Sie erzählte von einer interessanten Begegnung im "Venezia". Sie sagte daß "er" leider nicht ganz zu erkennen gewesen war, er hätte eine Zeitung und eine Mütze vor dem Gesicht gehabt." Dabei lachte der Professor. "Das war sie", meinte Korthaus. "Das dachte ich auch. Ich habe nicht weiter gefragt." Korthaus war etwas unruhig geworden, denn die besagte Frau hatte sein Interesse geweckt. Er wollte aber nicht weiter nachfragen. Der Professor erzählte aber von sich aus weiter: " Sie ließ durchblicken, sie lebe alleine. Vielleicht sucht sie einen neuen Mann. Ich habe sie nicht im Unklaren gelassen. Es war wieder so eine kostspielige Aufrichtigkeit, denn sie wollte dann sehr bald allein nach Hause gehen als sie erfahren hatte, daß ich mit meiner Frau zusammen lebe. Sie hatte vor meiner Erklärung davon gesprochen, daß sie jeden Mittwoch ins Paradiso geht. Ich denke sie wird am nächsten Mittwoch nicht hingehen." "Wenn ich ihr begegnen würde, müßte ich also den Junggesellen spielen." "Unbedingt." "Und Sie hatten nicht das Bedürfnis sie ins Bett zu kriegen ?" Der Professor antwortete:" Ich weiß es nicht. An diesem Abend war mir nicht nach Flunkern zumute. Es gibt Frauen, wo ich nur den geraden Weg gehen kann." "Sie meinen, es gibt Ärger, wenn sie erst später bemerkt, daß man gelogen hat und nicht zu haben ist." Ja, das auch. Aber andererseits wissen sie meist, wenn man flunkert. Sie spielen dann die Rolle :Ich wußte von nichts, mit. Ohne Heuchelei und Maskerade geht meist nichts mehr." "Ich würde in diesem Falle schon flunkern können. Wieviel Zeit haben wir noch eine Beute zu erlegen, Monate, Jahre ?" "Ich weiß", sagte der Professor. Vielleicht sollten wir in diesem Fall eine kleine Falle bauen." "Wie diese Geschichte vor 46 Jahren in Arcachon ?" "Genau so." "Was schlagen Sie vor ?" Der Professor sagte:" Wir gehen Donnerstag zusammen ins Paradiso. Wir sind etwa um 21 Uhr dort. Die Dame wird Mittwoch zu Hause bleiben und Donnerstag unbedingt hingehen. Länger als einen Tag hält sie das nicht aus, ihre Gewohnheit zu verschieben. Sie stellen sich einige harte Sachen auf den Tisch und versuchen abwesend auszusehen. Ich werde so tun als ob ich Sie beruhigen müßte. Dann machen wir es wie damals in Arcachon." "Sie sind mein alter Hochschullehrer ?" "In diesem Punkt können wir vom alten Muster abweichen. Damals war unser Altersunterschied offensichtlich, heute können wir ehemalige Kommiltonen sein." Korthaus schüttelte den Kopf und sprach:" Sie sind also der Ansicht, daß ich Sie eingeholt habe Herr Professor ?" "Nein auf keinen Fall, ich bin nur etwas langsamer..." Korthaus lachte und sagte:" Daran soll es nicht
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scheitern. Wenn Sie etwas bemerkt, umso besser. Sie kann sich dann überlegen ob sie mitspielt." "Ja, wenn sie mitspielt will sie ins Bett, wenn nicht, wird sie sich unter einem Vorwwnd verabschieden." Korthaus hatte unterdessen seinen Kaffee bekommen. Er rührte etwas gebrechlich wirkend den Zucker hinein. "Wenn sie aber alles glaubt, gibt es doch Ärger wenn sie es heraus bekommt." "Daß Sie auch gebunden sind ?!" "Sie sollte es zum richtigen Zeitpunkt bemerken, das wäre sicherer", meinte Korthaus :" am Besten erst, wenn der Fisch an der Angel hängt und nicht früher." "Mein lieber Korthaus, es hat in Arcachon geklappt, dann geht es auch hier. Wir haben doch dazu gelernt."
An jenem Donnerstag ging die Dame, deren Eroberung vorgesehen war mit ihrer Freundin Loni ins Paradiso. Sie war 55 Jahre alt, also etwas älter als jene. Als die Beiden an einem Tisch in der Nähe der Tanzfläche Platz genommen hatten, sahen sie die beiden Herren an einem anderen Tisch sitzen. Die Dame sprach zu ihrer Freundin:" Dort ist der Mann mit dem ich in der letzten Woche getanzt habe. Den Herrn daneben habe ich aber auch schon einmal gesehen." "Der wäre doch etwas für mich ?", meinte Loni. Ihre Freundin antwortete:" Nur zu, ich bin an dem Älteren interessiert, aber er traut sich nicht wegen seiner Frau." "Wie kommst Du darauf ?" " Er hat ganz eifrig von seiner Ehefrau gesprochen. Das ist typisch." "Was willst Du machen ?" "Ich werde eben auch gebunden sein." "Du bist es doch nicht !" "Er soll es aber denken. Vielleicht wird er etwas mutiger, wenn er sieht daß ich ihn nicht heiraten will." Nun fragte Loni:" Soll ich auch gebunden sein ?" "Natürlich, so wie der Jüngere aussieht, ist er auch verheiratet. Der wäre nicht so gut in Schuß, wenn er keine Frau hätte. Sieh sie dir an, beide gepflegt gekleidet und noch ziemlich fit. Wenn sie modisch gekleidet wären, könnten es Junggesellen sein, die auf sich achten. Wären sie zauselig, dann wären sie sowieso allein." "Aber Roswitha, ich kann doch nicht." "Wenn Du ihn haben willst, wirst Du müssen. Glaubst Du denn, sie würden sich mit uns abgeben, wenn sie befürchten müßten, wir würden ihnen einen Ehekrach provozieren können." "Doch, das verstehe ich. Wie soll das gehen ?" "Wir müssen vorsichtig sein. Wenn wir zu offensichtlich von unseren "Männern" reden, durchschauen sie uns. So alte Hasen täuscht man nicht leicht. Sie werden uns auch zu täuschen versuchen. Ich habe mich bereits als Alleinstehende vorgestellt. Du machst das bei Gelegenheit auch. Aber dann müssen wir uns behutsam verplappern, damit sie merken, daß wir zu Hause Männer haben. Wenn sie mitspielen, wollen sie ins Bett, wenn nicht, dann ersparen wir uns unnötige Konversationen."
Korthaus bestellte zwei Schnaps und ein großes Bier, der Professor nahm ein Mineralwasser. Beide hatten sich etwas geschminkt, nicht um jünger zu wirken sondern um den Eindruck zu erwecken, sie wollten älter wirken und wären aber eigent- lich jünger. Das funktionierte wirklich, allerdings nur deshalb,
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weil Korthaus vor vielen Jahren auf der Bühne gestanden war und beim Maskenbildner einiges gelernt hatte. Korthaus wirkte in sich gekehrt, der Professor redete auf ihn ein:" Ihr Sohn wird sich wieder fangen. Eine Depression nach einer Trennung ist nichts seltenes..." Die beiden Damen hatten nun bemerkt, daß die beiden Herren sich gar nicht für sie interessierten. Das machte sie neugierig. Loni sprach:" Die Beiden bedrückt doch etwas, sieh nur wieviel Gedränke der Jüngere auf dem Tisch hat. und der Ältere redet auf ihn ein, als ob er ihn aufmuntern wollte." Roswitha antwortete:" Ich glaube wir haben den falschen Tag erwischt." Als aber die Musik zum Tanzen einlud und mehrere Paare zur Tamzfläche gingen, stand der Professor auf, ging zu dem Tisch der beiden Damen und forderte die Jüngere zum Tanz auf. Die Ältere begrüßte er flüchtig. Die Beiden tanzten zusammen und begannen die übliche Konversation. Loni erledigte ihre Aufgaben rasch. Sie verplapperte sich, als die Sprache auf Roswitha kam:"... jede Woche kann sie nicht ausgehen, ihr.... ihre Mutter braucht sie sehr." Der Professor hatte natürlich gemerkt, daß die Dame von einem Mann sprechen wolte und gerade noch die Verbesserung mit der Mutter anbringen konnte. Er tat, als habe er es nicht bemerkt. "Was hat die Mutter Ihrer Freundin, - Entschuldigung..." "Nein, nein, fragen Sie ruhig. Ihre Mutter ist sehr gehbehindert, ein Knochenleiden..." Die Musik war etwas lauter geworden. Nach einer Weile fragte die Dame:" Was ist mit Ihrem Begleiter ?, er wirkt so still, - aber jetzt bin ich zu.." "Nein, fragen Sie auch. Mein Freund hat Probleme mit seinem Sohn, eine Scheidung." "Oh das tut weh, wenn ich meinen..." Wieder tat sie, als ob sie sich verplappern würde und berichtigte sich sofort:" meinen Sohn so sehen würde, machte es mir auch Kummer. Dem Professor war klar, daß die Dame ein Spielchen spielte. Er spielte aber mit, denn es kam ihm gerade recht. Was ihn allerdings irritierte war, daß die Freundin von Loni, die Dame, mit der er in der Woche vorher getanzt hatte, offensichtlich ihn ansah und etwas von ihm wünschte. Das brachte Korthaus Ansinnen in Schwierigkeiten. Außerdem schien seine Tanzpartnerin sich für Korthaus zu interessieren. Nach einigen Tänzen brachte er Loni zu ihrem Tisch zurück und ging wieder zu Korthaus. "Mein Freund, wir müssen umdispo- nieren, die Ältere will sie, die Blonde will mich. Korthaus sah den Professor an und sagte:" Sie sind sicher ?!" "Aber ja. Ich habe auch nicht die Absicht die veränderte Lage so zu verwenden, daß ich mit der Blonden etwas anfange. Mir ist nicht danach." Korthaus kannte seinen Freund so lange, daß er nicht an dessen Aufrichtigkeit zweifelte. Er war von der neuen Perspektive nicht begeistert. Sein in sich gekehrtes Wesen brauchte er gar nicht mehr zu spielen, es war jetzt aus der Situation heraus richtig. Der Professor sah sich das an und sprach: Wir haben noch eine kleine Chance. Wir müssen die Damen dazu bringen sich umzustellen. Das braucht aber Zeit." "Was haben Sie vor ?" Zunächst muß ich als Bewerber ausscheiden, am Besten Prostataresektion, das klappt immer." Korthaus meinte:" Sie erinnern sich aber an unser Abenteuer in Düssseldorf 1951 ?" "Ja", erwiderte Professor Berg: " Hinterher waren Beide enttäuscht und keiner kam zum Ziel. Aber das müssen wir riskieren." "Gut, ich bin dabei, man kann ja nur lernen."
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Bei der nächsten Gelegenheit forderte Korthaus die blonde Dame zum Tanz auf. Er stellte sich als Alleinstehender vor und versuchte herauszufinden ob sie sich für ihn erwärmen könnte. So nebenbei ließ er durchblicken, daß sein Freund Berg keine Prostata mehr hat und daher Frauen nur noch zu Gesprächen an sich herankommen läßt. Und dessen Frau wäre auch zu bedauern, so vital und dann ein kranker Mann. Die Dame reagierte sehr unzufrieden. "Das müssen Sie mir mitteilen, ist das nicht sehr indiskret von Ihnen. Was verfolgen Sie eigentlich für Absichten. So erreicht man doch nichts !" Korthaus fühlte sich abgekanzelt wie ein unartiges Kind. Er senkte den Blick und schlich sich gewissermaßen am Ende des Tanzes von der Fläche. Als er zu Berg zurückkam sah dieser ihm an, daß etwas schief gelaufen war. Korthaus begann:" Ich habe es verdorben. Sie hat meine Enthüllungen über Sie sehr ungnädig aufgenommen. Vielleicht ist das nicht unserem Alter entsprechend. Damals in Arcachon waren wir doch etwas jünger." "Nein mein Lieber Freund, das ist nicht der Grund. Die Dame hat sich bereits festgelegt. Sie ist nicht so jung wie unsere beiden Mädchen in Arcachon. Wenn die Damen in der letzten Lebenshälfte stehen, sind sie nicht mehr so flexibel. Außerdem so viel jünger waren wir nicht. Ja 1870, da war ich jung. Ich durfte nicht einmal schießen. Die Stiefel durfte ich putzen." Korthaus meinte:" Ich war jedenfalls noch nicht geboren und in Arcachon..." "Ach Korthaus, sie haben 1915 an der Marne..." "Auch nur Botengänge gemacht. Ich durfte auch nicht schießen." "Gewiß, aber in Arcachon waren Sie doch schon etwas nah an der Pensionsgrenze." "Sie meinen also, es war nicht verkehrt so vorzugehen." Berg antwortete:" Nein, es war nur nicht ganz dem Alter der Dame gemäß." "Ja, das ist immer wieder schwierig für mich. Eine Fünfzigjährige ist aus meiner Perspektive nicht viel älter als eine Fünfundzwanzigjährige." Der Professor stimmte zu. Er bemerkte, daß die Blonde sich immer noch für ihn interessierte. Es mochte sein, daß sie den Enthüllungen von Korthaus keinen Glauben geschenkt hatte, oder vielleicht suchte sie einen Gesprächspartner und keinen Mann fürs Bett, in ihrem Alter nichts Ungewöhnliches, dachte der Professor. Die beiden Frauen unterhielten sich nun angeregt. Roswitha stand auf und ging entschlossen zu dem Tisch der beiden Herren. Sie stellte sich vor ihn und sagte:" Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen ?" Verdattert sagte der Professor:" Bitte, nehmen sie Platz." Die Dame setzte sich und sprach:" Ein Freundesgespann wie Sie beiden ist selten. Es ist doch schön zu sehen, wie einem kranken Freund beigestanden wird. Dabei lächelte sie spöttisch und sagte:" mehr wollte ich nicht sagen, nur meine Hochachtung für so viel Freundschaft zeigen." Die beiden Herren sahen sich an, sahen sie an und wußten nichts dazu zu sagen. Die Dame stand wieder auf und ging zu ihrem Tisch und ihrer Freundin zurück. Eine Weile sagten die beiden Herren nichts mehr. Dann sagte Korthaus:" Uii, sie hat uns durchschaut.""Gewiß, es ist nicht so gelaufen wie damals in Arcachon. Kommen Sie, lassen sie uns gehen." Vor der Tür des Paradiso faßte Korthaus den Professor am Arm und fragte: "Wie war das damals in Arcachon ?" "Nun die eine, ich meine die... den Namen weiß ich nicht mehr, sie war blond und füllig. Nein, das war in Köln. Sagen Sie Korthaus, sind Sie sicher, daß das in Arcachon war ?" Korthaus überlegte, sah zu der Leucht-
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reklamne, kratzte sich am Kinn und sprach:" Da war etwas in Arcachon, da war etwas schiefgelaufen." "Nein Korthaus, das war in Köln... aber wenn Sie mich fragen, ich habe es vergessen."
In der folgenden Nacht trafen sich die zwei alten Männer wieder im Leuchtturm. Die Vermischung von Traum und Wirklichkeit ist mitunter be- ängstigend. Der Professor und sein Freund waren darüber zu anderer Ansicht gelangt. Die Trennung in zwei Welten: Turm hier und Jedermannswelt dort erlaubte es ihnen, in den Nächten ihrer Phantasie freie Bahn zu lassen. Korthaus sagte: "Ich möchte einen Tee trinken, soll ich Dir einen mitmachen ?" Berg bejahte. Korthaus ging in die Glaskanzel und setzte den Wasserkessel auf den Kocher. Er guckte durch die Scheiben auf die Wasserfläche. Das Mondlicht ermöglichte eine gute Sicht hinaus auf das Meer. Einige Schiffe fuhren in den Hafen. Ihre bunten Lichter zogen langsam vor dem Horizont entlang. Als der Tee fertig war, ging er auf die Ballustrade, setzte sich zu Berg und begann:" Es gibt keinen triftigen Grund eine unwirkliche Szenerie nicht auszumalen. Trotzdem vermeiden die Leute das wie die Pest, selbst Künstler sind furchtsam in dieser Sache." Berg antwortete:" Wir haben darüber schon gesprochen, erinnerst Du Dich ?" "Anläßlich Deiner Märchen, die Du im Krieg geschrieben hast ?" "Ja, antwortete Berg:" das hat viel Ärger gegeben. Einige jungen Leute waren der Ansicht, wenn wir in Lebensgefahr sind, die Soldaten sterben und verstümmelt werden, Menschen verhungern, sei das fast ein Hohn, Märchen zu schreiben. Der berühmte "Hans Guck in die Luft", wird auch bestraft für seine Phantasie, die er im Wolkenhimmel sieht. Ich habe versucht ihnen das klarzumachen. Was ist Unfreiheit den anderes als das Aufgehen in determinierten Situationen ?!" "Besonders, wenn sie nur determiniert erscheinen." "So weit bin ich nicht gegangen. Sie hätten geglaubt, sie seien mitschuldig an ihrer Misere, wenn ich den Determinismus angezweifelt hätte. Sie fühlten sich aber als Opfer. Wie dem auch sei, Opfer oder Opfer in einer Legierung mit Täter, das war nicht der entscheidende Punkt. Die Kameraden haben befürchtet, die Konkurrenz einer fiktiven Welt mit ihrer Realwelt würde ihnen Nachteile bringen, sie schädigen. Das ist nicht unbegründet. In einer üblen Situation, und unsere Lage war 1917 in Flandern äußerst übel, ist eine fiktive Welt nicht ungefährlich, man bekommt Sehnsucht nach einer besseren Lebenslage, manche verzweifeln daran, daß sie nicht erreichbar ist. Wir neigen dazu die Bilder zu verdrängen, wenn sie unerfüllbar sind. Ich habe damals wochenlang das Foto unserer Familie nicht angesehen, das Heimweh hätte mich sehr geschmerzt. Dennoch, es ist verkehrt. Freiheit ist auch die Stärke Risse in der Szenerie des Gedachten auszuhalten." Korthaus sagte:" Ich habe damit auch experimentiert. Man muß auf eine verrückte Weise innerhalb der geträumten Illusion sich ihr überlassen und doch nicht an der Unerfüllbarkeit ver- zweifeln, eine Art Voyuerismus der Seele, Befriedigung an der Betrachtung von Unerreichbarem." "Aber vergiß nicht das Wichtigste:" Die fiktive Welt verflechtet sich mit der sogenannten Wirklichkeit. Meine Romanfiguren sind alle lebendig geworden. Die erinnerte Wirklichkeit und die erinnerte fiktive Welt sind gleichrangig repräsentiert in den
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Gehirnzellen." "Manche werden aber verrückt dabei", meinte Korthaus. "Nein, verrückt werden nur die unproduktiven Seelen. Wenn die fiktive Welt durch äußere Einflüsse erzeugt worden ist, wie etwa im Trauma, dann erlebt der Geschockte das wie einen Alptraum, er ist ausgeliefert. Er hat natürlich auch gar keine Übung damit umzugehen." "Du meinst die Übungen, Verluste zu verarbeiten ?" "Auch das. Wenn ich einen Roman schrieb, war das Eingehen in die fiktive Welt immer verbunden mit dem Bewußtsein der Grenzen dieser fiktiven Welt. Umgekehrt allerdings ist etwas noch wichtiger: Die Grenzen der wirklichen Welt bewußt zu haben." Korthaus sagte nun:" Ich erinnere mich an ein Gespräch, das wir 1922 in Köln hatten. Es ging um die Kommunen in Rußland. Erinnerst Du dich ?" "Ja, ich hatte mit Reich in Berlin gesprochen. Für ihn war alles klar. Er sagte:" Die Leute haben die Sexualverneiunung ver- innerlicht. Sie kennen sich selbst nicht und deshalb kippen sie nach den Schwierigkeiten in ihren Kommunen wieder in die alten Verhaltensweisen zurück. Sie halten das für Natur, aber es ist verinnerlichte Kultur." Korthaus meinte:" Damals hast Du mir Deine Gedanken zur Wirklichkeit dargestellt an diesem Beispiel. Du sagtest, daß die Erkenntnis der eigenen Grenzen der erste Schritt zur Freiheit ist, dieses asiatische "Erkenne Dich selbst". Der Professor erwiderte:" Aber ich habe daraus nicht gefolgert: Bleibe wie Du bist, sondern ändere Dich und definiere Dich selbst." "Aber es ist ja gescheitert." "Natürlich ist es gescheitert. Die Kommunisten waren voll Taten- drang, sie kannten sich selbst nicht und sie wollten es auch nicht. Sie sagten, jeder ist gut, jeder war gut, nur der Kapital- ismus hat alles verdorben. Aber es wäre besser gewesen zu er- kennen, daß man nicht gut ist. Das ist auch keine Frage der Moral, sondern der Stärke und Schwäche. Der Stalinismus hat denn auch allen deutlich gemacht was da von innen heraus kommt." "Du hast aber auch in dieser Sache nie resigniert !", meinte Korthaus. "Jein, also einerseits doch, andererseits nicht." "Deine Individualismustheorie." "Ich bin auf Nietzsche zurück gekommen. Er sagte, der Einzelne ist ein Endpunkt, alle andere ist nur die Menschheit. Es wäre doch lächerlich, wenn die Pfauen versuchen wollten, den Weibchen die gleichen Federn wachsen zu lassen wie den Männchen. Die Kommunisten wollen eben das. Diese typisch kommunistische Alternative: Alle gleich oder Untergang, ist so unvernünftig, daß es beinahe rätselhaft ist, daß sie soviel Anhänger fanden." "Der Einzelne kann sich befreien, aber die Menschheit als Ganzes nicht ?", fragte Korthaus. "Doch, alle werden freier, aber sehr langsam. Der Einzelne als gelungenes Ausnahmeexemplar ist aber so weit voraus, daß er die Menschheit als unfrei erlebt. Damit tut er ihr Unrecht. Aber es ist verständlich, die Zeit der Hexenverbrennungen ist noch nicht vorbei. Heute verbrennen die Außenseiter sich selbst, werden nach Nietzsches Worten vom Minotaurus ihres Gewissens zerrissen." "Das ist also etwa der Themenkreis über die Grenzen der Wirk- lichkeit," fragte Korthaus.
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"Nicht vollständig, aber es ist eine vertrackte Sache. Jede Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Denkens und Fühlens zeigt, daß die Bindungen an die Wirklichkeit viel stärker sind, daß man selbst diese Wirklichkeit und ihre Unfreiheit in einem viel tieferen Maße selbst erzeugt, als man es jemals für möglich hielt. Aber zugleich zeigen sich die Möglichkeiten der Veränderung. Jede von Ihnen verlangt nach einem gründlichen Training, denn die Gedanken sind nur für Momente frei, Frei- werden geschieht nur durch Training." "Damit hat man auch schon das Scheitern der Weltverbesserer umschrieben ?!" "Ich denke ja. Sie wollten den Reichen das Geld abnehmen und das System umkrempeln, aber nicht sich selbst !" Korthaus dachte nach, trank den kalt gewordenen Tee und sagte: " Es gab diese Studentenrebellion in den sechsziger Jahren, da wollten sich doch einige auch selbst ändern. Erinnerst Du dich an Marcuses Gedanken einer neuen Sensibilität ?" "Ja", bestätigte Berg und fuhr fort: "Aber sie haben den Gedanken der harmonischen Zeit der Vorgeschichte weiter gepflegt und die Augen vor dem Raubtier in sich selbst verschlossen. Diese Schmuseideologie war ganz schön verlogen. Wenn man ehrlich wird muß man die Bosheit und die Ungleichheit der Menschen zugeben, nicht um sie zu festigen aber um ihnen gerecht zu werden. Es ist nicht die Frage, ob den Hungernden in der Welt geholfen wird. Ironischerweise haben die kapitalistischen Länder viel für die Ärmsten getan, nicht die Kommunisten. Etwas ähnlich Paradoxes ist auch, daß noch in unserer Zeit die "Linken" demonstrieren gehen, wenn es einem sozialistischen Diktator an den Kragen geht. Aber mir ist nicht bekannt, daß die linke Jugend Europas auf die Straße gegangen wäre als in Bosnien die Moslems massakriert wurden." Damit nahm er seinen Tee, blickte auf das Meer hinaus und schwieg.
"Die Gesellschaft in der Geschichte", begann Berg nach einer Weile, ist eine Frage der Evolution und der Erziehung. Die Balance, schwer zu erhalten. Man braucht mehr, weil das Mehr überlebt. Langfristig ist die Balance überlegen. Im Gemeinwesen, das ausbalanciert ist, werden die besseren Überlebenswaffen entwickelt. Im Individuum, das ausbalanciert ist geschieht das Gleiche. Die Erziehung zur Balance, sie ist noch nicht so weit fortgeschritten." "Du denkst an die Konkurrenz der Staaten ?", meinte Korthaus. "Das ist sekundär, es konkurrieren Bewußtseinsarten miteinander. Merkwürdig bleibt, daß immer Rom abstirbt, die Savanne überlebt. Aber die Zeiten ändern sich." "So daß sie Zivilsation sich durchsetzt ?" "Meinst Du ?", kam die Gegenfrage von Berg." Korthaus meinte:" Ich frage mich, was ist schwerer, die Savanne zu zivilisieren oder das Aussterben Europas zu verhindern." Berg antwortete: "Das ist noch immer unentschieden. In den letzten 3000 Jahren schreitet die Zivilisation voran." "Das kann ich nicht sehen. Die Techniken sind erweitert worden, aber die Erde wirkt doch sehr entgleist", widersprach Korthaus. "Du hast Recht. Es heizt sich alles auf wie zu einem Finale." "Deren beide Übungsstücke wir erlebt haben", warf Korthaus ein. "Die Frage ist. was bleibt übrig. Du kennst mich ja. Das Individuum taucht wieder auf, das allein ist wichtig."
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"Nein, das Individuum ist Folge der Weiterentwicklung. In der Savanne taucht es nicht auf", widersprach Korthaus. "Auch das ist wahr", sagte Berg: "Wir haben aber nur die Gegenwart, eigentlich nur den Augenblick. Wenn der gelingt, - was soll noch gelingen ?" "Es ist ein bißchen Wahnsinn dabei es so zu sehen." Berg widersprach nicht. Er holte seine Teetasse und sprach: "Unsere Stärke ist die Phantasie. Als Cirano de Bergerac von der Mondfahrt träumte, war das wahnsinnig. Aber vor jedem großen Sprung steht der wahnsinnge Gedanke, daß er gelingt. Es gelingt allerdings vieles nicht. Aber,- der einzelne Fehltritt ist uninteressant. Entscheidend ist ist die Methode." "Ich gebe auf", sagte Korthaus lachend: "Die Rolle des Antipoden liegt mir nicht."
Einige Tage später ging Korthaus mit seiner Frau in der Innen- stadt einkaufen. Er ging geduldig mit ihr von einem Bekleidungs- geschäft zum andern, war aber in Gedanken woanders. Als die Beiden vor einem weiteren Geschäft angelangt waren, sagte Kort- haus zu seiner Frau:" Ich bleibe hier in der Sonne stehen, wenn Du dort reingehst, einverstanden ?" "Mach nur, aber lauf nicht weg !" Dabei lachte sie etwas, denn ihre Antwort war nicht ernst gemeint. Als er dann allein vor den Schaufenster stand und vor sich hin dachte, wurde er von Professor Berg angesprochen, der gerade vorbei gehen wollte. " Sie hier, vor diesem Geschäft." "Meine Frau", damit zeigte er in den Eingang. Berg nickte bedeutsam, zog die Brauen hoch und sagte:" Es ist besser, wenn ich weiter gehe." "Bleiben Sie ruhig. Es wird eine Weile dauern, sie sucht nach einem bestimmten Teil, das es hier nicht gibt." Der Professor blieb also und sagte:" Ich würde gern noch einmal Tanzen gehen, so wie 1897 auf dem Dorffest von Beyenburg bei Schwelm." "Das würde mir auch gefallen. Aber es gibt hier keine Dorffeste mit Tanz um diese Jahreszeit, nur Bierzelte." Dabei machte er ein Gesicht, welches offensichtliches Mißfallen über die Bierzelte ausdrückte. Berg meinte:" Aber es gibt doch Diskotheken." "Oh weh", sagte Korthaus, "das gibt Schwierigkeiten." Berg klopfte Korthaus auf die Schulter und meinte:" Korthaus, Sie sind doch nicht etwa alt geworden ?!" "Nein, das nicht, aber wir kommen da nicht rein, Greise und Hunde und..." "Korthaus !", sagte der Professor streng: wenn Sie so reden möchte man vergessen, daß Sie 1955 in die Todeskugel von Ratz- witz geklettert sind und dann durch die Luft flogen ohne ver- letzt zu werden." Das war ein Thema, welches Korthaus Ehrgeiz in jedem noch so aussichtslosen Fall weckte, wie man schlafende Doggen weckt. "Professor Berg, ich habe keine Altersprobleme ! Wir werden die Diskothek besuchen, lassen Sie mir drei Tage Zeit." Berg sah auf den Boden, dann in das Geschäft, ob nicht Frau Korthaus schon zurück käme und meinte:" Sie haben schon einen Plan ?" Korthaus sagte:" Wir brauchen einen passablen Beruf. Was sollen Sie sein ?" "Bürgermeister der Nachbarstadt ?"
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"Nein, der ist etwas jünger als wir. - Dirigent. Professor Sie sind Dirigent." "Gewiß bin ich das gewesen. Das Abschiedskonzert der 1. Armmee bei Aachen 1914, bevor sie durch Belgien marschierte habe ich dirigiert,- aber da waren Sie noch zu jung..." "Ich weiß, sagte Korthaus, das reicht aber heute nicht. Sie werden ein berühmter Dirigent der Gegenwart, am besten Horamak, der ist nicht sehr jung und nicht häufig auf Fotos zu sehen gewesen." Nun kam Frau Korthaus zurück, sah die Beiden im Gespräch und meinte:" Guten Tag Herr Professor, Sie wollen meinen Mann nicht etwa mitnehmen ?" Sie lächelte etwas, als würde sie schon damit rechnen. Berg erwiderte:" Ich habe wenig Zeit, ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag." Korthaus sagte zum Abschied:" Ich kümmere mich um die Angelegenheit und rufe Sie an."
Am anderen Morgen ging Korthaus zu einer nahe gelegenen Druckerei. Er bestellte dort im Namen der Konzertdirektion Korthaus, die es gar nicht gab, 50 Plakate mit der Schrift: "Horamak dirigiert die Berliner Philarmoniker, Beethoven 3. Symphonie." Dann ein Seitenprofilphoto von Berg und Angabe von Ort und Datum, Vorverkaufsstellen, Preise usw. Leider konnten die Plakate erst in fünf Tagen fertig sein. Berg war über die Verzögerung nicht glücklich, aber er sah, daß es nicht anders ging. Als die Plakate fertig waren, ging Korthaus mit ihnen in die Geschäfte der Innenstadt und ließ sie dort aufhängen. In der Nähe der Diskothek hingen bald in den Schaufenstern der Geschäfte die Plakate. Auch an der Eingangstür der Diskothek konnte Korthaus eins aufhängen.
Es war ein Freitagabend. Professor Berg ging mit Korthaus in die Diskothek New York Nr 4. Korthaus hatte am Abend vorher in der Diskothek angerufen und mit dem Geschäftsführer abgemacht, daß Horamak nicht an der Eingangstür abgewiesen würde, wenn er in Begleitung eines Staatssekretärs kommen würde. Die Sicher- heitsleute und das Personal der Diskothek waren informiert. Korthaus hatte seinen Sohn zum Chauffeur gemacht, der Wagen, ein alter Rolls war von einem Freund des Professors in Düsseldorf ausgeliehen worden. Als der Wagen vorfuhr, lief einer der Türsteher zum Geschäftsführer. Der kam mit dem Chef, der eigens erschienen war um die Prominenz zu begrüßen, zum Eingang hinauf.
Für die beiden alten Herren war ein Stehtisch, andere gab es nicht, neben der Theke reserviert worden. Dort wurden sie von einer Bedienung nach ihren Wünschen gefragt mit dem Hinweis der Einladung durch die Geschäftsleitung. Professor Berg be- stellte Sekt. Korthaus trank Cola. Die jungen Leute bestaunten die beiden Herren in ihren Faltenhosen und Windjacken. Darunter trugen sie Rollkragenpullover. Korthaus hatte dem Professor geraten einen langen Schal zu tragen. Weil er zu Hause keinen fand, hatte er sich einen roten Schal von seine Enkel mitbringen lassen. Nach einer Weile ging alles wieder in die Diskothekennormalität zurück. Auch der Inhaber verabschiedete sich endlich, nachdem er sich davon überzeugt hatte, nichts Wesentliches falsch gemacht zu haben. In den folgenden zwei Stunden bekam der Professor
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mehr und mehr Geschmack am Sekt. Er wurde etwas schwerfälliger und sprach später leicht verwirrt:" Korthaus, der Wein ist berauschend." "Es ist Sekt", widersprach dieser. "Wie dem auch sei, b e r a u s c h e n d." Dann sah er den Diskjockey an und sagte mit stolpernder Zunge:" Der Junge ist ein schmaler Redner, es fehlt der Redefluß." Durch den Lärm hatte Korthaus nur den "Fluß" verstanden. Er sagte:" Fluß ?, hier ist kein Fluß." Berg verstand wiederum "kein Fluß" und faßte dies als Bestätigung seiner Ansicht auf. Er straffte sich, wankte zum Diskjockey, fädelte sich hinter dessen Pult und meinte:" Junger Mann, ich werde Ihnen das einmal zeigen." Er griff zum Mikrofon, der Diskjockey zog es beiseite, aber Berg packte es mit dem Geschick begnadeter Betrunkener am Kabel und hatte es dann in der Hand, zwar verkehrt herumn, aber es reichte. Er begann:" Als nächstes das Lied:" Aenchen von Tarau, von 1921 oder... nein, 1882." Er hob seine Stimme und in das Schlagzeuggedröhn des Tecnostückes sang er:" Aenchen von Tarau mein Gut und meine Welt, Du bist mein alles..." Korthaus hatte endlich das Mikrofon an sich gerissen und den schwankenden Berg weggezogen. Die jungen Leute standen zunächst irritiert, dann pfiffen einige, aber Korthaus klatschte einfach los. Die Mädchen neben ihm klatschten auch und bald klatschten fast alle, so wie fast alle rennen, wenn est einmal einige rennen. Die Sicherheitsleute waren herangekommen, aber das Klatschen der Leute und die Entfernung des Professors durch den an ihm ziehenden Korthaus ließ sie inne halten. Korthaus sagte:" Es ist gut Professor, lassen Sie uns gehen." Dieser kam aber in Fahrt:" Ein Offizier der ersten Armee weicht nicht zurück, mein Freund.." Dabei stolpete er, Korthaus fing ihn noch einmal auf, aber er wackelte dabei selbst bedenklich. Ein schwarzer Sicherheitsman hatte Erbarmen, er stützte die zwei Uralten und geleitete sie zum Ausgang. Dort halfen der Geschäfts- führer und zwei andere Sicherheitsleute den beiden Alten in den Rolls. Als sie endlich darin saßen, machte Korthaus "Puh", ließ die Luft heraus und sprach zu seinem Sohn:"Gerade nochmmal gut gegangen." Dann erzählte er ihm, was vorgefallen war. Der Sohn lachte sehr laut, sodaß der Professor, gerasde beim Einnicken, hochschnellte und fragte:" Was ist, was ist ?" "Es ist alles bestens Professor Berg, wir bringen sie nun nach Hause."
Es war dunkel geworden. Korthaus hatte im Turm auf dem Tisch vor dem Lampenprisma dutzende Halmafiguren aufgebaut. "Jetzt bist du dran, sagte er zu Berg." Der nahm seine grünen und gelben Figuren zurück. "Also Frontverkürzung", kommentierte Korthaus. Dann zog er mit seinem Kugelschreiber in der rechten einen Bogen über die Ansammlung der gelben Steine von Berg. "Bombenteppich über die Truppenverdichtung, bumm ! aus !" Berg sagte:" Du hast gewonnen. Ich habe die Luftwaffe vergessen". Korthaus erwiderte:" Zu deiner Zeit war die Luftwaffe noch nicht so bedeutend, es ist klar, daß du sie nicht berücksichtigt hast." Berg meinte:" Ich müßte besser aufpassen, denn seit 1944 entscheidet sie fast jeden Krieg." Die beiden Alten traten vom Tisch zurück. Draußen regnete es, an Beobachtung des Himmels war nicht zu denken. "Heute hat mir der Krawitsch Verlag wieder eimal geschrieben, sagte Korthaus und fuhr fort: "Ich habe wieder mit meinem
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Formblatt 2 geantwortet". Der Professor lachte:" Ich weiß...: Bitte haben Sie noch etwas Geduld. Die Verhandlungen mit den anderen Interessenten sind noch nicht entschieden usw." Korthaus ergänzte: "Sie sollen warten bis sie schwarz werden. Ich habe von 1922 an solcher Art Briefe von den Verlagen erhalten. Jetzt bekommen sie es von mir zurück mit solchen Wartebriefen. Es ist immer wieder befriedigend ihnen in gleicher Weise zurückzuzahlen." "Wie lange warten sie schon ?" Korthaus meinte:" Der Krawitsch Verlag wartet seit 12 Monaten, der Sohlkamp hat bis zur Absage 13 Monate warten müssen." "Aber du wolltest einmal berühmt werden !", stellte Berg fest. "Wer will das nicht. Das wächst aber raus, wenn man lang genug lebt." "Oder es bleibt immer. Mein früherer Kollege Wiesenhoff ist neunzig Jahre alt geworden. Als er von Oslo einen Brief erhielt, bekam er einen Herzschlag, weil er glaubte, er würde für den Nobelpreis vorgeschlagen." "Und was war es für ein Brief ?", fragte Korthaus. "Es hatte mit Schwedenmöbeln zu tun, sie wollten sich von ihm ein Gutachten mit Portraitfoto machen lassen, zu Werbezwecken." "Jeder will natürlich ewig leben. Wenn man das durchschaut, will man in seinem Ruhm ewig leben. Man wird bescheiden, es reicht zu denken, als Toter würde ein Regal in jeder großen Bibliothek mit seinen Werken gefüllt sein, und es würde zitiert: Nach Korthaus ist die Wahrnehmung ein Prozeß...." "Ach, ich bin froh, daß ich so nicht mehr denken muß, aber es ist doch verführerisch sich vorzustellen, man würde als Geist im Äther schweben und sehen, wie auf der Erde der eigene Name mit Ehrfurcht genannt wird." "Sie müssen irgend einen Namen nennen, das ist der Haken dabei. Der Besondere ist ebenso austauschbar wie das Massenprodukt Mensch", meinte Berg und fuhr fort: "für Schopenhauer ist das alles nur ein Schimmelbelag auf dem Häufchen genannt: Erde. Es interessiert uns nicht besonders, ob irgend eine Küchenschabe einen dreifachen Rückwärtssprung erfunden hat. Was sollte bei uns anders sein ?" "Aber wir haben doch nicht umsonst gekämpft um unser Selbst- bewußtsein in jungen Jahren." "Gewiß nicht, wir haben gerungen und festgestellt, daß wir nur selbst uns etwas bedeuten können. Wir sind allerdings von uns selbst am Schwersten zu überzeugen." Korthaus sagte:" Dann am Ende, sieht es so aus, als habe sich nichts getan. Aber wir können uns dann schließlich selbst etwas bedeuten." "Das ist vielleicht überall im Kosmos so. Zuerst ist nur ein Gasnebel da, diffus und ohne Bedeutung, sogar ohne irgendwas. Dann ballt sich etwas zusammen, erhitzt sich und eine Sonne wird geboren. Die weiß aber nichts davon, daß sie einmal gar nichts war." "Das ist ein schönes Beispiel", meinte Korthaus, "Das Ich entsteht und weiß nicht mehr, wie es war, als es noch nicht da war." "Eigentlich nicht weiter verwunderlich. Weißt du, wie es vor deiner Geburt war ?!"
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Eine Weile lang sagten die Beiden nichts mehr. Korthaus dachte angestrengt nach, dann sagte er:" Ich habe jahrelang nach einer vollkommenen Lebensweise gesucht. Vieles habe ich ausprobiert. Es gibt bessere und schlechtere Lebensarten, aber keine Vollkommene. Immer bleibt ein unauflöslicher Rest, etwas das sich der Regel, der Vernunft sperrt. Ich habe sehr lange gebraucht um den Sinn dieser Unvollkommenheit zu erkennen. Wir brauchen sie zum Weiterleben. Es ist der letzte Stachel der Notwendigkeit, der zugleich das Leben not- wendig macht, das Überleben wie auch das Weiterleben." Berg meinte:" Klingt das nicht sehr pessimisrtisch ?" "Zunächst schon. Wir neigen alle mehr oder weniger zum Extrem. Es kann leicht in ein Gegenextrem umschlagen, sodaß jede Besserung der Lebensart als eine Illusion erscheint. Es bleibt aber sinnvoll etwas besser einzurichten, zu leben und zu erkennen."
Berg sagte:" Das ist die eine Seite, aber auch schon die halb vollkommene Lebensweise ist gefährlich. Stell Dir eine geordnete Gesellschaft vor, in der die Konkurrenzkämpfe temperiert verlaufen, Überbevölkerung und Unterbevölkerung keine Probleme sind, eine Welt ohne Streit und Katastrophen. Vielleicht wird auch das Wetter eines Tages nach Wunsch geregelt. Eine solche Menschheit wird doch erschlaffen. Wenn wir die halbfertigen Zivilisationen sehen, wo die Völker ermüden, so müßten sie in der vollkommenen Zivilisation endgültig entschlafen. Das ist ein unangenehmer Gedanke." "Vielleicht brauchen wir irgendwann einen Zoo für die wilden Gefühle, so wie heute die wilden Tiere einen Zoo brauchen zum Überleben." "Bei solchen Gedanken frage ich mich, ob wir nicht zu alt geworden sind um so weit in die Zukunft zu sehen", meinte Berg. Korthaus straffte sich und sagte energisch: " Das paßt ganz und gar nicht zu einem Offizier der kaiserlichen Armee. Hat sich Deine Welt umgedreht und das Schicksal nun Dich in der Hand ?" Berg mochte nicht gleich auf das Spiel von Korthaus eingehen. Dann besann er sich und sprach:" Du hast recht. Das was uns hervorheben kann vor anderen Tieren ist unser Schicksal selbst zu machen und die Dinge so einzurichten, daß sie mit ihren Widersprüchen nebeneinander stehen und uns doch nicht unterkriegen. Es gibt in der Verdauung des Fleisches einen solchen chemischen Mechanismus. Das Fleisch welches wir essen, müßte im Magen und Darm Leichengift entwickeln. Aber diese Stufe der Giftentwicklung wird von uns überlistet und umgangen obwohl sie unausweichlich ist. Vielleicht ist dieser Gedanke, daß wir Chaos im geschichtlichen Weltlauf brauchen einmnal wirklich überholt und wir leben dennoch weiter." "Das könnte sein. Außerdem ist die Notwendigkeit eine listige Dame. Nachdem wir der Not des Hungers entgangen sind, tritt die Not der Seele auf. Wir werden neue Nöte erfinden, wenn die alten bewältigt sind, denke ich." Berg hob plötzlich seine rechte Hand und sagte: " Das ist es, die neue und die größte Not." Korthaus hatte nicht verstanden, was gemeint war. Berg sah den fragenden Blick und sagte:" Es ist eine immer wiederkehrende Reihenfolge: Überlebenskampf, Sicherheit, Über- fluß, Kunst, Decadence, Untergang. An den Übergängen vom
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Überfluß zur Kunst und Decadence tritt die Phantasie auf und die Sehnsucht nach einer großen Erpution der Empfindungen. Die Musik, der Tanz, die Orgien sind alles Ansätze in denen diese Sehnsucht gestillt wird. Aber erst jetzt ist es möglich weiter zu gehen." Korthaus versuchte in den Gedanken einzusteigen, er sagte: "Du meinst die Verbindung von Realität und Traum, Phantasie und Wirklichkeit ?!" "Das sind die nächsten Höhenpässe, die erreicht sein wollen. Ich habe ein Bild vor Augen: Wir suchen im Erlebnis, im Anderen in der Landschaft, der Fremde, im Univesum. Wir wissen nicht, was wir suchen, aber wir fühlen die Sehnsucht. Wenn es einmal so weit kommt, daß wir selbst uns überall sehen und fühlen, alles kreativ aus uns herausbringen, wie die großen Kompositionen, wenn der gelungene Andere und die Landschaft uns Material sein können wie die Noten dem Komponisten.... Aber die Welt nicht in sich aufzusaugen und ihrer Form zu entkleiden, das Objektive als Tat des Subjekts zu erleben und doch es anschauen zu können wie die Fremde aus großer Distanz... alles zu sein und nichts..." Korthaus hatte unmerklich sein Verständnis signalisiert, eine feine Bewegung des Kopfes. Er ging an die Ballustrade und sah auf das Meer hinaus.
Korthaus war in ein Fastfood gegangen. Er hatte eine amerikanische Windjacke an und ein Kappi aufgesetzt wie sie die Gettojungen in New York tragen. Eine schöne junge Frau setzte sich zu ihm an den Tisch. Korthaus lächelte sie an. Sie sah etwas irritiert zurück. Korthaus wollte die Situation entspannen, er sagte:"Sie sehen der Leonore Baker sehr ähnlich in ihrem Film: "Der Verräter". Die junge Frau sah ihn an und sagte:" So". "Sie werden den Film vielleicht nicht kennen, es ist ein Stumm- film von 1920. Die Dame, die Ihnen gleicht, sitzt in einem Bostener Straßencafe, fast so ein Laden wie dieser, sie trinkt Cola und wartet auf ihren Freund". Die junge Frau hatte zugehört und fragte: "Das war damals schon so wie heute ?" "Ja, Amerika war 1920 schon so wie es hier heute ist, aber natürlich ganz anders. Und in Gedanken sprach er wie zu sich selbst: "Ich sollte den Film noch einmal drehen." Die Frau, die beim näheren Hinsehen nur relativ zu Korthaus jung war, hatte bei dessen letzten Satz unmerklich gelächelt. Nun sagte sie:" Sie filmen ?" "Früher einmal, aber die Kamera liegt im Schrank und kann jederzeit wieder eingesetzt werden." "Was für Filme haben Sie gedreht ?" "Als Kameramann war ich bei "Casablanca" und "Der versteinerte Wald" dabei. "Die alten Bogard Filme", warf die Frau begeistert dazwischen. "Regie habe ich später in: "Der Tod in Florenz", "Siebzehn" gemacht. Aber das ist lange her, kaum einer kennt sie noch." "Wollen Sie noch einen Film machen ?" "Ich dachte schon, einen Spätfilm. Aber es ist noch nicht so weit." Er trank seinen Kaffee und sah auf den Platz vor dem Lokal. Dann meinte die Frau:" Wollen Sie nicht vorher noch einen Film machen, vor dem Spätfilm ?" "Haben Sie eine Idee ?", fragte Korthaus, und seine Augen belebten sich.
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"Lachen Sie nicht, wenn ich es sage ?!" "Aber nein", ich mag verrückte Ideen." "Sie ist eher kindlich." "Nur zu !", forderte Korthaus sie auf. "Ich wollte schon als Kind Gespenst spielen, mit Laaken über dem Kopf." "Und "Buuu, buuuh" Rufen in einer dunklen Nacht vor einem schwarzen Schloß ?", fragte Korthaus. "So etwa, - das würde mir sehr gefallen." "Dann machen wir es doch !" "Bestimmt ?" "Bestimmt !, und sofort." Er sah auf seine Uhr uns sagte:" Morgen um die gleiche Zeit hier ?" "Gern, was soll ich mitbringen ?" "Ein Laken mit Löchern für die Augen, eine Kordel zum Festbinden, eine Schere... das würde reichen. Ich bringe die Kamera mit, ein kleines Drehbuch und das übliche Zubehör." "Aber die Anderen ? Soll ich denn ganz allein spielen ?" Korthaus überlegte und sagte:" Das wäre möglich, aber das würde Monolog bedeuten, viel auswendig zu lernen. Bei Zweien könnte etwas Bewegung hineinkommen, ein Gespenst jagt das andere." "Oder ein Besucher ist im Schloß, und das Gespenst erschreckt den Besucher", meinte sie. Das ist noch besser. Ich habe eine Freund, der sollte den Besucher spielen." "Macht er mit ?" "Ich denke schon."
Am anderen Tag saßen Korthaus und Berg zur verabredeten Zeit in dem Restaurant und warteten auf die junge Frau. Sie hatten sich Kaffee geholt und ihre mitgebrachten Sachen abgelegt. Draußen war ein stürmischer Regen herangezogen. Berg meinte: "Ob die Dame kommen wird, es ist schon über der Zeit." "Der Regen wird sie abgehalten haben. Für alle Fälle sind hier einige Laaken, die Kamera, zwei Regenschirme." "Sie wollen ohne diese Dame anfangen ?", fragte Berg. "Natürlich, es wird sowieso nicht beim ersten Mal fertig werden. Hier ist ein provisorisches Drehbuch." Er gab Berg die Blätter. Professor Berg setzte seine Brille auf und las den Text. Da die beiden Herren noch etwas auf die Dame warten wollten, konnte Berg sich Zeit nehmen, die Szenen des geplanten Films zu lesen. Er hatte unter der Bedingung zugestimmt zu dem Vor- haben, daß er seine Monologe in der Rolle des Besuchers bei einem alten Gemäuer in der Nähe des Stadtwaldes selbst impro- visieren könnte. Korthaus hatte Bedenken gehabt, dann aber zugestimmt. Nachdem eine Stunde vergangen war, der Dauerregen draußen anhielt, gingen die beiden Herren mit ihrem Gepäck hinaus. Die Regenschirme schützen etwas, aber die Füße wurden naß. Nach einem fast einstündigen Marsch kamen sie bei dem Gemäuer am Stadtwald an. Es sah aus, wie die Reste einer Burg, war aber der Rest eines im Krieg zerstörten Hauses. Die Zeit drängte, denn die Dämmerung begann bald und die Regenwolken hatten das Tageslicht sehr verdunkelt. Korthaus baute seine Kamera auf, band zum Schutz den Regenschirm am Stativ fest und zog sich ein weißes Laaken über den Kopf. Durch die eingeschnittenen Löcher konnte er sehen und atmen. Berg ging als Spaziergänger vor dem Gemäuer auf und ab. Nachdem die erste Szene besprochen war, ging Korthaus zur Kamera, stellte sie auf automatisches
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Filmen und versteckte sich hinter einer niedrigen Mauer. Berg kam nun ins Bild. Er besah sich das Gemäuer und sagte laut: " Das ist also das Schloß des berüchtigten Ritters von dem Falkenfelsen. Zur Strafe für seine Untaten soll er in einen ruhelosen Geist verwandelt worden sein." Mit diesen Worten holte er ein Büchlein hervor und las laut vor:" Schloß Falkenfels, Sitz des einst berüchtigten Ritters Richard von Falkenfelsen, der seine Opfer in ein dunkles Kellerverließ sperrte und nur frei ließ, wenn ein hohes Lösegeld gezahlt wurde. Eines Tages, so geht die Legende, nahm der Ritter einen Knaben gefangen, der mit seiner Kinderfrau im Wald spazieren ging. Dieser Knabe war der Sohn eines alten Kriegsgottes, den dieser bei einem Erdbesuch mit einer Näherin gezeugt hatte. Als dieser Kriegsgott von dem Verbrechen erfuhr, stieg er hinab zur Erde und trennte den Ritter Richard mit einem Riß von seinem Schatten. Darauf hin verstarb der Ritter und sein Schatten wurde zu einem ruhelosen Gespenst. Aufmerksame Besucher können es manchmal in der Dämmerung sehen..." Dies war das Stichwort für Korthaus, der nun als Gespenst hervorbrach, die Arme ausbreitete und mit:" Bu, Buh, bu" auf Berg zurannte. Dieser erschrak aber nicht, sondern er klappte seinen Schirm zu, legte seinen Hut beiseite und nahm den Schirm wie einen Degen, der zur Atacke hochgestellt ist. Er rief:" Mich erschreckst Du nicht, ich wede Dich erstechen und als Kugelfang vor unsere Geschütze werfen." Korthaus stutzte, er war echt überrascht, aber es war zur Rolle passend. Professor Berg stürmte vor, verhedderte sich im Gras und fiel zu Boden. Das Gespenst schrie auf und rannte mit fliegenden Laaken davon. Kurz darauf kam Korthaus mit abgezogenem Laaken zurück und stellte die Kamera aus. Profesor Berg, der wieder aufgestanden war, sah ihn fragend an. Korthaus sagte:" Gut, damit ist die erste Szene im Kasten, kommen Sie, es ist alles naß.
Einige Tage später trafen sich die beiden Herren in einem Eiscafe am Markt. Sie bestellten Kaffe, Korthaus begann: "Die junge Frau hat nicht bei mir angerufen, ich glaube sie hat kein Interesse an der Filmgeschichte." "Oder sie hat Lampenfieber bekommen", meinte Berg. Korthaus sann nach, dann griff er sich an den Kopf und sagte:" Es gibt noch eine einfachere Erklärung. Die junge Frau kannte mich bereits, ich habe es nur vergessen. Ich erinnere mich, es war vor etwa 20 Jahren, in einem Cafe am Bahnhof. Ich bin ganz sicher, ich hatte sie damals auch für ein Filmprojekt ange- sprochen." "Und was ist passiert ?" "Ich habe sie mitgenommen und geliebt. Der Film kam nie zustande, sie war aber nicht sehr enttäuscht. Allerdings konnte sie sich nicht mit meinem Ehestand anfreunden." Berg staunte und fragte:" War sie diesmal nicht erbost ?" "Nein, sie war amüsiert... ich Esel, sie hat sich über mich amüsiert und dann einfach sitzenlassen mit meinem Termin." "Eine milde Form des Grolls, finden Sie nicht ?", meinte Berg. Noch bevor Korthaus antworten konnte, wurde die Aufmerksamkeit der Beiden durch eben die Dame gefesselt, von der gesprochen ward. Sie kam zur Tür herein. Korthaus sah plötzlich angestrengt in seinen Schoß. Berg verstand die Geste und vesteckte sich hinter der Zeitung. Die Frau kam schnurstracks auf die Beiden zu, schnippte mit einem Finger an der Zeitung und sagte:" Wichtige
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Neuigkeiten ?" Berg stand auf, Korthaus stand auch auf. Verlegen gaben sie der Frau die Hand und luden sie ein Platz zu nehmen. Sie entschuldigte sich mit den Worten:" Ich war leider vergrippt am letzten Dienstag. Ich konnte nicht kommen !" Korthaus hatte sich gefangen. Der Gedanke, daß sie ihn schon vorher gekannt haben könnte, war verflogen, aber er hätte gern auf der Stelle nachgegrübelt warum seine Erinnerung ihn betrogen hatte. Er neigte auch etwas zur Furchtsamkeit, denn es ist nicht selten, daß in dem hohen Alter in dem die beiden Freunde waren, Teile des Gedächtnisses ihre eigenen Wege gehen. Es kam nun ein Gespräch zustande mit der üblichen Konversation. Korthaus mochte nicht noch einmal umsonst auf die Frau warten um eine Szene zu drehen. Deshalb sagte er so nebenbei." Ich habe das Projekt verschoben, obwohl ich gerne diese Gespenster- geschichte machen würde. Es geht aber in nächster Zeit nicht." Die Frau bedauerte dies sehr. Korthaus vertröstete sie auf das nächste Frühjahr. Dann versandete allmählich das Gespräch, und die Beiden verabschiedeten sich unter einem Vorwand von der Frau. Vor dem Cafe sagte Korthaus: " Ich begleite Sie noch etwas." "Wollen Sie die Dame nicht mehr mitspielen lassen ?", fragte Berg. Korthaus erwiderte:" Wir machen das besser. Aber es kommt ja auch nichts zustande, wenn wir uns auf die Dame ver- lassen würden. Wenn sie nicht eine Heirat in der Ferne sehen, sind sie nicht sehr motiviert." "Dann haben Sie also ein Attentat auf mich vor, ich werde endgültig zum Gespenst !" "Der Anfang war recht überzeugend", meinte Korthaus. "Sie haben Recht, unsereins ist ja schon nah an der Sache dran. Als Gespenster sind wir mühelos zu verkaufen." "Das haben Sie gesagt, Professor !"
In einer der folgenden Nächte waren die Beiden wieder in den Turm gegangen. Berg saß am Fernrohr. Er sagte:" Es ist nicht viel zu sehen. Sieh die Wolken, sie ziehen immer wieder in das Blickfeld. Korthaus dachte an etwas Anderes, er sprach:" Du wunderst Dich noch immer über meine Aktionen, diese manchmal albernen Spielereien." "Was meinst Du?" "Die Gespenstergeschichte." "Nein, ich wundere mich nicht mehr. Seit ich Dich kenne machst Du Happenings, Filme usw. Ich bin auch nicht so wenig inter- essiert, wie es erscheint." "Ohne die Kunstwerke wären wir alle nicht mehr da, seit einigen Millionen Jahren wären wir ausgestorben." "Interessant, ein neuer Radikalismus Deiner Theorie. Heute sagt man ja Fundamentalismus." "Keineswegs, ich habe es immer so gesehen. Aber es gibt neue Aspekte, die es leichter machen. Die Kometeneinschläge der letzten Millionen Jahre haben vielleicht die Phantasie der Menschen angeregt. Stell Dir vor, es haben immer wenige über- lebt. Im Dschungel und in der tropischen Savanne erging es unseren Vorfahren ebenso wie den Affen. Sie machten nach den Katastrophen weiter wie vorher. Aber die Kältegebiete, die Eiszeiten, man mußte Vieles erfinden, phantastisch werden um zu überleben." "Phantastisch ?", meinte Berg. "Es ist phantstisch auf die Idee zu kommen einem erlegten
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Bären das Fell abzuziehen und es selbst anzuziehen. Es muß so gewesen sein, unsere Kleidung und das Überleben kamen daher." "Und die Kunst ? Was meinst Du woher die Kunst kam ?" Korthaus meinte:" Vielleicht aus zwei Quellen. Die eine ist die Herstellung von Bekleidung, Behausung und Bewaffnung. Der Verfremdungseffekt jedes Kunstwerkes muß früher einmal beim ersten Hüttenbau aufgetreten sein. Die ersten Behausungen waren in ihrer Wirkung vielleicht so wie heute die großen Skulpturen. Die zweite Quelle ist die Religiösität, also ein psychischer Überlebensmechanismus, zusammengesetzt aus Projektionen und phantastischen Halluzinationen." "Damit habe ich meine Schwierigkeiten", meinte Berg und fuhr fort:" Ich kann mir nicht vorstellen wie die Religiösität zum Überleben beigetragen hat." "Zuerst gab es die Gestalten wie sie in den Pharaonen zu finden waren: Selbst Gottheiten. Es waren Charakteren, die abgehärtet waren und nicht vor jedem Feuer davonliefen wie die Tiere es selbstverständlich tun. Aber zum Überleben mußten viele Menschen in einem Stamm eine solche Härte erwerben. Aber wie sollte das möglich sein ? Es konnte nur einen Häuptling geben, im besten Falle zwei, neben ihm noch den Medizinmann. Also wurde der Gott projeziert in eine jenseitige Sphäre, sodaß der Konkurrenzkampf eines Jeden gegen Jeden um den Vorrang nicht mehr ständig notwendig war." Berg nickte und sagte:" Aber es sind später die Lebensvernein- enden Religionen hochgekommen, fast überall auf der Welt, etwa vor drei bis fünftausend Jahren." "Sie regulieren die Bevölkerung. Man kann an der Stelle des Zeitrahmens auch die Bevölkerungsdichte zum Vergleich nehmen. Die lebensfeindlichen Religionen verteufeln den Sex und erreichen damit eine Hemmung bei der Vermehrung." Berg meinte skeptisch:" Heute leben fast 6 Milliarden Menschen, der Mechanismus scheint nicht zu funktionieren." Korthaus erwiderte:" Ich denke er hat sehr lange funktioniert. Die moderne Bevölkerungsexplosion findet vielfach in Gebieten statt, wo die lustfeindlichen Religionen noch nicht tief verankert sind. Außerdem fällt in Europa die Bevölkerungs- explosion ungefähr mit der Aufklärung zusammen. Die Religionen sind verblaßt, die Traditionen geschwächt, es entgleist alles. Aber es ist nur ein vorübergehender Effekt. Heute geht in Westeuropa die Stammbevölkerung wirklich zurück und zugrunde. Wir haben eine Art säkularisierter Lustverneinung oder besser Lustverlagerung. Wo früher die Angst vor der Sünde war ist heute die Angst vor dem Konsumverlust und der Geschlechtskrankheit." "Ein schönes Schema", sagte Berg,:"fast zu schön um wahr zu sein." "Du meinst, ich überzeichne es ?" "Nein, die Stellung der Kunst, der Phantasie und der Produktion sehe ich auch so, aber die Religionen ? Ich denke auch ohne die Religionen ständen wir heute dort wo wir sind. Es gibt ja Aufblähungen und Ermüdungen überall im Tierreich. Jede Infektion kennt eine explosionsartige Vermehrung der Bakterien und ihr langsames oder rasches Eingehen." "Es ist auch eine Frage, welche Rolle spielt das Bwußtsein im Laufe der Generationen." Berg meinte:" Das ist eine kaum zu klärende Frage. Einerseits: Wir könnten uns ohne dieses Bewußtsein nicht am Leben erhalten, es ist mit seiner Technik und Kunst so wichtig wie die Lunge und das Herz. Andererseits gibt es viele Parallelen im Tier-
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reich, Entwicklungen, die der unseren gleichen aber ohne Kultur, ohne Kunst und Technik ablaufen." Korthaus meinte:" Es gibt auch Pseudomorphosen. Der Beutelwolf Australiens, der dem europäischen sehr gleicht und doch kein Säugetier ist." "Die Rätsel bleiben uns erhalten. Das dämmerte mir schon in den zwanziger Jahren als die Einsteinsche Theorie diskutiert wurde." Berg wandte sich nun Korthaus zu, sah ihn an und fuhr fort:" um zurück zu kommen auf Deine Gespenster. Wir müssen etwas machen, am Besten etwas Verrücktes." Solche Art der Gespräche reizten Korthaus zum Widerspruch. Die Skepsis von Berg gegenüber seinen Theorien gab er gern zurück, indem er sich skeptisch gegenüber Berg stellte, ganz gleich was der vorher gesagt hatte. Deshalb sagte Korthaus: " Etwas Verrücktes ist nicht genug. Das Spielerische kann nicht irgend etwas sein. Ich hatte meine Hintergedanken bei der Gespenstergeschichte," Diese Art Reaktion war wiederum Berg bekannt. Deshalb meinte dieser:" Natürlich, wir werden etwas sinnvoll Sinnloses tun, sozusagen etwas Verrücktes Erster Klasse." In früheren Jahren der Freundschaft zwischen Berg und Korthaus wären an dieser Stelle heftige Reaktionen von Korthaus fällig gewesen. Da er aber Berg genau kannte und wußte, daß er selbst dessen Reaktion provoziert hatte, ging er auf die ironisch spaßige Tour ein und sagte:" Es wird schon werden, laß uns nur machen, wir werden die Welt noch verbessern."
Einige Tage waren vergangen. Berg und Korthaus hatten das Drehbuch von Korthaus zu einem Drittel auswendig gelernt. Nachdem sie telefonisch einen Termin verabredet hatten, trafen sie sich in dem Cafe am Bahnhof. Berg trug die Kostüme und einiges Zubehör, Korthaus schleppte das Kamerastativ und die Kamera mit sich. Draußen regnete es. Korthaus schlug vor in eine alte Fabrikhalle nahe am stillgelegten Güterbahnhof zu gehen. Die Beiden marschierten los. Nach etwa einer Stunde waren sie dort angelangt. Korthaus stellte bald fst, daß das Licht in dem alten Gebäude nicht zum Filmen ausreichen würde. Berg sah das aber als Chance:" Wie sieht es denn im Film am Ende aus, wenn wir trotzdem hier filmen ?" Korthaus meinte:" Es wird alles schwarz sein, bis auf die weißen Laaken... Meine Güte, Sie haben Recht ! Es wird hervorragend aussehen. Nur die weißen ahnungsweise sichtbaren Gespenster." "Dann lassen Sie uns anfangen." Korthaus baute die Kamera mit Stativ auf, stellte eine Kiste auf und breitete eine Decke am Boden aus. Berg mußte sich entsprechend seiner Rolle hinlegen, Korthaus nahm im Laaken verhüllt auf der Kiste Platz. Die Kamera wurde eingeschaltet, Korthaus begann:" Erzählen Sie mir, was Sie bedrückt." Berg als liegendes Gespenst sagte:" Ich habe seit einigen Wochen häufig Depressionen, besonders am Tage, ich kann dann nicht schlafen, ich bin furchtbar nervös. Ich laufe dann unsichtbar durch die Innenstadt. Jedesmal, wenn mir ein hübsches Mädchen begegnet, möchte ich sie anfassen, wage es aber nicht." Korthaus als sitzendes Gespenst antwortete:" Sie können das Mädchen gefahrlos anfassen, Sie sind körperlos. Kommen Ihre Depressionen immer dann, wenn Sie nicht wagen es zu tun ?
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Verdrängen Sie vielleicht die Körperlosigkeit ?" "Nein Herr Doktor. Meine Depressionen treten immer bei be- stimmten Gedanken auf, die nach dem Wunsch es anzufassen auftreten." "Welche Gedanken sind das ?" "Muß ich das auch erzählen." "Es ist vielleicht wichtig. Kann es auch ein bestimmtes An- fassen sein, welches Ihre Depressionm weckt ?" "Es ist nicht das Anfassen, es sind die folgenden Gedanken." "Nun raus damit, Gespenster können alles anfassen und alles denken, es hat für die Welt doch keine Bedeutung." Berg als liegendes Gespenst sagte, während er sich aufbäumte: "Verlangen Sie das nicht, ich kann es nicht!" Korthaus als therapierendes, sitzendes Gespenst sagte:" Wie lange sind Sie schon bei uns ?" "Ich denke zweitausend oder zweieinhalbtausend..." "Jahre ?" "Tage." "Oje, Sie zählen noch in Tagen, Sie sind ja hoffnungslos unab- gelöst von dem Toten. So geht das nicht ! Sie haben nichts zu Denken ! Sie haben nichts Anzufassen ! Sie haben keine Seele zu haben und keine Gefühle ! Sie haben deshalb auch keine Depressionen !" "Aber ich fühle doch !", widersprach Berg und bäumte sich wieder auf. "Schnickschnack, - Sie sind ein Gespenst. Erzählen Sie von Ihrer Kindheit und Jugend." "Von wann bis wann ?" "Vom Beginn Ihrer Erinnerung bis zum 40. Lebensjahr !" "Warum ?", fragte Berg. "Warum ?, weil Sie ein Lebenstrauma haben. Sie müssen sich noch ans Totsein gewöhnen. Fangen Sie an !"
Berg begann nun ausführlich von seiner Kindheit, seiner Schulzeit und frühen Jugend zu erzählen. Als die erste Spule des Filmes abgelaufen war, unterbrach Korthaus das Spiel und legte eine neue Rolle ein. Dabei sagte er:" Ihre Erzählungen werden durch eine Schrifttafel erläutert und abgekürzt. Die Tafel werde ich später am Schneidetisch einfügen. Haben Sie noch Lust die Szene mit der ersten Freundin des depressiven Gespenstes zu machen ?" Berg erwiderte:" Vielleicht sollten wir es verschieben. Ich muß die Rolle noch besser lernen." So kam es, daß die Dreharbeiten für diesen Tag beendet wurden.
Einige Nächte später trafen sich die beiden Freunde wieder im Turm. Berg kam sofort auf den Gespensterfilm zu sprechen: "Das ist ja recht schön, was Du geschrieben hast. Die frivole Rolle des Therapeuten, alle Achtung, wie Dir aus dem Gesicht geschnitten." "Wie meinst du das ?", fragte Korthaus. "Die Begeisterung des Therapeuten alle Details des Liebeslebens des Patientengespenstes zu erfahren." "Das ist nicht meine Profession", meinte Korthaus etwas gereizt und fuhr fort: "Es ist das Themaa. Die Leute leben wie Gespenster, wollen alles haben, anfassen, angaffen, aber sie können nichts, sie sind wie körperlos." "Das ist ein interessanter Gesichtspunkt, so habe ich es noch nicht gesehen. Meinst Du nicht, es wird schwer sein, diese
215/25 Botschaft zu entschlüsseln ?" "Ja, es könnte sein. Ich denke seit Tagen darüber nach, wie am Ende das Thema deutlich wird. So wie es jetzt geplant ist, könnte es an den Zuschauern vorbeilaufen, und sie halten es einfach für eine kindliche Gespenstergeschichte." "Um ehrlich zu sein", meinte Berg:" habe ich es bis gerade auch so gesehen, aber ich kannte auch nicht Deine Intention." "Dann ist es offenbar so nicht zu machen. Wenn selbst Du, der mich gut kennt, nicht das Thema auch nur erahnt, wird es der Zuschauer auch nicht erkennen." "Ich hätte eine Idee", meinte Berg:" In der letzten Szene müßten die Gespenster demaskiert werden." Korthaus sann etwas nach, nahm einen Schluck Tee und sagte: "Daran habe ich schon gedacht, aber es erscheint mir schwierig. Ich will noch einmal darüber nachdenken."
Was selten geschah, trat noch einmal ein. Korthaus erschien mehr als eine Woche lang nicht mehr im Turm. Berg dachte sich nichts dabei. Es mochten Familienangelegenheiten sein oder etwas anderes, das war ihm gleich. An einem der folgenden Tage trafen sich Berg und Korthaus im Eiscafe am Markt, nachdem sie telefoniert hatten. "Da sind Sie ja wieder". sprach Berg Korthaus an, der bereits im Cafe saß. "Nun ja, - Mein Nachdenken hat etwas länger gedauert als sonst." "Da bin ich sehr gespannt", sagte Berg, legte seinen Mantel ab nahm Platz und bestellte Kaffee. Korthaus begann:" Wir können den Film so nicht weitermachen. Das Thema ist viel zu eng gefaßt." "Was wollen Sie tun ?" "Ist nicht alles unvollendet ?" fragte Korthaus. Berg sah ihn fragend an. Korthaus erzählte weiter: " Alle vollendeten Geschichten sind miserabel, sie geben eine Antwort, die falsch ist. Es ist doch alles unvollendet. Nehmen wir die Kinder, Enkel, Urenkel, jeder macht etwas anderes als das, was uns bewegt hat. Das Unvollendete als Thema würde mich reizen." Berg sagte:" Sehen Sie eine Möglichkeit das im Film darzustellen ?" Korthaus erklärte:"Es ist schon oft versucht worden. Der improvisierte Film, der vom Drehbuch immer wieder abweicht und die Realität des Filmemachens zeigt zum Beispiel. Aber auch der improvisierte Jazz gehört da hin. Die Schriftsteller sind da am Schwächsten, sie reden immer von Lösungen und geben den Geschichten einen passablen Schluß." "Und das wollen Sie machen ?", fragte Berg. "Es wäre etwas zu weit gefaßt als Thema, aber ich habe noch eine andere Idee. Wir unterhalten uns so wie bisher und setzen das an das Ende der Gespensterszene." "Aber sind wir nicht in der Gefahr uns dann selbst zu erläutern und selbst zu kommentieren ?", fragte Berg. "Daran habe ich gedacht, es ist alles einbezogen." "Verraten Sie es mir ?" "Später, haben Sie noch etwas Geduld."
Die Bedienung brachte noch einen Kaffee für Korthaus. Dieser sagte dann:" Ich habe noch etwas gelernt, was ich bereits wieder vergessen hatte: Kunst wird als Illustration schlechte Kunst, zumindest nicht besser als eine einfache Erklärung."
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"Wie kommen Sie darauf ?" "Unsere Gespenstergeschichte. Ich hatte ein klares Thema, das aber zur Aufklärung gehört." "Aber Kunst klärt auch auf", widersprach Berg. "Ja, gewiß, aber das Kunstwerk ist dort am Besten, wo es etwas sagt oder aufklärt, was durch Erläuterung und Erklärung nicht so gesagt werden kann. Sie verhilft vielleicht dem Sprachlosen zu Wort." Berg meinte:" Wollen Sie denn ihr erstes Thema noch retten ? Und meinen Sie unser Gespräch kann das leisten ?" "Nein, das kann es so wenig wie die Gespenstergeschichte. Ich muß mich von meinem ersten Thema ablösen. Es ist etwas Anderes, an das ich denke, welches sich mit der Gespensterszene und unseren Gesprächen ausdrücken läßt." "Sie machen mich neugierig Korthaus. Es wäre ja seltsam wenn unser Gespräch, welches ja praktizierte Aufklärung ist oder Philosophie, dazu taugen würde ein Artefakt zu werden." "Sehen Sie, ich denke, zwei Personen in einem filmischen Versuch oder einem Gespräch, leben in einem sehr speziellen Raum. Der Raum überschreitet sowohl die gefilmte Szene wie auch den Inhalt des Gesprächs." "In jedem Fall ?", fragte Berg. "Nicht in jedem Fall hinterher deutlich. Faktisch ja, aber im endgültigen Produkt ist es unterschiedlich. Der illusionäre Film will nur sich selbst und seine imaginierte Welt. Der Raum um ihn herum stört da sehr. Er wird möglichst perfekt ausge- blendet. Man würde die Stützstreben der Kulissen auf keinen Fall zeigen, es soll ja echt aussehen. Anders, wenn das Produkt, also der Film den gesammten Raum zeigen soll, einschließlich das Umfeld der Produktion." "Ich verstehe. Aber, sagen Sie, was könnte das für ein Thema sein ?" "Ich schlage vor, ich verrate es nicht. Wir sehen uns am Ende unser Produkt an und Sie sagen mir ob das Thema für Sie deutlich wird. Wenn es nicht zu Ihnen spricht, habe ich es auch nicht getroffen." "Wir könnten es versuchen."
Nun winkte Korthaus in eine entfernte Ecke des Cafes, der Sohn von Korthaus stand auf und kam mit einer Kamera auf der Schulter heran. Berg sagte erstaunt:" Das war Ihre Überraschung ?" Korthaus erwidere:" Er hat uns gefilmt. Ich bin davon aus- gegangen, daß Sie es nicht unangenehm finden werden." "In meinem Alter...", sagte Berg, und Korthaus unterbrach ihn mit einem schalkhaften Grinsen:" und als Offizier der kaiser- lichen Armee.." "Korthaus !", sagte Berg streng und amüsiert:" Der junge Mann kann doch damit nichts anfangen."
"Aber ganz im Gegenteil", meldete sich Korthaus Sohn zu Wort, der auch nur relativ zu Berg jung war. Immerhin erhielt er schon seit drei Jahren eine Rente. "Mein Vater", begann Korthaus Junior, "hat erzählt, sie hätten 1914 beim Kaiser Wilhelm vorgesprochen und ihm Vorschläge für die bevorstehenden Feldzüge gemacht. Wie war das ?" Berg sah auf und antwortete:" Ganz so war es nicht. Ich habe nicht beim Kaiser vorgesprochen. Es war so.." Berg nahm seinen
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Kaffee, trank einen Schluck und fuhr fort:" Ich war damals ein nicht mehr ganz junger Oberleutnant der Infanterie. Im Auftrag des Stabschefs des 14. Regiments der Würtemberger, sollte ich eine unbedeutende Nachricht überbringen. Die Herren Offiziere des Hauptquartiers in Berlin waren alle zum Essen gegangen. Ich lief ziellos auf dem Flur herum und wurde von einem Mann angesprochen. Ich wußte nicht, daß es der Kronprinz war. Er nahm mich mit in einen Konferenzsaal. Dort waren der Kaiser, Falkenhayn und eine Reihe hoher Offiziere. Es gab Meinungs- verschiedenheiten. Plötzlich sagte einer:".. Das kann doch ein kleiner Leutnant schon begreifen, daß es so nicht geht !" Der Kaiser sah mich und sprach:" Da ist ja ein Oberleutnant !" Und zu mir gewandt:" Was halten Sie davon." Er zeigte auf eine große Europakarte. Dort war der Aufmarschplan des kommenden Krieges zu sehen. Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien, in Polen usw. Das ist ja alles bekannt. Ich war verdattert. Der Stabsoffizier neben dem Kaiser sagte: "Nur zu, sprechen sie ohne Vorbehalt !" Ich sammelte mich, und da ich den Plan in den Grundzügen schon aus den Planspielen der Offiziers- lehrgänge kannte, antwortete ich mit bangem Gefühl:" Wenn Ihre Majestät erlauben, das ist sehr gefährlich. Der Einmarsch in Belgien zieht die Briten in den Krieg und damit auch die Amerikaner. Der Osten ist kein Problem, aber der Westen ist eine große Gefahrenquelle." Die Herren im Saal erstarrten. Ich fürchtete, man würde mich vor ein Kriegsgericht stellen. Ich empfand meine Äußerungen als anmaßend und bereute sie im gleichen Augenblick, da ich sprach. Der Kaiser nahm es aber gnädig auf und fragte:" Wie würde das unser Oberleutnant denn lösen." Da ich merkte, daß mir nichts Übles bevorstand, antwortete ich:" Wenn Ihre Majestät erlauben, meine Ansicht habe ich von Moltke gelernt, es ist nicht mein Verdienst es so zu sehen." "Nur raus damit !", munterte mich der Kronprinz auf. Ich sprach also weiter:" Frankreich wird eine passive Abwehrfront auf deutscher Seite nicht angreifen. Wenn der Krieg im Osten gewonnen ist, wird Frankreich ohne Krieg zu führen Verträge mit Deutschland abschließen." "Und Elsaß Lothringen behalten ", fuhr ein hoher Offizier ziemlich aggressiv dazwischen. Ich weiß nicht wer es war und habe es nie erfahren. "Interessant ", sagte der Kaiser und entließ mich. Ich hatte von dieser Unterredung keine Nach- teile. Alles Weitere ist ja bekannt." Korthaus junior sagte:" Sie haben also den verlorenen Krieg vorausgesehen und es dem Kaiser gesagt, alle Achtung !" Berg erwiderte:" So großartig war das nicht. Viele haben es so gesehen." "Nicht aber dem Kaiser gesagt !", beharrte Korthaus junior. Berg fuhr fort:" Im zweiten Weltkrieg gab es so etwas auch. Der Maler Dali hat schon 1939 gesagt, Hitler wäre ein Masochist, der unbedingt einen Krieg verlieren will." Nun meldete sich Korthaus zu Wort:" Da haben wir die Gespenster der Vergangenheit. Das wäre auch etwas für unseren Film."
Die Herren verabredeten sich für den übernächsten Tag in dem alten Fabrikgebäude, in dem bereits die Gespensterszene mit dem Therapeutengespenst gedreht worden war. Korthaus junior sollte diesmal die Kamera bedienen. Korthaus hatte nämlich zu Hause festgestellt, daß die erste Szene des Films nicht vollständig aufgenommen worden war. Die Bedienung der Kamera
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durch Korthaus war nicht fehlerfrei gewesen. Kein Wunder, da er zugleich auch noch eine Rolle spielen mußte und die Regie hatte.
Die drei Herren trafen sich zur verabredeten Zeit vor dem Gebäude. Eine von Wildwuchs eingerahmte Treppe führte in das Gestrüpp des Platzes, der bereits fast ganz zugewachsen war. Die Kamera war aufgestellt, die Herren Korthaus und Berg trugen ihre Laken und es begann: Musik erklang aus einem mitgebrachten Kassettengerät. Berg kam von rechts und Korthaus von links. Beide tanzten. Sie tanzten nach der Musik, begegneten sich, hakten sich ein und drehten sich, allerdings etwas wacklig im Kreis. Plötzlich erschien aus den nahen Bäumen ein Gespenst mit nicht verhülltem Kopf. Es war die Dame, die eigentlich zuerst mitspielen sollte. Sie tanzte also heran, schob sich zwischen die tanzenden Alten, faßte sie unter den Armem, blieb selbst in der Mitte und hob ihr rechtes, dann ihr linkes Bein. Die beiden Herren waren sehr irritiert, machten aber das Beste daraus. Vielleicht dachten sie auch, daß Korthaus Sohn hier manipuliert hätte. Diese überraschende Wendung des Geschehens führte schließlich zum Stoplern von Korthaus. Die Dame mit ihren wallenden Haaren fing ihn auf, die Musik endete, und Korthaus junior klatschte Applaus. Er war ebenso überascht, hatte jedoch geistesgegenwärtig weiter gefilmt. Er dachte vielleicht, das Ganze sei ein Einfall seines Vaters gewesen. Als die Kamera abgestellt worden war, gingen die drei Gespenster zu Korthaus junior. Berg sagte zu der Dame:" Welch eine schöne Überraschung." Korthaus meinte:" Schön, daß Sie gekommen sind." Die Dame sagte:" Nehmen Sie es mir übel, daß ich hereingeplatzt bin ?". "Nein", meinte Korthaus junior spontan:" Es sah hervor- ragend aus: Die Fee rettet die alten Gespenster vor dem Sturz ins...," "Junge !", sagte Korthaus streng zu seinem Sohn. Berg hatte es aber doch gehört und meinte:" Lassen Sie ihn ruhig. Das Beste in unserem Alter ist doch der Spaß an der Sache." "Sie haben Recht", meinte Korthaus. Der Sohn war etwas betreten, weil ihm seine Bemerkung nur herausgerutscht war, und er nicht überlegt hatte, welche Wirkung sie haben könnte. Die Dame rettete die Situation. Sie sagte:" Kommen Sie alle mit zu meinem Wagen. Ich habe etwas zum Picknick mitgebracht." Die drei Männer gingen also mit zum Wagen. Die Dame packte eine Decke aus, die sie auf dem Boden ausbreitete, danach vier Kissen und eine Thermoskanne Kaffe. In einer Schale hatte sie belegte Brötchen mitgebracht.
Als sie dort so saßen, die Sonne hervorkam, hatte Korthaus junior die Idee aus seinem Wagen eine Flasche Cognac und ein Koffergerät zu holen. Er stellte es auf, machte Musik und reichte die Flasche herum. Es war etwas ungewöhnlich für die beiden Herren Berg und Korthaus, aus der Flasche zu trinken. Berg aber erinnerte sich:" 1916 lagen wir in einem kleinen Nest vor Reims. Irgendwer hatte eine Wagenladung Cognac beschlag- nahmt. Die Ladung wurde bei jeder Übergabe leichter. Unser Regiment behielt 200 Flaschen, auf der belgischen Seite verschwand dann bis auf ein Kistchen mit 20 Flaschen der Rest. Die Fahrer dieser letzten Wegstrecke zum Hauptquartier hatten es nicht leicht, den Verbleib der Wagenladung zu erklären. In ihrer Not bestachen Sie den Lagerverwalter, der die Ladung
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in Empfang nehmen sollte mit den restlichen Flaschen. Er schrieb dann in seine Liste einen vom Fliegerbeschuß zerstörten Wagen. Glücklicherweise war ein fast völlig zerstörtes Fahrzeug noch in der Nähe. Die Kameraden schraubten also die Nummern- schilder der Wagen ab. Unsere kamen an den zerstörten Wagen, die von diesem an unseren intakten Wagen." "Das ist nie herausgekommen ?", fragte Korthaus junior. Berg antwortete:" Wir haben nichts mehr davon gehört." Im Laufe der nächsten Stunde hob sich die Stimmung der Runde. Die Dame bekam Lust zu tanzen, Korthaus junior bekam Lust eben das zu filmen. Die Dame packte sich den Professor, beide wankten auf die Wiese und tanzten Fox, Twist und allerlei aus den 70er Jahren. Korthaus junior baute die Kamera auf. Eine Weile lang ging alles gut, dann aber verlor die Dame auf einem glatten Löwenzahn die Balance und rutschte nach hinten. Berg wollte sie auffangen, war aber selbst zu sehr wankend. Korthaus, ebenfals nicht mehr richtungsstabil, stürzte hinzu. Dann stürzten alle Drei. Korthaus junior sah wohin der Fall ging und wollte mit einem Satz die Kamera vor den Fallenden abschirmen, stürzte aber selbst hin und riß die noch surrende Kamera zu Boden. Im gleichen Augenblick fielen die Drei oben drauf. Es dauerte ein Weilchen bis sich die Vier wieder hoch- gerappelt hatte. Die Kamera war voll Gras und Lehm, lief aber immer noch. Korthaus junior erkannte die ungeheure Chance. Er filmte den Rest der Mannschaft im Getümmel am Boden weiter. Es war ein Bild für ein Bilderrätsel: Was ist das ? Liebesakt, Aerobic oder letzter Tanzschrei oder sonst etwas. Korthaus selbst wollte nicht unbedingt in dieser Lage gefilmt werden. Er war noch nüchtern genug sie zu erfassen. Er streckte die Arme aus und rief:" Nicht, nein nicht aufnehmen", was der Sache einen neuen Reiz verlieh. Nur der Umstand, daß Korthaus junior bewußt war, daß die Tonaufnahme ebenfalls noch funktionierte, hinderte ihn an einem lauten Gelächter - denn so weit mochte er gegenüber den Herrschaften nicht gehen. - Nach einigen Versuchen sich hochzurappeln kamen die Vier wieder auf die Beine. Korthaus war bemerkenswert langsam. Das mochte daran liegen, daß die Dame mit ihrem üppigen Busen auf seinen Knien gelegen hatte. Ihr Kopf war dabei noch etwas näher an seiner Tabuzone angelandet. Aber, alles hat einmal ein Ende, wie das Sprichwort sagt. Die Vier saßen daher schon bald wieder an der Picknickdecke. "Warum machen Sie eigentlich solchen Unfug ?", fragte die Dame. Dabei lächelte sie wie einer, der das ganz sympathisch findet. Berg meinte:" Wir tun die wichtigste Sache der Welt !" "Oh !", meinte sie, "wie denn das ?" "Alle Welt ist heute vernünftig. Das begann schon 1871, als Bismarck gegen Frankreich ziehen ließ. Dann folgte der ebenso vernünftige Feldzug von 1914, und später der etwas weniger vernünftige Krieg gegen den Rest der Welt. Heute sind wir über alle Zweifel erhaben: Vernünftige Staatsverfassung, vernünftige Gesetze, vernünftige Arbeitsplätze, vernünftige Arbeitslosig- keit, vernünftige Kunst, vernünftige Familienplanung..." Korthaus schaltete sich ein:" Wir sind die letzten Dinosaurier der Unvernunft." "Sind Sie Anarchisten ?" fragte die Dame. Berg antwortete:" Das war eine Mode der 20er Jahre. Übigens war das auch eine sehr vernünftige Bewegung gegen die Vernunft der Gesellschaft."
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"Dann kamen die Existenzialisten mit ihrer vernünftigen Bewegung für die Spontaneität. Sie wurde als Gottheit erkannt, die über allen Wassern schwebt", meinte Korthaus. Berg sagte:" Es ist enorm wichtig, die seltenen Tiere zu erhalten, das weiß jeder Zoodirektor. Lassen Sie uns noch eins darauf trinken!" "Oh ja", meinte Korthaus. "Vater!", reagierte Korthaus junior mahnend. Den berührte es wenig. Die Dame meinte nach einer Weile: " Also sind Sie die vernünftigsten Menschen der Welt, Sie wollen aus Vernunftgründen die Unvernunft retten." "Ja, wir kommen aus diesem Käfig nicht raus, Prosit", damit hob Korthaus die Flasche hoch.
Eine tiefe dunkle Winternacht im Turm. Berg saß auf der Ballustrade, sah auf das Meer hinaus. Weit draußen tobte ein Sturm. Die silbernen Wellenkämme warfen Lichtblitze zum Land zurück. Vor dem Turm war Windstille. Wolken schoben sich vor den untergehenden abnehmenden Mond. Berg dachte zurück. Er hatte sein wahres Alter allen außer Korthaus verschwiegen. Niemand außer ihm wußte, daß er damals 1822 mit einem schnellen Segler von St.Helena hinweg gesegelt war. Der Tote, den die Getreuen ins Grab gelegt hatten, war ein Soldat der kaiserlichen Garde gewesen, nicht er selbst. Seine Freunde, die mit ihm über das Meer davongeschwebt waren, ruhten lange schon unter der Erde von Nordaustralien. Er selbst war bei den Auberigines auf- genommen worden und suchte mit ihnen nach jener endgültigen Wahrheit, für die die Welt zu klein gewsen war, nach dem erleuchteten Satz seines Offiziers in Ägypten:" Mon General Sie sind groß, aber die Welt ist zu klein für Sie." Er hatte einen Irrtum erkannt, der gleichwohl notwendig gewesen war: Die Menschheit zu vereinen, sollte den großen Schritt in den Kosmos ermöglichen. Der Schritt war mit der Mondfahrt begonnen, - aber das Universum wird im Einzelnen geboren. Als der erste Weltkrieg begann, war er auf seinen Segler gestiegen und nach Frankreich zurückgekehrt. Kurz vor dem deutschen Angriff auf Verdun war er in der Festung eingetroffen und hatte als unerkannter alter Mann einige Bemerkungen zur Lage gemacht, die von junge Offizieren verstanden worden waren. Und Verdun fiel nicht. Dann aber bestieg er wieder seinen Segler und fuhr zur dänischen Küste hinauf, später zur Ostsee, wo er diesen Turm vorfand, der den Schiffen den Weg wies. Als die deutschen Truppen 1940 in Frankreich einmarschierten, bestieg er erneut seinen Segler und erreichte als ein unbekannter alter Mann Paris. Er gab Ratschläge zur Lage von sich, die von den Generälen aufgenommen wurden und dazu führten, daß der französischen Nation ein erneutes Blutopfer in der Größe wie das im ersten Weltkrieg erspart blieb. Aber das Rätsel der Zeit war noch ungelöst, deshalb ging er in den Turm zurück, änderte seine Lebensdaten und traf auf Korthaus, der ebenfalls eine lange Geschichte hinter sich hatte, die älter war, als seine Umwelt ahnte.
Korthaus kam in der folgenden Nacht in den Turm. Oben im runden Lichtraum, der nun nicht mehr für das Leuchtfeuer genutzt wurde, entspann sich folgendes Gespräch. Berg sagte: " Du meinst wir sind für die Welt nicht mehr notwendig ?"
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"Ja", erwiderte Korthaus:" Es wächst alles zusammen. Der eine oder andere sieht in den Feldzügen von 1796 bis 1815 die Vorläufer des Weltstaates, der bald vollendet sein wird, aber was sollten wir dazu noch beitragen ?!" Berg runzelte seine Stirn und sprach energisch:" Du wirst doch nicht auf einmal alt werden ? Natürlich waren die Ereignisse bis 1815 die Vorläufer des bald geeinten Eurpoas, aber wir haben noch viel zu tun. Glaubst Du denn, es würde mit der gegenwärtigen chaotischen Vielfalt der Überbauphantasien der Weltstaat möglich werden ? Niemals ! Die Sekten schlagen sich die Köpfe ein. Solange dort keine Klarheit ist, gibt es immer nur Dompteure und Zirkus, aber keine Weltordnung." "Das befürchte ich auch", meinte Korthaus "aber was sollen wir tun ?" "Das ist sehr einfach. Wir brauchen ein demonstratives Individuum, das am Gipfel seines Selbstbewußtseins steht und deshalb wieder ins Allgemeine zurück gehen kann." "Und deshalb sollen wir verrückt spielen ?" "Ich glaube, Du hast einen schlechten Tag", meinte Berg und sprach weiter:" Deine Vorliebe für die Stoiker ist Dir nicht gut bekommen. Nietzsche hat ja vor diesen Gelüsten gewarnt." "Dann soll ich also weitermachen, so frei drauf los wie 1742 oder 1866." "Na ja, es ist schwieriger geworden", meinte Berg " wir müssen nun in uns realisieren, was früher ganze Staaten taten." "Manchmal denke ich, Du hast Recht", erwiderte Korthaus. "Das ist eben zu wenig: manchmal. Dein kleines Preußen war immer schon Dein Problem." "Du hast gut reden mit Deinen Erfolgen von Ägypten und Italien." "Ich schlage vor, wir machen Deinen Film fertig. Ich bin schon gut hineingewachsen in die Gespensterrolle." Korthaus wirkte nun etwas weniger bedrückt. Seine Augen blitzen bereits wieder etwas. Dann sagte er:" Wenn Du meinst, das wäre ein Weg zur Selbsterkenntnis, - gut, wir machen weiter."
Auf einem alten Fabrikgelände geschahen bald darauf merkwürdige Dinge. Nach Bergs Ideen wurde das Drehbuch für den Gespenster- film erheblich geändert. Berg hatte argumentiert, daß der individuelle Ansatz, der mit der Therapeutenszene begonnen worden war, für das Publikum umkippen würde in ein Gesell- schaftsdrama. Deshalb, meinte Berg, sollte besser umgekehrt eine Schlacht inszeniert werden, die dann ebenso umkippen würde und das Individuum zeigen könnte. Er dachte dabei natürlich an die nachnapoleonische Philosophie, die in der Tat die großen europäischen Kriege in individuelle Größe transformiert hatte. Korthaus hatte zunächst Einwände. Er verwies auf den Satz Napoleons: "Wenn Schwert und Geist aufeinander treffen, dann siegt der Geist." Aber Berg wandte ein, daß hier der Krieg der Gespenster schon durch das Arrangement deutlich werden würde als Krieg der Ideologien. Auf dem Fabrikgelände waren zwei große Abteilungen von Statisten in weißen Laken als Gespenster aufgestellt. Die Sonne schien warm und es fluchte der eine und andere unter der warmen und völlständigen Kopfbedeckung. Berg hatte den bekannten und geschätzten Regisseur Windhammer für das Projekt gewonnen. Korthaus seinerseits konnte den großen Kameramann Schwetzfuß
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gewinnen. Dem Regisseur und dem Kameramann waren allerdings die Führung einer Schlacht unbekannt. Berg hatte einige erklärt. Als die ertste Szene begann war Korthaus noch im Hintergrund, Berg in einer künstlichen Höhle am Rand des Geländes. Ihr Auftritt war etwas später geplant. Es gellten Kommandos über den Platz:" Zum Angriff! Siebtes Reiterregiment vor!" Auf der anderen Seite :" Kanoniere Batterie Drei feuern". Der typische Theaterdonner begann. Aber noch bevor sich die Schlacht entfalten konnte, stürzte Berg in größter Erregung auf den Platz, völlig unpassend und unvorhergesehen vom Drehbuch: " Halt, Reiter zurück !" Er stellte sich breit vor die heran- stürmenden Gespenster mit ihren Holzsteckenpferden auf. Diese wichen zurück und stürmten in heilloser Flucht davon. Nun tauchte ebenso überraschend Korthaus auf und brüllte zu den Kanonieren:" Feuer einstellen ! Ihr trefft die eigenen Leute." Der Regisseur Windhammer war aus seiner Schreckstarre erwacht, rannte auf den Platz und rief:" Stop, Klappe, aus !" Dann lief er zu Berg, bei dem eben Korthaus angelangt war. Berg schimpfte wie der TeufeL:" Das ist eine unglaubliche Stümperei. Die Reiter reiten in das Granatfeuer, als wäre das Bonbonregen, die Kanoniere feuern auf die eigene Infanterie. Das ist der größte Sauhaufen, den ich jemals gesehen habe !" Korthaus versuchte ihn zu beruhigen.:" Das sind doch alles Zivilisten. Wir müssen ihnen erst noch Einiges zeigen ." Berg kam aber noch mehr in Rage:" Zeigen Korthaus !, Sie wollen denen etwas zeigen,- die Garderobe ja !" Windhammer meldete sich nun: " Professor Berg, Herr Korthaus, wir haben genau nach Drehbuch gespielt." Berg stutzte und ließ sich von einem Kamera- assistenten ein Exemplar des Drehbuchs zeigen." Wer schreibt denn sowas, das ist kompletter Unfug." "Das war ich", meldete sich Korthaus. "Sie !, wie ist das denn möglich ?" Korthaus blickte zu Boden. Berg antwortete an dessen Stelle:" Ah ja, verstehe, wieder so ein anarchischer Trick, gewolltes Chaos und so weiter. Bitte, bitte nicht in einer Schlacht, vorher und nachher meinetwegen." Korthaus blieb allerdings wie so oft derjenige der das letzte Wort behielt. Die Szene wurde zwar noch einmal gespielt, etwas besser, wie Berg meinte, aber Korthaus wollte mit Bedacht den zürnenden Berg und das ganze Chaos auf dem Platz in den Film einbauen. Wohl war ihm bewußt, daß diese Methode die Freund- schaft zu Berg hart belasten würde, denn der war immer noch mit Herz und Seele Militär.
Zwei Nächte später trafen sich die Beiden wieder im Turm. Da der Himmel bedeckt war, gab es nichts zu beobachten. Sie saßen im Turmraum und tranken Tee. Berg sagte:" Ich glaube, Deine Idee ist recht gut. Das Chaos auf dem Platz bei der Gespensterschlacht trifft unser Thema genau. Der Betrachter kommt zum Nachdenken warum alles abgleitet und zuletzt nach einigen Versuchen doch noch funktioniert." "Ist das Dein Ernst ?", fragte Korthaus. "Gewiß. Im ersten Moment bin ich immer überrascht, aber es ist im Leben so wie im Film: Nichts gelingt auf Anhieb, es wird manchmal zuerst komisch und beinahe lustig, dann aber kommt der Ernst. Die Frage der Würde. Ich hatte immer gedacht, es dürfe keine Entgleisungen geben. Die Krönung 1814, das war eine perfekte Installation, wir fürchteten nichts mehr als Formfehler.
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Und doch wäre eine Spur Ironie und Komik gut gewesen. Der Ernst, der die Groteske verträgt und doch im Thema verbleibt, erhält mehr Gewicht als der pedantisch perfekte Ablauf." "Wenn ich mich recht erinnere, hast Du in der Notre Dame kurz vor dem Griff zur Krone etwas mehrdeutig gelächelt", meinte Korthaus. "Dann habe ich es vergessen. Wenn es aber so war, dann gehört das zu den Instinkten, man tut ab und zu instinktiv etwas das die Sache steigert. - Wie geht es aber jetzt weiter ?" Korthaus sagte:" Ich weiß es nicht, aber ich habe das Gefühl, daß wir den Prozeß im Griff haben."
"Was hältst Du davon", begann Berg:" Draußen unzählige nie entstandene Welten. In den Menschen unendlich viel Ungeborene. Unsere Worte, nie von anderen gehört - letztlich der Film, nie gesehen." Korthaus war entzückt. Er ging auf seinen uralten Freund zu, umarmte ihn kurz und sagte:" Ja, so ist es. Wir brauchen den angewandten Buddhismus oder besser, die Steigerung des Nicht- seins in einem absoluten Individuum." "Das wäre die fertige Welt ?!" "Gewiß !", antwortete Korthaus und sprach weiter:" Es hat aber zwei große Risiken. Das erste ist unser Scheitern. Niemand bemerkt es, vielleicht nicht wir selbst. Das zweite: Es wird nie in der Welt bekannt. Wenn wir es selbst bekannt machen, sind wir ebenfalls gescheitert." Berg meinte:" Ja, so ist es, besser kann man es nicht zu sagen. Was die Risiken betrifft, ich kenne sie alle. Wagram war ein Risiko, welches siegreich überstanden wurde, Moskau das Gegenteil." "Oh ja, ich erinnere mich. Schlesien war mein Wagram." "Aber in Moskau mußtest Du nicht scheitern ". "Aber ich war auch nicht da", sagte Korthaus, "aber Prag war auch eine verlorene Müh." Berg wiegte seinen Kopf hin und her und sagte:" Die Buddhismus- sache müssen wir noch überwinden." "Warum ?" "Die Menschheit kennt offensichtlich nur Extreme. Jahrtausende lang wurde das Leben exzessiv gelebt. Tote, Orgien, Kriege in Massen. Dann kam das Gegenextrem: Buddha. Ich erinnere mich an eine Stelle aus dem Pali-Kanon. Buddha kam zu einem Dorf. Der Dorfvorsteher beklagte den Tod seiner Frau und seines Kindes, die beide im Wochenbett verstorben waren. Der Dorf- vorsteher beklagte seinen Verlust und fragte immer erneut, warum ? Buddha sagte:" Du hast Deine Frau sehr geliebt ?" "Über alle Maßen", antwortete jener. "Du hast also gelernt sie zu begehren ?" "Ja, sehr". "Wenn sie aber eine Dir unbekannte Frau gewesen wäre, hättest Du sie ebenso beklagt ?" "Nein, bestimmt nicht." "Hättest Du diese Frau ebenso begehrt ?" "Wenn ich sie nicht gekannt hätte, nicht". "Du siehst Ortsvorsteher, Du klagst, weil Du deine Frau so sehr begehrst. Alles Leiden kommt nur aus dem Begehren". Berg sprach weiter:" Nietzsche wollte im großen Typus Mensch alle Extreme zugleich verwirklicht sehen. Es wäre ein
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heftiges Leben und Leiden, was aber bejaht wird. Der Buddhist will dem Leiden ausweichen und dafür auf das Leben verzichten." "Also ein Spagat: Sein und zugleich Nichtsein. Empfinden und doch nicht leiden." "Das ist sicher schwer. Vielleicht leiden ohne zu leiden, so wie es heute aufgefaßt und erlebt wird." Korthaus sagte:" Ich verstehe. Vielleicht ein Leiden, daß stärkt, ein heroisches Leiden." "Vielleicht so oder in etwa so. "
Als Korthaus am nächsten Abend in der Dämmerung zum Turm ging, sah er einen Mann mit einem Kinderwagen am Strand entlang gehen. Als er genau hinsah, erkannte er Berg. Korthaus war sehr verwundert und wollte nicht in diese Situation eingreifen. Vielleicht machte Berg ein Experiment. Er wartete deshalb am Waldrand bis Berg am Turmeingang angelangt war. Nun hob dieser etwas aus dem Kinderwagen heraus und trug es in den Turm. Korthaus wartete noch eine Weile und ging dann ebenfalls in den Trum hinein. Die Wendeltreppe war frei, also war Berg schon oben angelangt. Als Korthaus in die Turmkammer eintrat, sah er Berg auf der Ballustrade hantieren. Er ging zu ihm und sagte:" Was machst Du mit diesen Teilen ?" Berg antwortete:" Ich habe ein neues Stativ erhalten. Es ist ein altes Stativ, das von einem Trödler billig abgegeben wurde." "Ich habe Dich gesehen am Strand." Berg wirkte etwas verlegen:" Ach so, am Strand. Es war eine farbige schöne Dämmerung. Wenn ich das Stativ auf dem Wagen erst zum Turm gebracht hätte, wäre die Dämmerung bereits vorbei gewesen. Deshalb habe ich alles einfach mitgenommen." "Es sah etwas nostalgisch aus." "Ja, ich weiß", gab Berg zu, der seinen Freund nicht gut beschwindeln konnte und fuhr fort:" Es hat mich an die Zeit erinnert, als meine Tochter noch klein war. Wenn man einen Kinderwagen in der Dämmerung schiebt und die Augen zu macht, .... aber das kennst Du ja." Korthaus meinte:" Das ist eine gute Szene für unseren Film. Du fährst mit dem Kinderwagen in die Vergangenheit. Wir lassen aus dem abgestellten Kinderwagen am Strand Bilder heauskommen, die dann bestimmte Szenen einleiten. Dein Angriff auf der Brücke von Rivoli zum Beispiel." "Aber das interessiert heute niemanden mehr", meinte Berg. "Nun, vielleicht nicht als Einzelstück, aber im Kontrast bestimmt. Während des Angriffs blenden wir eine Stelle aus der Mondfahrt ein, zum Beispiel den Start. Wir zeigen Debus, wie er den Startknopf drückt." "Also eine Collage." "Ja, eine Collage, die durch das Thema verbunden ist." Berg überlegte etwas und sagte:" Der Gedanke gefällt mir, aber was wird mit den Zuschauern ?" "Die Zuschauer schauen halt zu", sagte Korthaus und lächelte.
Berg war in Gedanken versunken. Irgend etwas beschäftigte ihn sehr. Korthaus deutete das so, als wäre Berg nicht ganz einverstanden. Deshalb fragte er:" Meinst Du, der Film wäre nicht angebracht in unserer Zeit ?" Berg erwiderte:" Doch, er ist wichtig. Das gelungene Kunstwerk ist sehr wichtig, um nicht zu sagen unschätzbar wichtig.
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- Ich vermisse nur liebgewordene Aktionen." "Die Eroberung der Welt ?!" "Ich bin bescheidener geworden in den Jahren, die vergangen sind, aber ein bißchen Eroberung, so ein kleiner Planet... Den Mars !", rief er aus. "Wir müssen den Mars erobern !" Korthaus stutzte und sagte nach einer Weile des Nachdenkens: "Ich weiß, was Du sagen wirst, aber sind wir als Astronauten nicht etwas zu alt ?" "Nicht als Astronauten. Die findet man immer. Aber wir müssen das verschlafene Europa wecken." "Also Europa und nicht Amerika ?", meinte Korthaus verwundert. Berg erklärte:" Der Mond wurde deshalb von den Amerikanern betreten, weil die Russen jahrelang in der Raumfahrt voraus waren. Nach diesem Mechanismus werden die Europäer zuerst den Mars betreten, weil Amerika voraus ist." "Das ist aber ein schwieriges Unternehmen." Berg streckte sich und sagte:" Nicht für mich ! Was ist für mich schwierig." Korthaus dachte: Da ist wieder der alte Imperator, nicht tot zu kriegen, nicht müde zu machen. Und er sagte: "General, ich bin dabei."
In den nun folgenden Wochen entfalteten die beiden Herren eine enorme Aktivität. Berg lief mit seinem Handy herum und telefonierte beinahe pausenlos. Korthaus kaufte ein großes Auto und stellte drei Chaffeure ein. Berg wollte bei der gesammten Aktion völlig im Verborgenen bleiben. Korthaus erhielt für die Bankkonten von Berg alle Vollmachten. Berg war sehr reich. Vielleicht war er der reichste Mann der Welt. Zu seinem und Korthaus Schutz wurde ein Sicherheitsapparat aufgebaut. Der von Korthaus eingestellte Generaldirektor hatte die Aufgabe die verschiedenen Direktoren einzustellen, die ihrerseits das Manegement der Firmen kontrollierten, von denen Berg Aktien besaß. Berg sagte in einer der Nächte im Turm zu Korthaus: " Wir müssen über die Medien und Frauen an das Projekt herangehen." "Warum die Frauen ?" "Europa ist ein ziemlich erschlafftes Gebiet. Selbst wenn wir über die Medienkampagnen eine starke Nachfrage nach Raumfahrt erzeugen könnten, würde doch die Trägheit und Mutlosigkeit der europäischen Hochfinanz das Projekt zum Versanden bringen. Bei den Frauen geht es um die Ehre, heute heißt es Selbst- bewußtsein, verlängerte Jugend usw. Kein Kapitaleigner geht über die Wünsche seiner Geliebten oder Ehefrau hinweg." "Du überrascht mich", meinte Korthaus und fragte:" Warum sind denn die ersten Kontakte auf der diplmonatischen Ebene in Madrid zu knüpfen?" "Das Selbstbewußtsein der Nationalstaaten mein Freund. Deutschland ist zukunftsfremd, wir können dort Motoren und übrigends allerbeste Raumtechnologie bauen lassen, aber Iniative in dieser Sache ist nicht zu erwarten. Die Deutschen werden mit maschinenstürmerhafter Begeisterung alles bremsen, was wir brauchen: Gentechnik, Nukleartechnik usw." "Und Spanien ?", hakte Korthaus nach. "Spanien ist der Stachel für Frankreich. Nur Frankreich kann die Begeisterung entwickeln, die Europa mitreißen wird. Aber die Grande Nation möchte gebeten werden. Amerika ist für
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diese Kulturnation kein Maßstab. Darin gleichen sie den Deutschen. Aber Spanien war ein Weltreich. Wenn dort eine Initiative zur Raumfahrt ergriffen wird, geht Frankreich in die Offensive. Das ist nichts Neues. Überhaupt, mein Freund, es ist alles so geblieben wie es seit dem Ende Roms in Europa war." "Deshalb also die internationale Konferenz in Madrid ?!" "Wir vefahren wie Kolumbus: Zuerst das Königshaus und der Hochadel. Und dort zuerst die Königin." Nun legte Berg ein Bündel von Blättern auf den kleinen Tisch, auf dem das Prisma stand, welches den Seefahrern den Weg gewiesen hatte. Dann sprach Berg weiter:" Die Spanische Königin hat in ihrer Jugend in Paris den Professor B.Y gehört. Ich habe ihn durch den Direktor Rouge für unser Projekt gewinnen können. Er wird im Beisein des Königspaares die Konferenz eröffnen." "Und Du bleibst bei dem Leitthema:" Schutz der Atmosphäre". "Es ist das Beste. Es ist aktuell, trifft niemanden persönlich außer einige unbedeutende Fluoridproduzenten, und es trifft die Ängste der Gegenwart: Atemnot und Budenkoller." "Es sieht kompliziert aus", meinte Korthaus. "Ja, die europäischen Verträge haben alles komplizierter gemacht. Jeder kann jeden behindern."
In den folgenden Monaten setzte eine weltweite Medienkampagne ein, in der der Schutz der Atmosphäre das Leitthema bildete, die Raumfahrt aber als Vehikel der Klimaforschung mit in das Blickfeld kam. In der Astrologie stand der Mars nun im Mittelpunkt. Die Geologen entdeckten ihn für ihre Forschungen und die USA holten die ersten Bodenproben mit einer Roboter- sonde vom Mars. Das Wesentliche geschah aber von der Öffentlichkeit unbemerkt. Große Konzerne erhielten neue Vorstände und Direktoren. Großaufträge für die Schwerindustrie Spaniens wurden vergeben. Deutschland intervenierte in Brüssel wegen dieser Vorgänge. Noch immer war das Marsprojekt nicht Gegenstand der Trans- aktionen. Der Amerikanische Geheimdienst ahnte allerdings etwas. Unverhofft erhielt die Nasa mehr Gelder bewilligt um einige Raumfahrtprojekte rascher vorantreiben zu können.
Korthaus und Berg trafen sich im Turm, der nun streng abgeschirmt war. Mehrere Sicherheitszonen waren zu Lande, zur See und in der Luft errichtet worden. In einer dieser Nächte sprach ein enttäuschter Korthaus zu Berg:" Frankreich bewegt sich nicht, Eurpoa bewegt sich nicht, Deutschland interveniert wegen der Industrieprojekte in Spanien. Was nun ?" Berg lächelte und sagte:" Es läuft alles bestens. Aber ich habe noch nicht die entscheidende Karte in unserem Spiel gelegt." "Sag es mir doch !", forderte Korthaus Berg auf. "Cloudine von Reims !" Korthaus blickte seinen Freund verständnislos an. Berg sagte:" Diese Dame ist die Geliebte von P.H. aus Paris, dem Bankier und Industriellen." "Dem halb Frankreich gehört", ergänzte Korthaus. "Und ein Drittel der Wallstreet", fügte Berg hinzu. Er legte ein Personendiagramm auf den Tisch. Dort waren über mehrere Personen als Zwischenstufen Verbindungen zu der
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Dame hergestellt. Berg erklärte:" Diese Dame war unser einzige großes Problem. Sie interessiert sich gar nicht für die Raumfahrt." "Und diese Dame soll das Marsprojekt über P.H. anschieben ?", fragte Korthaus. "Sie macht es !", sagte Berg fröhlich. "Wie hast Du das gemnacht, - Du hast sie doch nicht ...?" "Aber mein Freund, das ist nicht möglich ! Nein, es war ein Umweg über Hollywood, über G.C. den Regisseur von "Regenwald". Wir haben der Dame für nächstes Jahr eine Hauptrolle gegeben." "Und nun interessiert sie sich für den Mars". "Sie muß, es gehört zu dem neuen Film. Wir haben sie gebeten, die notwendigen Sätze gegenüber P.H. fallen zu lassen." "Das genügt ?", fragte Korthaus. "Nein, nein, natürlich nicht. Aber nun kommt die spanische Stahlindustrie ins Spiel. Wenn er mitzieht, erhält er die nächsten zwei Großaufträge. Außerdem befürchtet er, bald seine Freundin an Hollywood zu verlieren. Er wird sich mächtig anstrengen." "Und der Aufsichtsrat ?", fragte Korthaus. "Das hat dein Direktor B.H. in Toulouse gemacht, alle eingekauft." Korthaus Gesicht hatte sich aufgehellt. Er strahlte zufrieden und sagte:" Du schaffst es, ich sehe Du schaffst es." "Du hast doch nicht gezweifelt ?", meinte Berg verschmitzt wie ein sechsjähriger Junge. "Nein", log Korthaus.
Die internationalen Konzerne und Börsen sind in gewisser Weise den alten kontinentalen Großmächten vergleichbar. Aber eben nur in gewisser Weise. Berg wollte sie Festung für Festung nehmen wie 1796 die östereichischen Truppen in Italien. Aber es gab Gegenreaktionen. Das Stahlkartell, welches Berg zusammengeschmiedet hatte und Frankreich mit Spanien eine Weltmachtstellung gab, führte zu heftigsten Reaktionen jenseits des Atlantiks. Amerika, Kanada und sogar England sahen die Notwendigkeit die Bergschen Bemühungen zu überragen. Noch bevor die erste Raketenstufe der französischen Marsrakete in Französisch Guyana probelaufen konnte, stand eine internatinal unter Amerikas Führung gebaute Rakete startbereit zum Flug zum Mars.
Korthaus ging, nachdem er über den Sicherheitsapparat kurz vorher davon erfahren hatte, mit bangem Gefühl zum Turm. Er wußte, daß Berg das Wort Zweiter oder gar Verlierer nicht kannte. Es war eine milde Nacht, Neumond und ideal zum Beobachten. Als Korthaus oben ankam, kam ihm Berg freudestrahlend entgegen, lief auf ihn die drei Schritte zu, für die in der Turmspitze Platz war, und rief: " Wir fliegen zum Mars, wir fliegen zum Mars !" Korthaus sah aus wie ein Zweitklässler, der eine Aufgabe in höherer Mathematik lösen soll. "Ich versteh gar nichts !", sagte Korthaus. Berg erwiderte:" Ich hoffe Du verzeihst mir. Ich habe nicht alles verraten." "Was ??", meinte Korthaus entrüstet, aber mit einem Unterton nur scheinbarer Entrüstung. "Willst Du sagen, daß Deine
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Rückkehr von Elba nun doch zum Ziele führt." "Elba", meinte Berg, leicht grimmig, fing sich aber gleich wieder und sprach: " Ich kann mich heute nicht einmal über Elba ärgern. Also mein Freund, wir zwei, hörst Du, wir zwei Fossilien fliegen zum Mars." Korthaus sah ihn immer noch verdattert an und forderte dann: "Nun los, erzähl es endlich." "Du zürnst mir nicht ?" "Nein verdammt noch mal, erzähl!" Berg setzte sich auf den Stuhl an den Tisch mit der Teekanne, nahm die Tasse und einen Schluck daraus und begann genüßlich zu berichten: "Ich habe in den letzten 180 Jahremn sehr viel Zeit zur Analyse gehabt. Es ist alles glasklar: Moskau, Waterloo." "Bitte komm zur Sache !", forderte Korthaus ungeduldig. "Ich muß schon ausholen", sagte Berg und fuhr fort: "Der linear angelegte Feldzug ist tot. Moskau war linear angelegt. Wir müssen dual vorgehen. Ich meine nicht einen Zweifrontenkrieg. Aber ich erkläre das besser an der jetztigen Situation. Als ich Dich bat die Gesamtleitung des Projektes zu übernehmen, war klar, daß der CIA und alle andere Dienste bald dahinter kommen würden. Da Amerika unwiderruflich die militärisch und ökonomisch schlagkräftigste Macht ist, wäre Frankreich in jedem Fall gescheitert." "Du hast das alles inszeniert ?" fragte Korthaus. "Ja", fuhr Berg fort: " Leider mußte ich auch Dich im Ungewisen lassen. Es gab kein Wort, welches nicht abgehört wurde. Ich habe das zweite Projekt, welches im Schatten des großen stattfand, mit meiner Putzkolonne durchgeführt." Korthaus sah aus wie einer, der zum ersten Mal ein Flugzeug erblickt. Berg fuhr fort: "Diese Putzkolonne hat es in sich. Der Leiter ist ein ehemaliger französischer Legionär, die Putzfrauen sind Wissenschaftlerinnen. Ich weiß, was Du sagen willst, wieso die Dienste nicht dahinter gekommen sind. Ganz einfach, ich habe sie alle zu Arbeitslosen gemacht. Alle waren über sieben Jahre arbeitslos. Das sind diejenigen Personen, für die sich absolut niemand mehr interssiert. Du siehst, auch die Dienste können auf ihre Vorurteile hereinfallen. Langweile ich Dich ?" "Nein, aber wieso werden wir zwei zum Mars fliegen." "Also gut", sprach Berg: "ich überspringe den Mittelteil und komme zur Gegenwart. Es war klar, daß Amnerika sich gewaltig bemühen würde, wenn in Europa, speziell Frankreich das Marsprojekt starten würde. Ebenso klar war, daß die Amerikaner dann im Wettstreit siegen würden und Frankreich letztlich das eigenständige Projekt wüde umwandeln müssen in eine internationale Beteiligung. Also Frankreich macht nun bei den Amerikanern mit." "Aber bitte, wieso fliegen wir zum Mars!", hakte der nun ungeduldige Korthaus nach. Berg sagte:" Es gibt eine Altersforschung bei der Nasa. Die Putzkolonne hat passende Leiter in die Nasa einsetzen lassen und uns zwei angeheuert als Astronauten und Testpersonen der Altersforschung daran teilzunehmen."
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"Und wie alt sollen wir offiziell sein ?" "Nun, ich bin 85 und Du 86 Jahre alt." "Berg !, das ist unfair. Haben wir uns nicht geeinigt, daß ich 75 Jahre alt bin", sagte Korthaus leicht grollig. Berg wußte, daß Korthaus ihn im Turm nicht mit "Berg" anredete, es war also ernst. Deshalb sagte Berg: "Bitte, bitte entschuldige, aber das Alter wurde von der Nasa festgesetzt. Der das tat, hatte den einzigen Leiterposten, den die Putzkolonne nicht besetzen konnte. Der zuständige Wissen- schaftler ist nicht austauschbar." Korthaus sah das ein und entschuldigte sich: "Tut mir leid, aber das ist natürlich klar. Und es ist großartig, daß Du es geschafft hast. Also dein zweites Ziel der dualen Technik war, daß wir selbst zum Mars fliegen." "Es war das Erste, das Zweite war nur zur Ablenkung gemacht. Ich bin zwar vernarrt in Frankreich, aber ich sehe doch was nicht geht. Und ich will zum Mars!"
Korthaus war nach einigen Stunden nach Hause gegangen um seiner Familie zu erklären, daß er in einigen Wochen für 2 Jahre verreisen müßte. Frau Korthaus war außer sich: "So weit mußt Du gehen mit diesem alten Spinner. 2 Jahre, da lebe ich vielleicht nicht mehr. Ich werde nicht auf Dich warten !" Sie tobte noch eine Weile lang weiter. Korthaus war davon nicht sehr beeindruckt. Aber er fragte sich, ob Berg ihn nicht ernsthaft narren würde. Ihm war auf dem Heimweg der Gedanke gekommen, daß die Astronauten mehrere Monate lang üben müssen, bevor sie starten dürfen. Die Rakete sollte aber in knapp zwei Wochen starten. Als Frau Korthaus sich beruhigt hatte und er sich zum Schlafen in sein Zimmer zurückgezogen hatte, nahm er sein Handy und rief Berg an. Der war noch im Turm. Er hatte keine solche Szene zu Hause erlebt, Frau Berg war sehr tolerant und verstand sich als Komplize ihres Mannes, auch bei der bevorstehenden Marsfahrt. "Was ist mit unserem Training ?", fragte Korthaus am Telefon. Berg antwortete:" Das habe ich ganz vergessen. Wir müssen morgen früh zum Trainer, Robertstraße 7 im Fitneßcenter." "Aber das kann doch nicht das Astronautentraining sein ?" "Es ist ein Schnellkurs. Der Trainer ist Jan Sinser, der dritte Mann auf dem Mond." "Wie kommt der hierher ?" "Na wie schon, er ist angestellt worden." "Von der Putzkolonne". "Ja,- sag mal hast Du keine Lust mehr ?", fragte Berg. "Oh doch, aber die Familie." "Mm, also morgen um 7 Uhr, das sind noch drei Stunden Schlaf, Gut Nacht." "Aber wie hast Du das ge...", Korthaus merkte, daß Berg auf- gelegt hatte. Er fragte sich, wie das alles gehen sollte. Sie hätten doch im Astronautencenter in Huston sein müssen. Aber Berg dachte nicht daran, dorthin zu fahren. Wie sollte das nun gehen. Dennoch schlief Korthaus noch zwei Stunden. Um fünf vor sieben trafen sich die beiden Freunde an der Eingangstür des Fitneßcenters. Korthaus fragte: " Wie ist das möglich, wir sind hier." "Wo sollten wir sonst sein ?!" "Aber das Training in Amerika ?"
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"Ach so, das habe ich vegessen Dir zu erklären. Das Training in Amerika machen zwei Herren für uns, die uns zum Verwechseln ähnlich sind. Sie sind von..." "...der Putzkolonne eingestellt worden.", führte Korthaus den Satz mit Ironie zuende. "Gewiß !" Der Astronaut Jan Sinser kam heran und begrüßte die Herren. Dann begann das Training. Es war eine gekürzte Fassung des Trainings, das die beiden Doppelgänger von Berg und Korthaus in Amerika durchgeführt hatten.
Die Zeit des Training verging im Flug. Pünktlich zur letzten medizinischen Untersuchung trafen Korthaus und Berg in Cape Canaveral ein. Die beiden Doppelgänger wurden abgelöst und verschwanden aus der Gegend. Zur gleichen Zeit startete von Französisch Guyana eine Rakete einer Organisation für Abfall- entsorgung im All. Dahinter stand ein Direktor von Korthaus und dahinter das Kapital von Berg. Diese Firma erledigte im Auftrag anderer Regierungen die Entsorgung von Weltraumüll, also ausgedienten Satelliten, Raketenteilen usw. in den Erd- umlaufbahnen, da diese Teile zur Gefahr für die Raumfahrt geworden waren. Zugleich wurden auch Satelliten im Auftrag von Instituten und militärischen Organisationen hochgebracht. Berg hatte natürlich noch ganz andere Dinge im Kopf als er diese Firma aus anderen ähnlichen Firmen zusammengesetzt hatte. Auch Korthaus war nicht über alles informniert. Das war keine Vetrauensfrage, sondern Korthaus war längst bevorzugtes Ziel der Spionage aller möglichen Geheimdienste geworden. Inoffiziell, aber mit Unterstützung der Französischen Regierung enthielt diese Rakete auch eine Rettungskapsel für die internationale Marsrakete. Man war in Amerika darüber nicht begeistert, konnte es aber nicht unterbinden. Die Medien schwiegen es tot. Über verschiedene Mittelspersonen hatte Berg es einrichten können, daß die anderen fünf Astronauten der Marsrakete für die geplanten Aktionen von Korthaus und Berg geeignet waren. Patrioten und Pedanten waren aussortiert worden. Die insgesamt sieben Mitglieder der Rakete waren alle verwegene Abenteurer. Der Countdouwn begann: zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, null, Start ! Die fast 200 Meter hohe Rakete hob ab und erreichte nach wenigen Minuten die Erdumlaufbahn. Nach einigen Erd- umkreisungen wurde sie an die Raumstation angekoppelt und dort nachgetankt. Dann begann dr Flug zum Mars. Er sollte sieben Monate für die Hinfahrt und neun Monate für die Rückfahrt andauern. Der Aufenthalt war für nur 2 Wochen vorgesehen. Während der esten Wochen koppelte sich das parallel fliegende Rettungsteil der französischen Rakete an das Raumschiff an. Dieses Manöver war nicht im Flugplan vorgesehen. Das Leitzentrum in Huston protestierte sehr, aber es war nichts dagegen zu machen. Der Kommandant des Raumschiffs wurde per Funk von der Erde seines Postens enthoben, aber der neu ein eingesetzte Kommandant, der bisherige Stellvertreter war ein enger Vertrauter von Korthaus. Er führte die Pläne der beiden alten Herren noch besser als der erste Kommandant aus. Man sah wohl in Huston, daß die Maßnahmen von der Erde aus nichts einbrachten und machte, schon wegen der Medien und des welt- weiten Interesses an dem Flug kein Aufheben mehr sondern gute Miene zum Spiel. Was blieb auch anderes übrig. Die lange
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Wartezeit im Raumschiff verbrachten Korthaus und Berg oft mit Gesprächen. Insofern kehrte die Situatuon wieder, die sie im Turm gehabt hatten. Korthaus sagte einmal: "Nun sind wir wieder im Turm, es ist fast die gleiche Situation." Berg antwortete: " Wir tun das Sinnloseste was möglich ist, aber es ist auch sehr wichtig. Ein gutes Gefühl so da zu sein und nichts weiter zu tun zu haben als zu warten." "Einige der Männer neigen zur Langeweile." "Ich weiß", antwortete Berg:" aber das wird sich ändern, wenn wir am Mars sind. Es ist merkwürdig, dieses Hadern mit dem Zeitablauf. Bei Langeweile vergeht sie den Leuten zu langsam, bei anregender Tätigkeit zu schnell. Da ist etwas ungeordnet in den Köpfen. Der Augenblick ist immer der gleiche. Zeit zu haben zum Nichtstun ist doch nichts anderes als den Urzustand der Lebewesen und gar der Materie zu erfahren. Die Körper kreisen in sich selbst. Ihre Selbstwahrnehmung ist ihr Lebens- ziel. Was aber als angenehm gilt: Aktion, Abenteuer ist doch Ablenkung davon, so wie das Wachsein Ablenkung ist vom Schlaf. Aber Wachsein und Tätigkeit sind Überlebensnotwendigkeiten und von Außen bestimmt, also das Unfreieste, was es gibt. Die Leute denken es umgekehrt. Das in sich Sein empfinden sie als Langeweile und Unfreiheit, das nach außen Gehen als Freiheit." "Aber ist dies nicht auch Freiheit ?" fragte Korthaus. "Auch, aber eine Freiheit als Mittel zum Zweck. Der Zwerck aber ist innen." "Sehr extrem, nicht wahr", meinte Korthaus. "Ja, so wie Dein Kunstbegriff in etwa." Die anderen Astronauten hörten gelegentlich zu, aber meist waren sie mit anderen Dingen beschäftigt, sahen Filme an, führten Dienst oder schliefen. "Sag mal, wie ist denn Dein Eroberungsdrang mit Deiner Überlegung zur Freiheit im Innern zu verbinden ?" "Wie meinst Du das ?", fragte Berg zurück. "Du willst den Mars erobern, ich kann mir schon vorstellen wie, sehr wenig innerlich, aber äußerlich, als eigener Staat." "Psst," machte Berg,:" das muß noch unter uns bleiben. Du weißt es aber so gut wie ich, nicht wahr." "Ja, schon." "Also reden wir erst später wieder davon ?!" "Gut", erklärte Korthaus sich einverstanden. Es war in der Tat micht ganz ungefährlich die Bergschen Pläne zu früh zu enthüllen. Von der Erde aus drohte zwar keine Gefahr, aber es konnte doch der notwendige Nachschub ins Stocken geraten, wenn die maßgebenden Leute auf der Erde sich zu sehr düpiert fühlen würden von Bergs Eigenständigkeit.
Die Beobachtung des Weltraums hatte seinen eigenen Reiz. Viel deutlicher als von der Erde, waren die Sterne vom Raumschiff aus zu sehen. Es war wieder einer dieser langen Tage und Nacht-tage als Korthaus noch einmal auf die Langeweile zu sprechen kam. "Der Mensch ist ein Apparat zur Überwindung von Schwierigkeiten die notwendig da sind. Da stimmst Du mir zu ?!" Berg erwiderte: "Ja, uneingeschränkt." Korthaus fuhr fort: " Und manche werden krank, wenn sie zur Untätigkeit verurteilt sind ?" "Gewiß".
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"Wie ist es denn möglich, daß Du die Untätigkeit so hoch stellst, höher als die Tat ?" Berg lächelte und erwiderte:" Ich habe übertrieben. Niemand kann immer nur schlafen. Es wäre sein Todesurteil, wenn er es müßte. Knochenschwund usw. wären die Folgen neben noch schwer- wiegenderen. Aber es ist doch ein Unterschied ob die Tätigkeit in der Außenwelt als das Leben verstanden wird und die Wendung nach innen unbekannt bleibt. Das ist ebenso tötlich. Der Untegang der Zivilisationen ist bestimmt durch diese Einsetig- keit verursacht." "Also beide zu gleichen Teilen, innen und außen ?" fragte Korthaus. "Wenn es so einfach wäre. Jeder Mensch lebt anders, jede Epoche kennt andere Schwerpunkte. Aber die Wendung nach innen ist auch eine Tätigkeit, eine hochsensible. Es gibt Balancen die unbekannt sind, aber dennoch lebens- wichtig. Für den Höhepunkt sind sie grundlegend. Jedes Aufwärtsgehen, ob in Gedanken, im Körpergefühl, in der ästhetischen Kreation entsteht auf einer Stufenleiter von vorhergehenden Balancen." "So sehe ich das auch", stimmte Korthaus zu und fragte: "Du bist aber mit dem Marsprojekt eher im Bereich der Tat, ich meine der simplen Tätigkeit. Wie ist das möglich ?" "Vielleicht täuscht Du Dich. Es ist doch denkbar, daß in beiden Dimensionen der Mensch sich steigert. Vielleicht steht der großen Tätigkeit auch ein großes Inneres zur Seite. Nur sieht man das Letztere nicht." "Dann wäre das nach Außen Gleiche doch nicht gleich.", meinte Korthaus. "Bestimmt ist es so. Manch einer ist gesellschaftlich aktiv und fällt damit auf und zugleich innerlich blind, was niemand bemerkt. Ein Anderer mag gleichermaßen altiv sein und zugleich innerlich auch sehr tätig und reich, und wiederum bemerkt auch das nicht jeder." "Nicht Jeder ?", fragte Korthaus und gab selbst die Antwort: "Die sensibleren und erfahreneren Geister spüren was los ist." Berg nickte und wandte sich wieder der Beobachtung der Sterne zu.
Als das Raumschiff mit dem angekoppelten Rettungsmodul die Hälfte der Strecke zum Mars zurückgelegt hatte, erkrankte der Copilot an einer unspezifischen Grippe. Der ärztlich ausgebildete Funktechniker sah keine Möglichkeit ihm zu helfen. Das Fieber stieg an und nach acht Tagen verstarb der Kranke. Das Leitzentrum auf der Erde bot den Astronauten im Raumschiff den Abbruch der Mission an. Das war so vorgesehen im Todesfalle eines Mannschaftsmitglieds. Bei der Besprechung der sechs ver- bliebenen Astronauten beschlossen diese einstimmig weiter zu fliegen. Zwei Wochen später erkrankte der Kommandant des Raumschiffs ebenfalls an Grippe. Auch er verstarb nach acht Tagen. Bis auf Berg und Korthaus waren die anderen Astronauten sehr deprimiert. Sie wollten zur Erde zurück. Es kam zur Abstimmung darüber. Die drei noch verbliebenen Astronauten stimmten für den Heimflug, Berg und Korthaus dagegen. Jene drei vermochten nicht vernünftig zu diskutieren. Sie waren verstört und bestanden hartnäckig auf dem Heimflug. Korthaus sagte: "Wenn die beiden Verstorbenen einen Virus gehabt haben, so ist
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der einzige Schutz, das Raumschiff sofort zu verlassen, das geht aber nicht. Wahrscheinlich ist das Virus schon in uns allen und wir müssen abwarten ob es uns erkranken läßt. Die Heimkehr wird Monate dauern. Bis dahin sind wir tot oder haben das Virus überstanden. Wenn wir es übestehen, können wir auch den Mars anfliegen. Wenn nicht, dann ist es gleichgültig ob wir auf dem Heimflug sterben oder auf dem Weiterflug zum Mars." Berg stimmte dem zu, aber die drei Anderen waren nicht mehr logisch beeinflußbar. Sie glaubten, es würde ihnen leichter werden auf dem Heimflug zu sterben. Als die Erd- station den Stand der Lage erfuhr, gab sie den Befehl zum Abbruch der Mission. Das Raumschiff mußte also heimnkehren. Die Berechnungen für den Heimflug nahmen einige Stunden in Anspruch. Währenddessen erkrankten auch die drei übrigen Astronauten an Grippe. Die Bahnberechnungen zeigten, daß die vorzeitige Rückkehr des Raumschiffes mehrere komplizierte Manöver erfordern würde. Mit dem schweren Fieber des Funktechnikers war der letzte Astronaut ausgefallen, der diese Manöver hätte durchführen können. So flog das Raumschiff mit den drei Schwerkranken, Korthaus und Berg weiter zum Mars.
Der Funktechniker genas in den nächsten zwei Wochen. Er allein war aber nicht in der Lage die Landung auf dem Mars und die Rückkehr zum Raumschiff im Marsorbit durchzuführen. Die Leitstation Huston wollte deshalb das Raumschiff über die Fern- steuerung nach der ersten Umkreisung des Mars wieder zur Erde zurückführen.
Es kam zu dem entscheidenden Gespräch zwischen Korthaus und der Bodenstation in Huston:" Wir zwei, Korthaus und Berg wollen mit dem Rettungsmodul auf dem Mars landen und dort bleiben, bis die nächste Marsrakete von der Erde eintrifft." Houston antwortete:" Wir brauchen eine Bestandsaufnahme des Raumschiffs und des Rettungsmoduls". Korthaus gab die vorbereiteten Daten in das automatische Lesegerät von wo sie zur Erde gefunkt wurden. Nach zwei Tagen kam von der Erde die Antwort. Berg und Korthaus konnten auf eigene Gefahr auf dem Mars landen und durften dazu die Landefähre benutzen. Diese sollte ohnedies nicht zur Erde zurückgebracht werden, dafür war kein Treibstoff vorgesehen. Allerdings wurde ihnen vorgerechnet, daß möglicher- weise das nächste Marsraumschiff nicht so zeitig beim Mars eintreffen würde, daß die Beiden bis dahin überleben könnten. Das Kommando für die Operationen auf dem Mars sollte an die Europäische Raumfahrtbehörde übergeben werden, weil das Rettungsmodul als wichtigster Bestandteil des Aufenthaltes auf dem Mars von Frankreich bereitgestellt worden war.
Die Marsrakete erreichte zur berechneten Zeit nach einer Flugdauer von acht Monaten und zwei Tagen den Marsorbit. Die beiden noch kranken Astronauten waren auf dem Weg zur Genesung. Da aber der Kommandant und der Copilot ausge- fallen waren, sollte das Raumschiff mit den drei Astronauten ohne Berg und Korthaus wieder zur Erde zurückkehren. Das Rettungsmodul wurde vom Raumschiff getrennt und landete ferngesteuert auf dem Mars. Berg und Korthaus bestiegen die Landefähre und verabschiedeten sich von den drei Astronauten.
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Dann wurde die Landefähre abgekoppelt und setzte zur Landung an jener Stelle an, wo auch das Rettungsmodul niedergegangen war. Die Rakete im Marsorbit flog zurück zur Erde.
Das Rettungsmodul war beim Auftreffen auf dem Marsboden in richtiger Standposition aufgeklappt. Es war von Anfang an als Station gedacht und nur nebenbei als Rettungsmodul. Es war ein auffaltbarer Iglu mit 20 Metern Durchmesser, enthielt Nährböden und Pflanzen, Aquarien und Fische. Als die Landefähre aufgesetzt hatte, stiegen Korhaus und Berg in die Raumanzüge und gingen zu dem Iglu, der nur etwa 200 Meter entfernt stand. Die Folie war durchsichtig, sodaß die Beiden die Marslandschaft betrachten konnten. Der ockerrote Sandboden war mit Geröll bedeckt. Die Sonne ging unter. Die Atmosphäre war fast schwarz mit einem leichten Schimmer, der von dem sehr dünn verteilten Gas der Atmosphäre verursaacht wurde. Nacvh einigen Stunden konzentrierter Arbeit hatten die Beiden die Station aktiviert und die einzelnen technischen Aggregate in Betrieb genommen. Neben einem Sonnensegel wurde die Energie von einem aüßerlich kleinen Kernreaktor geliefert. Als die Marsnacht begann, saßen die Beiden an einem Tisch und tranken Tee. Korthaus sagte:" Wir haben es geschafft." Berg antwortete:" Ja, es ist eine noch bessere Ausgangsposition als jene, die wir hätten, wenn alles ohne die Krankheiten verlaufen wäre." "Wird man wegen der Todesfälle die weiteren Flüge verzögern ?" "Ich denke schon. Wichtig ist es, ob die drei Anderen gesund zur Erde zurückkehren. Wenn nicht, dann werden wir hier nicht mehr wegkommen." "Willst Du zurück ?", fragte Korthaus. "Nein, aber stell mir die Frage in zwei Monaten noch einmal, dann kann sich alles geändert haben." "Wie lange können wir ohne Hilfe hier aushalten ?" "Ich habe das Modul für 1 Jahr berechnen lassern. Aber es wird wesentlich länger gehen." "Warum ?", fragte Korthaus. Berg erwiderte:" Ich bin sicher, daß wir die biologische Regenerierung voll in Gang bringen, mit Tomaten..." "Mit Tomaten ?" "Ja, und Fischen und alles was wir brauchen." Korthaus sah Berg ungläubig an und sagte:" Das heißt, Du hast mir wieder einiges vorenthalten, denn auf zwanzig Meter ist das nicht denkbar." "Ist es nicht, aber ich konnte nicht alles sagen. Wir sind ständig überwacht gewesen. Das ist erst jetzt, nachdem wir die Landefähre verlassen haben vorbei." "Nun mach es nicht so spannend", forderte Korthaus. Berg erklärte:" Wir bauen in den nächsten Wochen mehrere große Plastikiglus auf. Dort werden wir Landwirtschaft betreiben und Sauerstoff gewinnen. Stück für Stück wird unsere Welt größer werden." Nun erhob sich Berg, ging zu einem Vorratsschrank und holte eine Flasche Cognac heraus:" Jetzt werden wir erst einmal feiern." "Die Eroberung des Mars", sagte Korthaus. "Wir trinken auf Neufrankreich". Damit hob Berg das gefüllte Glas und prostete Korthaus zu.
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An einem der folgenden Tage sah man Korthaus und Berg als Gemüsegärtner. Berg setzte Kartoffeln, Korthaus säate Möhren. Die Lampen waren in dem Gewächsiglu angeschaltet, durch die Folie war der rostbraune Marssand zu sehen. Der Himmel war eigentümlich dunkel mit einem unmerklichen Lichtschimmer. Korthaus sagte:" Wie fühlst Du Dich als Gemüsegärtner ?" "Was bedeutet Deine Frage ?" "Nun, es hat nicht so viel mit Rivoli zu tun." Berg kam aus seiner gebückten Haltung hoch und sagte: "Mehr als es aussieht, viel mehr ! Wir haben den Mars erobert." "Ohne Zweifel, General !" "Aber ?", fragte Berg zurück. Korthaus war zum Schabernack aufgelegt, aber er wollte Berg nicht verärgern. Deshalb sagte er:" Wir sind doch beide etwas mehr Stil gewöhnt. Eine kleine Krönung.." "Korthaus !", sagte Berg etwas entrüstet. Dieser erwiderte:" Entschuldige, aber ich habe wirklich Interesse an einem großen Auftritt." Berg war etwas versöhnlicher gestimmt und meinte: "Wie sollen wir das machen ?" Korthaus meinte: "Ich habe ein doppeltes Spiel vor. Wenn wir die Krönung zum Kaiser des Mars durchführen, dann müßte auch genügend Publikum dabei sein." "Unbedingt", bekräftigte Berg. "Also mit einer Übertragung zur Erde und 3 Milliarden Zuschauern." Berg lächelte versonnen vor sich hin und meinte leise:" Was wäre das für ein Tag". "Wir müssen es etwas modifizieren. Also ich denke, wir tarnen die Krönung als Dreharbeiten zu einem Film." Berg nahm Korthaus spontan in die Arme: "Ein Geniestreich ! - und dann verkünden wir die Verfassung." Korthaus hatte da seine Bedenken, sagte aber nur:" Wie lange brauchen wir zur Vorbereitung.?" Berg antwortete:" Ich brauche vier Tage für die Proklamation und den Verfassungstext. Wie lange brauchst Du ?" Korthaus meinte:" Ich baue einen Thron draußen in der Ebene. Wir benötigen eine Krone, die auf den Raumanzughelm paßt." "Wie bitte ?", meinte Berg. "Du mußt die Zeremonie schon überleben, oder wie soll es ohne Dich weitergehen." Berg fiel nun ein, daß draußen keine Luft zum Atmem war und lenkte ein: "Natürlich, mit Helm, bedauerlicherweise."
Zwei Tage waren vergangen. Berg hatte konzentriert an den Texten für die Verfassung und die Proklamation gearbeitet. Dann bekam er Bedenken. Beim Nachmittagstee sagte er zu Korthaus:" Mir sind Bedenken gekommen. Wenn wir meine Krönung durchführen ist alles was bisher im Verborgenen geschah offen- sichtlich. Ich werde in das ewige Spiel der politischen Kräfte hineingezogen. Wir werden vielleicht als Separatisten angesehen, vielleicht als Verrückte, wer weiß." "Was willst Du tun ?" "Wir bleiben im Turm." antwortete Berg. "Das wird nicht lange gehen. Wenn wir hier durchhalten bis das Versorgungsschiff kommt, werden neue Kolonisten eintreffen. Es wird hier munter zugehen." "Ich weiß. Das ist immer so. Jeder Turm ist vorläufig. Zur
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Ostsee können wir nicht mehr zurück. Aber wir haben ein Jahr Zeit bis das nächste Schiff kommt, dann vielleicht noch einmal zwei Jahre. Also mindestens ein Jahr. Danach ziehen wir um in einen anderen Turm." "In welchen ?" Berg antwortete:" Europa." "Den Jupitermond ?" "Den oder einen anderen", erklärte Berg:" Dort werden wir mehrere Jahre Zeit haben." "Aber die Mitteilung. Es gibt doch gar keine Vermittlung mehr bei unserer Arbeitsweise," meinte Korthaus. "Doch, wir hinterlassen die Schriftplatten aus Ton. Wir haben eine unsichtbare Schule für die Zukunft. Wir teilen uns den Generationen des übernächsten Jahrtausends mit." "Aber die Heutigen könnten doch auch brauchbare Schüler sein", wandte Korhaus ein. "Bestimmt, aber wir könnten nicht weiter machen. Es gibt keinen Turm im Licht der Öffentlichkeit." CD "Wie wäre es, wenn wir den Film weiter drehen würden ?", fragte Korthaus. "Ja, machen wir weiter."
An einem der folgenden Tage baute Korthaus in der Nähe der Iglus seine Kamera auf. Berg hatte einen elektrischen Meißel mitgebracht. Ein großer Felsbrocken von etwa 12 Metern Höhe sollte mit Inschriften und Reliefs versehen werden. Vor dem fertig gestellten Monument sollten die Gespenster wieder auftreten. Nach Korthaus Drehbuch gehörte die Real- ebene, hier die Arbeit am Stein mit zur Handlung. Es gab ständig Verwandlungen von realen Personen in Gespenster und umgekehrt, eben so wie es im wirklichen Leben auch ist. Die Arbeit in den Raumanzügen war mühselig. Es vergingen einige Wochen harter Arbeit. Korthaus löste Berg regelmäßig bei der Steinmetzarbeit ab. Es wurden sehr schöne üppige Frauenkörper in den Stein gemeißelt. Erläutert wurden sie mit fremdartig wirkenden Zeichen, die Berg aus ägyptischen Quellen übernommen und umgewandelt hatte.
Dann kam die erste Gespensterszene, die auf dem Mars spielte. Berg und Korthaus hatten sich weiße große Laken über die Raumanzüge gezogen. Sie sahen nichts mehr, aber ein Trick half ihnen weiter. Korthaus stellte mit unverhülltem Kopf die Kamera auf automatische Aufnahme, ging dann zu Berg stellte sich in Position und verhüllte seinen Kopf. Berg, ebenfalls mit verhülltem Kopf, hob beide Arme. Korthaus erschrak, fiel zu Boden. Berg hob ihn auf, aber Korthaus fiel wieder um. Dann machte Berg ein Zeichen mit beiden Armen und Korthaus verschwand nach dem Drehbuch von der Bildfläche, - letzteres wurde mit einem Bildschnitt gemacht, der erst später erfolgte. Es war das Thema der Begegnung von großen und kleinen Geistern. Der Große versucht den Kleinen zu sich hinauf zu - ziehen, der Kleinere ist dem nicht gewachsen und geht zugrunde.
Unterdessen hatten die beiden alten Herren auf der Erde große Aufmerksamkeit geweckt. Es hatte niemand für möglich gehalten, daß sie in der Lage sein würden in den Plastikiglus zu überleben. Die Französische und die Amerikanische Regierung hatten sich über den Status der kleinen Kolonie auf dem Mars
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geeinigt. Sie wurde Neuterra genannt und Korthaus konnte sich Erster Präsident von Neutarra nennen. Berg wünschte nicht mit einem Amt betraut zu werden sondern blieb im Hintergrund. Die Putzkolonne, die für Berg die wesentlichen Vorbereitungen durchgeführt hatte, konnte die Rolle Bergs auch weiterhin verbergen. Es war nun vorgesehen schon bald mehrere Raumschiffe zum Mars zu schicken um die Station mit Nachschub zu versehen und eine dauerhafte Kolonie zu begründen.
An einem der Marstage saßen die Beiden in dem Wohniglu und besprachen die weiteren Schritte. Korthaus meinte:" Wir haben es geschafft. Die Marskolonie wird zur Dauereinrichtung gemacht und wir bleiben mit unserer wahren Rolle verborgen." Berg erwiderte:" Es ist so gekommen, wie es besser nicht sein kann. Viele junge Leute wollen nun zum Mars. Der Umstand, daß zwei sehr alte Männer in der ersten kleinen Marsstation überleben, hat die Bedenken zerstreut und die Ängste weg- geblasen. Vor allem ist der ästhetische Ausdruck in den Mittelpunkt gerückt. Hier sind keine Schätze zu holen. Ohne die ästhetischen Höhepunkte würde jede Raumfahrt bald er- löschen. Was sollte man auf fremden Planeten finden wenn nicht sich selbst."
Vier Monate waren vergangen. Die Astronauten in dem Raumschiff das zur Erde zurück flog, waren gesund. Berg erwartete die Landung einer unbemannten Versorgungsrakete, deren Start bereits vier Monate nach dem Abflug des bemannten Raumschiffs erfolgt war. Das Gemüse in den Iglus wuchs gut, der Wasser und Lufthaushalt waren intakt. "Hast Du eine Überraschung vor ?", fragte Korthaus, als die Beiden sich wieder einmal über das erwartete Versorgungs- raumschiff unterhielten. "Welche Überraschung ?", fragte Berg und lächelte. "Was weiß ich, aber irgend etwas hast Du vor,"
Als endlich das Raumschiff zur Landung auf dem Mars ansetzte, gab es tatsächlich eine große Überraschung. In ein Kilometer Höhe faltete sich das Landemodul auseinander und öffnete einen Rieseniglu aus Plastik, der sich auf vielen kleinen Brems- raketen zu Boden senkte. Er hatte über zweihundert Meter im Durchmesser. Er setzte fast lückenlos mit seiner Unterkante im Sandboden auf. "Nun haben wir einiges zu tun", meinte Berg:" Das Iglu muß zum Boden hin abgedichtet werden, dann die Büsche pflanzen.." "Wir zwei allein ?", fragte Korthaus etwas erschrocken. "Ach wo", antwortete Berg. Das Abdichten machen die Dichtungs- maschinen. Wir müssen sie nur an unseren Stromkreis an- schließen. Die Büsche müssen wir aber selbst setzen." "Aber wie wollen wir die alle mit Wasser versorgen ?", fragte Korthaus." "Sie versorgen sich selbst. Jeder hat eine Wasserreserve in einem Behälter und eine Dunstabsaughaube, also einen eigenen Wasserkreislauf." "Wird das ausreichen ?" "Nicht allzu lang. Wir müssen Wasser von den Polen bekommen." Bevor Korthaus fragen konnte, fuhr Berg fort:" Es kommen noch weitere Versorgungsschiffe mit den entsprechenden Automaten. Aber ab der Nummer vier und allen weiteren kommen Mannschaften
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mit hierher, dann ist unsere Ruhe vorbei." "Und dann, sind wir dann die Vorarbeiter." "Nein, dann fliegen wir weiter oder zur Erde zurück." "Also, bei aller Freundschaft, ich muß zu meiner Frau zurück. Sie wird es nicht akzeptieren, daß wir weiter hinaus fliegen."
Die folgenden Wochen waren mit viel Arbeit verbunden. Die beiden alten Herren leisteten Erstaunliches. Manchmal zogen sie sich auch voreinander zurück. Korthaus hatte einen kleinen Iglus unter dem großen hinter den Büschen bekommen. Berg wohnte weiter in der ersten Baugruppe Iglus, die durch einen Gang mit dem neuen Rieseniglu verbunden war, der aus einer Plastikröhre bestand. Die Ähnlichkeit des Lebens der Beiden mit Robinson und Freitag auf Ihrer Insel war ver- blüffend. Mit dem zweiten Versorgungsschiff kamen Hühner und Schafe auf den Mars.
Berg und Korthaus trafen sich täglich zum Tee zu einer Stunde, die zu dem gehörte, was sie Nachmittag nannten. Berg bemerkte eine seltsame Veränderung an Korthaus. Deshalb fragte er ihn:" Was ist los, Du bist so oft bei den Schafen. Seit wann interessierst Du Dich für Schafe ?" "Korthaus fühlte sich ertappt. Er gab sich einen Ruck und erwiderte:"Wir haben eine junge Frau in den Büschen." "Wie bitte, noch mal !" " Es ist so ! , sie ist als blinder Passagier mit den Schafen hergekommen." "Sie hat Dir den Kopf verdreht und nicht die Schafe." "Was denkst Du, ich bin doch nicht verkalkt. Sie lebt bei den Schafen." "Ich vestehe, Wasser, Nahrung usw., sie könnte gar nicht anderswo überleben. Seit wann ?" "Vorgestern. Ich wollte noch nichts sagen. Vielleicht bin ich verrückt", meinte er nicht ganz ernsthaft,:" und die Dame ist nur ein Schaf." "Stell sie vor !", forderte Berg ihn auf und fuhr fort:" Wie ist sie in das Raumschiff hinein gekommen und wie hat sie das nur ausgehalten ?", meinte Berg. "Sie hat sich mit einem Schaf ausgetauscht. Das heißt, sie war vor dem Start der Rakete in einem Schafsfell versteckt. Die Packer haben sie für ein schlafendes Schaf gehalten. Dann hat sie Fernsehen geguckt. Die Schafe hatten einen Apparat in ihrem Modul." Berg fragte:" Aber warum ?" "Warum ?, das fragst Du. Warum bist Du hier." "Du hast recht", gab Berg zu:" andere haben vielleicht ähnliche Ambitionen wie wir. Aber es ist doch erstaunlich, allerhand. Ich möchte sie so bald wie möglich kennenlernen." "Sie war ziemlich ängstlich, ob sie Schwierigkeiten bekommt," meinte Korthaus und fuhr fort:" es sollte eine Überraschung werden. Sie ist wegen mir hier." "Wie das ?" "Sie kennt mich als Regisseur. Ein Freund aus Hollywood hat es ihr gesagt." "Und dafür diese beschwerliche Reise zum Mars ?" Korthaus sagte:" Sie ist auch wegen der Raumfahrt hier, ein seltenes Interesse bei Frauen." "Oh, ich kenne einige, die sich interessieren.", meinte Berg.
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"Aber welche würde schon diese Strapaze auf sich nehmen. Und es ist auch gefährlich gewesen." "Ja, es ist eine großartige Leistung, sag ihr das. Und sag ihr auch, sie hat nichts zu befürchten. Ich bin ein großer Freund des Films." Korthaus erklärte: " Morgen fangen wir mit den Dreharbeiten an." "Für den Gespensterfilm ?", fragte Berg. "Ich denke es läßt sich in den Film einbauen. Es wird die ungewöhnliche Geburt der Schönheit aus einer Frau in der Steinskulptur."
Berg konnte am anderen Tag von seinem Iglu aus die Proben von Korthaus und Bernadette beobachten, so hieß die junge Frau. Sie war eine hervorragende Tänzerin. In Paris hatte sie Auftritte gehabt, zuerst im Lido, dann in der Oper. Sie trug nun ein weißes Gewand. Ihr dunkelbraunes Haar fiel lang bis über die Schulterblätter hinab. Sie tanzte in der Nähe der Büsche bei den Tierställen und Gemüsebeeten auf einem kleinen Platz, den Korthaus frei gemacht hatte. Korthaus kam nun in der Rolle eines Zauberers auf den Platz. Er trug einen spitzen Hut und einen langen Stab in der Rechten. Er verbeugte sich vor Bernadette, küßte ihrer Hand, drehte sich im Kreis. Dann unterbrach er die Einstellung und richtete die Kamera auf die Steinskulptur. In der nächsten Einstellung stand Bernadette vor dieser Skulptur. Mit einem leichten Sprung war sie auf dem Platz und tanzte mit Bewegungen der Arme, die wie bei einem Vogel im Flug schwangen. Berg war begeistert. Er klatschte in die Hände, was von den Beiden Anderen nicht gehört werden konnte. Nun sprach Korthaus mit ihr. Sie zögerte, sagte etwas, Korthaus sprach weiter, und dann gingen beide auf den Iglu von Berg zu. Dieser ging ihnen entgegen und sagte:" Wunderbar junge Frau !, wunderbar ! Ich sehe die Szene vor den Augen: Sie werden vom Stein in Leben verwandelt und fliegen frei wie ein Vogel davon ." Berg servierte den Beiden Tee. Die junge Frau wurde bald unbefangen. Sie sah, daß Berg sie für ihre wagemutige Tat bewunderte und keine Schwierigkeiten wegen ihrer unerlaubten Reise zu erwarten waren. Korthaus mußte noch verschiedene Dinge aufraümen, die mit den Aufnahmnen zu tun hatten. So waren Berg und Bernadette allein. Berg sagte: " Wie haben Sie das durchgehalten acht Monate allein mit den Schafen ?" "Ich habe an ihn gedacht. Seitdem er bei unseren Drehabeiten zu Gast war." "Sie sind wegen Korthaus hier ?" "Ja". "Sie wollen mit ihm drehen ?" "Ja, aber ich habe nicht geglaubt, daß er hier drehen würde". Berg wurde klar, daß sie wegen Korthaus hier war und nicht um einen Film zu drehen. Sie war offensichtlich verliebt. Deshalb fragte er:"Sind Sie verliebt ?" "Was ist Liebe ? - aber ich bin wegen ihm hier, ich habe Dreharbeiten in den Staaten abgebrochen, weil ich ihn sehen muß. Er hat so viel mitzuteilen. Ich habe ihn in Hollywood einmal reden hören über die Kunst, das Vergängliche, den Tod. Ist eine geistige Faszination Liebe ? Er ist auch ein attraktiver Mann, das schon..."
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Berg mochte nicht weiter in sie dringen. Er fühlte sich etwas unwohl, sich so weit vorgewagt zu haben. Deshalb lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung.
Distanz war etwas Wichtiges, wenn so wenig Raum zur Verfügung stand wie in dieser kleinen Siedlung, in der die Drei nun lebten. Bernadette richtete sich einen kleinen Iglu unter dem Großen ein, der von den beiden Männern aufgebaut worden war. Zwischen den drei getrennten Wohnbereichen bestand eine Telefonfunkverbindung. Wenn sich einer mit dem Anderen treffen wollte, rief er vorher an und fragte, ob es passend wäre. An diesem Tag waren Berg und Korthaus wieder beim Tee zusammen. Bernadette hatte sich zurückgezogen. Sie wußte, daß die beiden Herren ihr tägliches ungestörtes Gespräch brauchten. Obwohl sie oft eingeladen wurde, nahm sie nur solche Einladungen an, die nicht in diese Zeit des Nach- mittagsgespräches fielen. Berg fragte Korthaus:" Welche Beziehung hast Du zu dieser Frau ?" Korthaus erwiderte." Ich bewundere sie wie eine Sternengöttin. Sie hat unseren ganzen Aufenthalt in eine Sphäre gehoben, die ich nicht gekannt habe.. Ob ich sie liebe ?", fragte Korthaus sich selbst als ob Berg diese Frage habe stellen wollen: "Ich dachte, ich wüßte auf solch eine Frage eine Antwort. Es ist eine große Zuneigung, eine Faszination, ein Gefangensein von ihrer Atmosphäre. Ich würde mich selbst betrachten als hätte ich unter ihrem Einfluß eine andere Identität gewonnen. Wenn das Liebe ist, gut. Aber für mich ist es viel mehr. Wenn man liebt, ist es doch eine bestimmte Person, ein Ich welches liebt. Ich weiß nicht was das ist mein Ich. Es geht alles auf in dieser neuen Welt, die durch Sie hier auf diesem Planeten entstanden ist. Es wäre ohne den Mars vielleicht ganz anders. Ich habe noch nicht mit ihr geschlafen... Ob es mein hohes Alter ist ? Ich denke nicht. Diese Verzauberung, die sich mit uns ereignet ist schrecklich und furchtbar ergreifend schön. Wir sehen uns an und verschwimmen ineinander." Berg hatte zugehört und sah nun selbst etwas anders aus als vorher. Er sagte:" Daß Du das schildern kannst ist beeindruckend."
Die nächsten Wochen waren mit den Dreharbeiten ausgefüllt. Auch Berg wurde oft hinzu gezogen. Er sprach gelegentlich mit Korthaus über dessen Zuneigung zu Bernadette. " Was ich da beobachte ist für mich völlig neu", meinte Berg:" Ihr arbeitet zusammen in einer Weise, wie ich sie in der Armee gesehen habe. Ich habe nur die Welt erobert, aber Du die Frauen." Korthaus erwiderte: " Liebe fliegt nicht einfach hinzu. Das erscheint oft so. Selbst wenn zwei sich sofort verlieben, ist es ihr Wesen welches sich ihnen mitteilt. Ihre Geschichte, ihr Lernen und Fühlen ist darin enthalten, etwas mit langen Zeitstrecken, die in diesem Augenblick wirksam werden, ähnlich dem Vulkan, dessen Spannung sich lange vor dem Ausbruch aufgebaut hatte. Aber die tiefste Zneigung kam mir stets in der gemeinsamen
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Produktion. Es können Kinder, die Künste oder eine gemeinsame Empfindung sein und manches Andere. - Es gibt auch eine Liebe der Tat."
Korthaus begann zu komponieren. Er hatte in seinem Computer ein Programm aktiviert, welches ein Klavier und andere Instrumente simulierte. Da Berg und Bernadette von den Stücken begeistert waren, wurden sie ab und zu über Laut- sprecher übertragen und waren dann in allen Iglus zu hören. Aber auch tänzerisch wurde Korthaus aktiv. Schließlich war es so weit, Bernadette und Korthaus luden Berg zu einem Ballett ein, welches Korthaus und Bernadette tanzten. Die von Korthaus komponierte und aufgezeichnete Musik lief dazu. Die Choreographie war von Bernadette geschrieben worden. Korthaus hatte den Tanz gründlich trainiert. Bernadette korrigierte ihn dabei. Die Rolle der Regie war dann vertauscht. Aber nicht nur dann. Auch der Gespensterfilm wurde unter Bernadettes Einfluß zu etwas Neuem.
Der Marsaufenthalt wurde allmählich zu einer Veranstaltung ästhetischer Happenings und Artefakte. Berg bekam große Lust diese Entwicklung auf der Erde bekannt zu machen. Als ewiger Lausebub und verkappter Bürgerschreck wollte er möglichst viele Zuschauer haben und sie verblüffen. Deshalb schlug er den beiden Anderen vor, das Tanzstück zur Erde zu übertragen. Dort war man über die einseitigen Nachrichtensperren, die von Korthaus und Berg nach ihren Bedürfnissen verhängt wurden, nicht glücklich. Nun, da Berg ausführliche Berichte in Aussicht stellte, war man bereit fast jedem Wunsch vom Mars zu entsprechen. Berg wünschte eine globale Sendung über einen Tag auf dem Mars. Man wünschte auf der Erde von den Marssiedlern einen Plan über das, was gezeigt werden sollte. Berg plante unter den Abschnitten des Sendeplans: Wissenschaftliche Berichte, den Großteil der Tagesstunden ein. Mit diesen Berichten wollte Berg alle überraschen. Er dachte nicht daran, diese Stunden mit wissenschaftlichen Berichten auszufüllen derart, was man auf der Erde darunter erwartete. Er plante, nach kurzem Bericht über die biologische Regeneration in den Iglus, das Tanzstück von Bernadette und Korthaus zu senden. Dann wollte er ein philosophisches Gespräch zur Kunst bringen, dann den bereits abgeschlossenen ersten Teil des Gespensterfilms und danach einen Vortrag von Korthaus, warum die Kunst die Mutter der Wissenschaften sei.
Am Tag der ersten Übertragung saßen Berg und Korthaus vor dem Mikrofon und der Fernsehkamera. Berg zeigte Filmaus- schnitte von der Arbeit in den Gewächshäusern und Tierställen. Dann gingen die Aufzeichnungen weiter mit der Steinskulptur, und völlig übergangslos wurde der Film von Korthaus gezeigt. In Houston war der Berater des Präsidenten der USA einge- troffen und sah mit den Anderen der Raumfahrtleitstelle die Übertragung vom Mars. Die Begeisterung bei diesen Leuten kannte kein Ende, als sie sahen, daß die für so schwierig eingeschätzten Regenerationsprobleme nun vollständig bewältigt worden waren.
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Als die Kamera die Steinskulptur zeigte und Korthaus mit der jungen Frau ins Bild kam, deuteten die Herren in Houston dies als Einschub eines Filmes, den die Besatzung auf dem Mars zur Entspannung von der Erde mitgebracht hätte. Dann kam die Stelle des Korthaus Films, die damals auf der Erde gedreht worden war. Das Bild verriet aber nicht, wo das Dargestellte war, ob auf dem Mars oder der Erde. Im Hintergrund der Gespensterdarbietung sah man das Wasser eines Sees. Der Chef des Kontrollzentrums in Houston rief:" Sie haben Wasser auf dem Mars, sie haben es !", und klopfte dem hohen Gast aus dem Weißen Haus auf die Schultern. Dieser verfiel ebenfalls der Illusion der Bilder und der Suggestion durch den Anderen. "Sehen Sie diese neuen Schutzanzüge !", meinte ein Techniker und deutete auf die Laken der Darsteller im Film. " Wohl gegen UV-Strahlung entwickelt". "Und so leicht.", meinte ein anderer. "Wußten Sie von diesen Anzügen ?", fragte der Berater des Präsidenten. "Nein", antwortete des Chef von Houston:" die stammen wahrscheinlich aus Frankreich. Die Station ist in Frankreich gebaut worden." Im Verlaufe der Darstellung wurde nun klar, daß die junge Frau offensichtlich auf dem Mars dabei war. Der Berater des Präsidenten griff zu seinem Handy und teilte dies dem Präsidenten mit: "Wir haben eine neue Lage, die Franzosen haben die erste Frau auf dem Mars." Der Präsident, der ebenfalls über seinen Fernseher die Übertragung gesehen hatte, meinte:" Warum haben unsere Dienste das nicht erfahren ? Das wird Komsquenzen haben ! Zunächst werden wir offiziell einen Glückwunsch zum Mars und zur Französischen Regierng senden ". Die Sendung vom Mars gewann nun an artistischer Höhe, daß jedem auf der Erde deutlich wurde, hier bietet sich ein Schauspiel und es geht nicht um einen wissenschaftlichen Bericht. Korthaus war zu sehen, wie er vor der Steinskulptur stand, die ihn überragte, den Blick zur Frau in Stein gewandt. Er sprach: "Wesen aus Sternengeburten und Sternentoden zusammengeschmiedet in den Augen zeitloser Sehnsucht. In den Spiegeln des Ichs und eines Nochnicht- ich eingesunken und verloren. Schönheit, Freiheit und raubendes Tier des Dschungels. Geglättete Extase, stufenlose Haut und Glut. Und Erkennen fremder Verschmelzung, Einssein im Vielsein, Geborgen im zerfließenden Strom scheinbarer Strecke der Zeit. Nur Funken und Eruption eines Schon- nicht- mehr, Nahen, Verzehrenden. Und doch hier, als Feuer einer anderen Form, die im orgiastischen Zerplatzen des Meinseins mehr wird, alles wird, - und aus dem Tal wieder hinauf will, immer wieder ins Licht."
Die Skulptur erwachte, die junge Frau trat in ihrer verzauberten Schönheit scheinbar aus dieser hinaus in den Sand des Mars. Wie Berg waren auch manche Zuschauer auf der Erde noch versunken in den steinernen Frauenkörper der Skulptur. Zuerst nahmen sie die Bewegung der jungen Schönheit wahr, als ob der Stein zu Leben erwacht wäre. Dann die warmen, lebenden
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Brüste, die seidigen Haare, das unverhüllte der Schenkel. Nun erst durchzuckt die Wahrnehmung der Nacktheit das begehrende Bewußtsein mancher Männer. Und in diesem Augenblick, sehr rasch, legt Korthaus das weiße Gewand um die Formen ihres Körpers. Erst jetzt tritt der Wandel völlig ins Bewußtsein und hinterläßt im Mann ein sich selbst entfremdetes Gefühl.
Die junge Frau setzte sich auf einen Stein, Korthaus schritt auf sie zu, gab ihr die Hand. Sie erhob sich, drehte sich im Kreis, stand still. Korthaus wich etwas zurück, wie geblendet von ihrem Anblick. Dann sprach er:
"Deine Augen tragen mühelos das niedersinkende Licht, bergen zartes Anschaun, senden sanfte Fingerkuppen auf die fiebrig aufgeblühte Haut, die Dich sucht und wartet auf die trinkenden Lippen und das Aufgehn Deiner großen Liebessonne - Göttin des Lichts."
Nach der Sendung des Films trat eine Funkstille ein, die Berg bewußt eingerichtet hatte, auf der Erde aber als technisches Problem gedeutet wurde. Es kam wenig später zum Gespräch zwischen den Dreien auf dem Mars. Berg sagte:" Es war grandios, überwältigend." Korthaus lächelte, die junge Frau lächelte ebenfalls sehr zufrieden. Korthaus fragte:" Wie geht es weiter ?" Berg erwiderte:" Wir lassen die Eindrücke des Films auf der Erde nachwirken. Die Techniker werden etwas verunsichert sein über den Mangel an wissenschaftlichen Daten, die Wissenschaftler warten, ob nicht endlich die vesprochenen Berichte gesendet werden. Aber die Menschen werden eine Sehnsucht erfahren, die nicht abschätzbare Folgen haben wird." Bernadette verstand es sofort, Korthaus meinte zweifelnd: "Wird man die Station weiter ausbauen und interessiert am Mars bleiben ?" Berg erwiderte:" Mehr als denkbar ist. Jede nur wissenschaftliche Sendung hätte uns nicht weiter geholfen. Wenn sie herausfinden, daß hier kein Wasser ist, wird die Raumfahrtbehörden der Mut verlassen, die Politiker werden zögern. Nun aber, nach dieser Sendung werden die Völker selbst zum Motor der Raumfahrt werden. Es sind die Sehnsucht und die Liebe, die das Große in der Welt hervorbringen. Es wird Umfragen geben..." "Von Dir bereits vorbereitete Unfragen ?", meinte Korthaus verschmitzt." "Oh ja, und die Politik wird von der Strömung in den Völkern mitgerissen werden. Sie werden jedes Geld ausgeben können, was zu bekommen ist und mehr." "Also ist die Kunst die Mutter der Wissenschaften ?", meinte Korthaus fragend. "Ja, die große Kunst ist es. Die Sehnsucht geht dem Wissenstrieb voran. Mit den Steinen und dem Sand hier ist gar nichts anzufangen. Aber diese Bühne, deren Magie nun auf der Erde einwirken wird, zieht sie in ihren Bann, so wie Euch und wie mich." "Was machen wir morgen ?", fragte Korthaus.
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Berg schlug vor:" Wir zeigen die Teile Deines Films, die heute nicht zu sehen waren, die Gespenstertherapie und den Tanz beim Picknick im Grünen." "Du meinst, sie sehen sich das auf der Erde an." "Meinst Du nicht", kam von Berg die Gegenfrage. "Warten Sie nicht auf wissenschaftliche Berichte ?", fragte Bernadette. "Ja, aber die sind der Sendestörung zum Opfer gefallen. Wir haben ja eine mehrstündige Störung." erwiderte Berg. "Aha, dafür die Abschaltung und diese sogenannte Störung" Berg erklärte:" Wenn wir auf dieser Höhe der Darastellungen Berichte von physikalischen Parametern auf dem Mars bringen, schlafen uns die Leute ein, dann war alles umsonst. Aber wir müssen die Techniker bei Laune halten. Ich habe etwas vorbereitet."
Am anderen Tag schalteten Berg und Korthaus den Sender wieder ein. Die Herren in Houston hörten die Stimme von Berg: "... Damit ist die Darstellung der Biokulturen in Iglu 3 beendet." Man glaubte auf der Erde, der voran gegangene Bericht sei der Funkstörung zum Opfer gefallen. Nun sah man einen weiteren Film mit den Szenen von Korthaus und Berg, die noch nicht gezeigt worden waren. Vor dem Hintergrund eines verfallenen Gebäudes tanzten zwei sehr alte Herren mit überzeugendem Schwung, hoben die Beine, wirbelten im Kreis, schlugen Rad, machten Spagat sogar. Vor den Bildschirmen auf der Erde vergaßen die Menschen, daß es alte Männer waren. die dort tanzten. Der Altersforscher der Nasa meinte, es sei die gesunde Marsumgebung. Möglicherweise würde sogar die Lebensuhr rückwärts laufen. Vielleicht war der ewige Jungbrunnen entdeckt. Die Verblüffung war überall auf der Erde groß. Was Berg beabsichtigt hatte trat ein, man war fasziniert und wollte mehr davon sehen. Die Wissenschaftler, die ihre Enttäuschung kaum verbergen konnten, weil die Berichte noch fehlten, wurden von den anderen, den Leitern, Managern, Politikern einfach mitgerissen. Sie waren plötzlich nicht mehr so wichtig. Das Volk der westlichen Welt wollte zum Mars, am Liebsten alle auf einmal - oder doch fast alle.
Noch während die nächsten Versorgungsraketen für den Mars in Cape Canaveral und Französisch Guyana startklar gemacht wurden, fand in Paris eine denkwürdige Begegnung statt. Die Staatsmänner der größten Staaten der Erde, die armen ausgenommen, waren zusammen getreten um ihr weiteres Vorgehen am Mars abzusprechen. Unglücklicherweise waren unter den Politikern der zweiten Riege einige Kunstbanausen und Miesepeter, die als graue Eminenzen beinahe mehr Einfluß hatten, als die Staatsoberhäupter selbst. Da es um Männer ohne Profil ging, die hinter den Kulissen wirkten, heißen sie nur A, B, C, usw. A sagte:" Es ist nicht mehr zu verantworten. Es gibt keine Ergebnise vom Mars. Es gibt das teuerste Amateurspieltheater das denkbar ist. Die Gelder werden für wichtigere Dinge gebraucht." B untersützte den A: " Unsere Interkontinental- raketen sind ein Sicherheitsrisiko geworden. Wir müssen sie modernisieren und die Atomsprengköpfe erneuern, es fehlt aber das Geld. Wo ist es ?, auf den Raumbahnhöfen in den
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sinnlosen Marsraketen." C fügte hinzu:" Unsere Bevölkerung wird unruhig, wir können unseren Militärbeitrag nicht mehr finanzieren, es muß Schluß sein mit dem Marsprojekt." Nun hatte der Französische Präsident einen schweren Stand. Der Hinweis auf die Zustimmung in der Bevölkerung für die Marsstation klang hilflos. Ähnlich erging es den anderen Staatsoberhäuptern. Die Deutschen sagte nichts, da sie ohnehin gespart hatten mit ihrem Engagement am Mars. Das Ende vom Lied war die Einberufung einer großen internationalen Sparkommission, die von genau denen geleitet werden sollte, die das Marsprojekt begraben wollten. Glücklicherweise war eine Dame aus Bergs Putzkolonne bei der Besprechung anwesend. So gelangten die neuen Nachrichten über Funk zum Mars. Berg war etwas still geworden, als er die Nachricht von der Konferenz in Sachen Mars las. Korthaus alledings schien diesmal weit weniger betroffen. Er sagte:"Darf ich dich erinnern:" Der Zweck heiligt die Mittel". Berg meinte:" Was hast Du vor ?" Korthaus machte: "psst" und schrieb die Antwort auf einen Zettel, denn er befürchtete, daß auch hier die Gespräche abgehört würden und dann den entspechenden Leuten auf der Erde zukommen könnten. Auf dem Zettel stand: "Es gibt Leben auf dem Mars." Berg stutzte, dann überlegte er und nickte mit dem Kopf, - Korthaus hatte freie Bahn.
Einige Stunden später ging Korthaus mit einem Spaten und einem Eimer voll Moosgeflecht, welches aus einem Anbauiglu stammte, hinaus in die freie Marslandschaft. Der Raumanzug machte seine Schritte schwerfällig. Berg und Bernadette standen hinter der durchsichtigen Hülle des großen Plastikiglus und sahen zu. Bernadette sagte:" Geht er jetzt.." Berg unterbrach sie: "Psst, schreiben !" Bernadette verstand. Sie schrieb auf einem Zettel:" Geht er jetzt das Moos vergraben ?" Berg nickte zustimmend. Dann schrieb er: "Das ist das Leben auf dem Mars, welches er in einigen Tagen finden wird." Korthaus vergrub nun das Moos im Sand. Dann kam er zurück. Berg lächelte, Bernadette lachte und Korthaus machte: "Psst !", wegen der Abhörgefahr.
Einige Tage später ging Korthaus wieder zu der Stelle hin, an der er das Moos vergraben hatte. Er grub es aus und nahm es mit in den großen Iglu. Dort gab es ein kleines Labor. Er legte das Moos in eine Schale und diese unter ein Mikroskop. Dann wurde die Erde angerufen. Von dort aus konnte das Labor bedient werden. In der Nähe von Houston war die Auswertungsstelle. Zwei Wissenschaftler analysierten das Moos. Der Eine sagte zum Anderen:" Warum legen sie Moos unter den Spektrographen ?" Der Andere erwiderte:" Es geht nicht um das Moos. Das ist nur als Nährboden verwendet worden. Gehen wir zum Elektronenmikroskop." Die Untersuchungen dauerten einige Tage. Plötzlich rief der Eine:" Hurra, wir haben sie, Viren vom Mars !" Der Andere kam herbei gelaufen und sah ebenfalls auf den Bildschirm. Was er sah, ließ ihn stutzen. Diese sogenannten Marsviren waren ihm bekannt. Er wollte sagen: Du irrst Dich. Aber schlagartig wurde ihm die schwierige Lage seines Labors bewußt. Die Kürzung der Kosten des Marsprojekts war überall zu hören. Er
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verschluckte seinen Satz und meinte:" Du hast es, zum Teufel Du hast es ! Aber wir sollten sicher gehen." "Wie meinst Du das ?", fragte der Andere. "Nun, wir färben Sie ein. Niemand glaubt an den Mars, wenn alles so aussieht wie auf der Erde." "Eine gute Idee." So kam es, daß Leben auf dem Mars entdeckt wurde.
Korthaus und Berg saßen wieder bei ihrem Nachmittagstee. Korthaus meinte:" Du bist sicher, daß wir nicht mehr abgehört werden ?" "Ja, ich war auch schon vorher sicher, aber dieses neue Gerät aus dem deutschen Labor hat es bestätigt. Wir können ungeniert reden." Korthaus sagte:" Wir können jetzt nicht mehr feststellen, ob es Leben auf dem Mars gegeben hat. Unser Eingriff hat alles durcheinander gebracht." "Ich denke nicht. Seit Spuren von Aminosäuren im Orion Nebel entdeckt wurden, ist mit Leben überall zu rechnen. Die Frage ist, ob das Leben überall den gleichen genetischen Code entwickelt. Es gibt eine Theorie von einem alten Engländer. Er meint, das Leben hätte sich zentral entwickelt und sei vor Jahrmilliarden bereits in einer Art Sporenverbreitung in alle Teile des Universums gelangt. Er meint, Superviren wären überall hingelangt und hätten dort das Leben entzündet." "Ist das wahrscheinlich ?", fragte Korthaus. Berg erwiderte: "Vielleicht nicht. Leben könnte auch an verschiedenen Stellen spontan entstehen. Leben ist nichts Besonderes, nur eine besondere Form des Toten." "Nietzsche ?!", meinte Korthaus. Berg erwiderte:" Ja, aber es ist auch unwichtig. Noch kaum jemand aus den Reihen der Wissenschaft hat bemerkt, daß es völlig egal ist wo Leben entstanden ist und wie es definiert wird. Die einzige interessante Frage ist doch die, ob der Einzelne in seiner Einzelheit der Endpunkt der Entwicklung ist oder ob es so etwas gibt, was die Inder Kosmisches Bewußtsein nennen." "Du und eine Gottheit ?", fragte Korthaus. "Das hat nichts mit Religion zu tun, wie ich es untersuche. Ein Bewußtsein über den Einzelnen hinaus wäre nicht ein "Höheres Wesen", sondern nur eine andere Form des Individuums. Es hätte auch nicht mehr Macht über etwas Anderes. Sieh mal die Einzeller im Vergleich zu den Vielzellern. Die Vielzeller sind keine höheren Wesen als die Einzeller, sie sind nur neuere Entwicklungen. Es ist das Unbegreifliche, welches hinter diesen Spekulationen steht. Wenn man sieht, wie jede Generation das Ererbte und das Aufgespeicherte sich aneignet und seinen Erzeugern ähnlich wird. Es könnte schon eine einfache Fortsetzung eines Bewußtseins sein, welches nicht wirklich beendet ist." "Eine Trostvorstellung !", meinte Korthaus. "Nur scheinbar", widersprach Berg und fuhr fort:" es ist ja das Persönliche, welches wir sind, das nicht zu retten ist. Das Überdauernde, das Allgemeine geht uns nicht wirklich etwas an. Jede Freude, jede Angst sind mit dem Persönlichen verknüpft, während das Allgemeine als eine Sammlung von Werkzeugen genutzt wird. Deshalb bedrückt es auch kaum jemanden, wenn ihm vom Allgemeinen etwas fehlt. Der geschichtslose Mensch ist so eine Art Mensch-tier, aber es bedrückt ihn nicht, obwohl er oft am Mangel seines Wissens zugrunde geht."
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"Welchen Sinn hat denn diese Spekulation, wenn es kein Leben nach dem Tod gibt ?", fragte Korthaus. "Es ist in allen Spekulationen dasselbe, ein Teil der Menschheit hofft auf Beweise für ein Überleben des eigenen Todes, ein anderer Teil will die Gespenster aus dem Leben vertreiben", antwortete Berg: "Sie verfolgen alle das gleiche Ziel: ohne Angst zu leben." "Wir beißen uns die Zähne aus, mit den Gedanken an das Ende des Lebens. Aber an das, was vor dem Leben war, denkt man kaum oder wenn nur so nebenbei", meinte Korthaus. "Das ist das Merkwürdige, obwohl es verwandt ist, das Vor und das Nach dem Leben, beschäftigt sich der Mensch nur mit dem Danach. Vielleicht ist es ein Lebenstrieb so zu denken." "Wie meinst Du das ?", fragte Korthaus. Berg erwiderte." Man will um jeden Preis leben für immer. Die Frage des Todes verlöre viel von ihrem Schrecken, wenn man an die Zeit vor der Geburt denkt, da war nichts Erschreckendes. Der Schreck ist immer ein Sich-selbst- erschrecken. Man stellt sich irgendwie noch lebend vor, wenn man an das Todsein denkt. Man kann nur irgendwie lebend an das Todesein denken. Denn ein Todsein gibt es nicht. Man ist ein Nicht-sein im Todsein, wie sollte man so etwas denken können. Der Gedanke müßte einfach erlöschen, wenn man an das Todsein denkt. Genau dies passiert nicht. Man stellt sich vor, man ist als Toter so etwas wie ein Schwerstkranker, man sieht, hört und kann nichts tun. Das ist Unsinn, aber es funktioniert so. Der Schrecken wird durch eine Halluzination erzeugt." Korthaus sagte nun:" Mir kam vor einiger Zeit eine Idee, Es wäre doch denkbar, daß das Todesbewußtsein die verfeinerte Form des tierischen Überlebenstriebes ist." "Wie meinst Du das ?", fragte Berg. Korthaus erläuterte:" Tiere, die nicht restlos fanatisch für ihr Überleben kämpfen werden durch die Evolution aussortiert, sie verschwinden einfach, das heißt, sie sind schon verschwunden. Der Mensch kann mit seinem Denken das Nichtsein des Todseins, das Illusionäre der Angst durchschauen. Er könnte also prinzipiell völlig furchtfrei werden. Am Ende würde er seinen Überlebenstrieb schwächen und zugrunde gehem." Berg meinte:" Das ist mir auch einmal so in den Kopf gekommen. Vielleicht gibt es deshalb keine Menschen, die mit ihrem Denken konsequent wider ihre Instinkte leben können." "Sie wären längst ausgestorben", meinte Korthaus. "Aber", fügte er hinzu:" es wäre auch eine neuartige Form des Bewußtseins denkbar. Ein Mensch, der in jungen Jahren furchtsam ist und sich vermehrt, könnte im Alter furchtfrei werden und die Dinge durchschauen ohne seine Linie zu gefährden." "Vielleicht", meinte Berg:"aber es könnte auch sein, daß der ältere Mensch dann dem jüngeren viel zu früh die Furcht nimmt. Vielleicht wird er dann sehr früh zu leicht gegenüber dem Tod." Korthaus wiegte seinen Kopf etwas, und meinte: "Auch das ist möglich."
Bernadette hatte das Gespräch ungewollt mitgehört. Eine für Notfälle installierte Mikrofonanlage war angesprungen und hatte es in alle Iglus übertragen. Kurzentschlossen ging
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sie zu den Beiden. Verwundert sahen die Herren sie kommen. Sie sagte:" Es tut mir leid, ich war Ohrenzeuge. Die Mikrofonanlage ist angesprungen." Korthaus lachte und meinte zu Berg:" Nun haben wir sogleich eine Testmöglichkeit ob das reife Bewußtsein die Jugend gefährdet." Bernadette sagte leicht amüsiert:" Ich denke, nur der Ältere ist gefährdet bei seinen Gespensterkämpfen. Wenn man jung ist, denkt man nicht oft über diese Dinge nach, und wenn, so werden sie bei der ersten Regung der Begierde weggefegt." Berg meinte:" Sie hat Recht, wir haben das Wichtigste vergessen: die Triebe. Man braucht keine Furcht zum Überleben, jedenfalls nicht so viel wie wir vorausgesetzt haben." Korthaus meinte nun:" Mir war es auch so, als hätten wir etwas CD Wichtiges vergessen, bei unserem Gespräch."
Bernadette hatte gelächelt bei diesem Satz. Nun wurde sie ernst und sagte:" Es ist furchtbar hier. Es gibt kein Publikum, keine jungen Männer, keine jungen Frauen, keine Kinder, keine Disko, kein Club, nur Sand und drei Menschen allein." Berg meinte:" Wenn ich es richtig sehe, Du hast recht. Wir müssen den Zustand schnellstens ändern." "Was heißt schnellstens ?", fragte Bernadette etwas gereizt. Berg erwiderte:" In einigen Tagen kommen die ersten Raketen mit neuen Leuten an. Sie bringen Iglus mit und viel Gerät. Auch Stereoanlagen, dicke Boxen usw." "Was für Leute ?", fragte Bernadette mißtrauisch, als wollte sie sagen: Techniker, trockene Programmierer, ebenso trockene Biologen. Korthaus schaltete sich ein: " Das können wir genau feststellen, komm mit.-" Er führte Bernadette zu einem Terminal und schaltete ihn ein. Er suchte den Katalog heraus, in dem die neuen Mannschaften, die zum Mars kommen würden, aufgeführt und abgebildet waren. Dann kamen die Fotos. Es waren Künstler, Freaks und andere Ausgeflippte dabei. Benadette war entzückt. Sie fragte: "Wie ist das möglich ?", alles interessante Leute. Diese Mannschaften und Piloten, bestes Material." "Das hat die...", wollte Berg sagen, und Korthaus sagte gleichzeitig:" Die Putzkolonne gemacht." Bernadette lachte, ging zu Berg umarmte ihn stürmisch, gab ihm einen Wangenkuß und sagte:" Toll, ganz toll." Berg lächelte und meinte:" Man muß ja etwas lernen. Wozu wird man sonst über hundert Jahre alt." "So alt ?" fragte Bernadette. "Nun ja".., meinte Berg und freute sich, daß sie nicht auf die Idee gekommen war, er ginge schon an die hundert Jahre. Denn er war ja schon fast zweimal hundert Jahre alt, was er für sich behielt.
Korthaus ging zu Berg zurück während Bernadette noch einmal zum Terminal ging und weitere Bilder ansah. Korthaus fragte Berg: "Was wird denn aus dem Turm, wenn hier das bunte Leben beginnt ?" "Es könnte so wie auf Elba werden. Dort waren viele Leute auf engem Raum, aber ich lebte manche Stunden zurückgezogen. Der Turm ist ein Lebensstil." " Also nicht nach dem Jupitermond Europa entfliehen ?", fragte Korthaus. Berg lachte und sprach:" Wer hat denn hier den Tanz und die Expression hineingebracht ?"
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"Also willst Du in die Diskothek !", stellte Korthaus fest. " Du doch auch. So ganz allein wollte ich nicht in den Weltraum fahren. Irgendwie macht die Musik jung", erwiderte Berg. Korthaus meinte:"Kommen Dir alte Leidenschaften zurück ?" Berg spielte den Ahnungslosen, konnte ein Grinsen aber nur knapp unterdrücken und sagte:" Wie meinst Du das ?" "Ein Tonbandgerät kannst Du überall hin mitnehmen. Nur für die Musik brauchen wir keine Disko", sagte Korthaus. Berg winkte Korthaus an sein Ohr heran und sagte:" Weiber, viele scharfe Weiber." Korthaus drehte sich erschrocken um ob nicht Bernadette etwas gehört hatte. Dann sagte er ebenfalls leise:" Wenn Du so redest, geht es bald wieder in Richtung Osten." "Symbolisch gesehen ja. Aber im Weltraum ist Osten überall", antwortete Berg. "Was hast Du vor ?" Berg ging ganz dicht an Korthaus Ohr und machte: "Psst, wird nicht verraten." "Was wird nicht verraten ?", fragte Bernadette, die wieder zu den Beiden gegangen war ohne daß diese es bemerkt hatten. Berg fing sich sofort und antwortete: "Bin ich schon ein Fall für die Pension ?" Bernadette lachte und sprach: "Eure ewigen Sorgen um die ewige Jugend. Ich meine, Einer geht von den Windeln anschließend direkt in die Rente, ein Anderer nie." Korthaus sagte:" So ist sie, immer liebenswürdig."
Der letzte Tag auf dem Mars hatte begonnen, an dem die Drei allein unter sich waren. Vier Raumschiffe von der Erde waren in die Marsumlaufbahn eingeschwenkt und bereiteten ihre Landemodule vor. In einem der Raumschiffe war Elonga, ein junger Pilot aus Afrika, der zur internationalen Mannschaft gehörte, die nun die Marskolonie erweitern sollte. Bernadette hatte in den letzten Wochen über Bildtelefon mit ihm Kontakt aufgenommen. Sie war ebenso von ihm begeistert, wie er von ihr. Korthaus war von gemischten Gefühlen gerüttelt. Ihm war klar, daß seine Romanze mit Bernadette ihrem Ende entgegen ging. Selbst wenn sie später noch mit ihm zusammen sein würde, hätte dies eine andere Bedeutung. Berg und Korthaus saßen in dem ersten kleinen Iglu zusamnen und tranken Tee. Obwohl Berg keinerelei Fragen gestellt hatte, begann Korthaus: "Abschied ist immer wieder schwer. Als wir in den Turm gingen, hatte ich geglaubt, diese Art des Abschiedes nicht mehr erleben zu müssen und erleben zu können. Diese Melancholie habe ich seit 1920 nicht mehr gespürt." Berg erwiderte:" Ohne diesen Abschied wäre aber alles was vorher war, nicht gewesen." "Ja, - es ist auch nicht so, daß ich eine anderer Entwicklung unseres Lebens wünschen würde. Früher wollte ich immer etwas Besseres, wenn der Abschied nahte. Heute ist der Abschied das Bessere." Berg sagte:" Wir haben aber noch einige Tage Zeit für den neuen Anfang." " Berg !, wir müssen uns an das Sie gewöhnen, wenn der Turm verlassen wird." Berg antwortete: " In diesem besonderen Fall hat der Turm uns verlassen. Morgen steht, synmbolisch gesagt hier kein Stein mehr auf dem Anderen."
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Korthaus blickte in die Ferne. Mit einem ganz anderen neuen Ausdruck in seinen Augen sagte er: "Wenn es wieder losgeht, Mon General, ich bin dabei."
Die folgenden Tage waren von einer unerhörten Emsigkeit geprägt. Korthaus und Berg mußten 14 Stunden täglich bei der Organisation des Ausbaus der Station mitarbeiten. Da sie die einzigen waren, die alles Bisherige auf dem Mars übersehen konnten, war es ihnen nicht möglich, sich so einfach aus dem Staub zu machen. Der Leiter der Raumschiffflotte hatte jeden vorzeitigen Start einer Rakete untersagt und sogar eine Bewachungsmannschaft für die beiden Herren abgestellt. Sie waren einfach unentbehrlich. Der Aufbruch in einen neuen Turm, wie sie es sich vorgestellt hatten, war vorerst unmöglich gemacht. Aber in Gestalt von Bernadette gab es ein weiteres unkalkulierbares Hemmnis. Sie sprach an einem der Abende mit Berg:" Was ist ist in ihn gefahren Berg ?" "In Korthaus ?". "In eben den !" "Er nimmt Abschied." "Aha, er nimmt Abschied. Das wird ihm nicht gelingen", sagte sie. "Warum nicht ?" "Weil ich ihn brauche", erwiderte Bernadette. "Was sagt ihr neuer Freund dazu ?" "Hören Sie mir gut zu Berg. Ich habe von der ausschließlichen Zweisamkeit vor einigen Jahren Abschied genommen. Wenn Korthaus meint, er müsse jetzt dem neuen Mann ausweichen und mich vergessen, so werde ich das nicht einfach mitmachen." "Was wollen Sie tun", fragte Berg. "Ich gehe zu ihm und sage ihm, was ich will." Am Ende des Gesprächs ging sie in den Iglu, in dem Korthaus sich aufhielt. Da die beiden Iglus, der von Berg und von Korthaus unter einem neuen großen Iglu eingerichtet waren, hattem sie eine gemeinsame Lufthülle, die der Übetragung von Schallwellen hilfreich ist. Berg hörte, wie sie bei Korthaus anlangte und schimpfte wie ein Rohrspatz. Korthaus war kaum zu hören. Berg dachte, da hat er nun auf dem Mars eine ähnliche Situation wie auf der Erde mit seiner Ehefrau. Das Ende vom Lied war, daß Korthaus gehorchte. Ob er wollte oder nicht, sie ließ ihn nicht los. Der junge Mann, mit dem sie nun häufig zusammen war, hatte die Beziehung von Korthaus und Bernadette bereits akzeptiert, zumal er wußte, wer sie war, und was sie war.
In jenen Tagen gab es ein großes Fest im Diskoiglu. Berg und Korthaus tanzten ebenso wie Bernadette und ihr Elonga. Spät im Morgengrauen, soweit man auf dem Mars davon sprechen kann, gingen Korthaus und Berg noch einmal in Bergs Iglu. Berg sagte:" Nun ist es Zeit Abschied zu nehmen." "Wieso ?", fragte Korthaus. Berg erwiderte:" Sie müssen zu ihrer Frau zurück, Bernadette und Elonga wollen auch zur Erde. Ich habe hier noch zu tun. Sie sind kein Mann des Turms, dafür sind Sie noch zu jung." Korthaus meinte:" Sie wollen allein weiter machen ?" "Ich werde Sie gewiß wieder brauchen. Es wird nicht sehr lange dauern, bis es soweit ist." "Verraten Sie mir, was sie tun ?"
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" Was ich mache, weiß ich noch nicht genau, aber wie ich es mache. Auf dem Südpol des Mars wird eine Pumpstation für das Wasser der Polkappe eingerichtet. Ich werde dort eine Weile allein sein und gewissermaßen in den Turm zurückgehen. Es ist so vorgesehen, daß der Betrieb der Station nur eine Aufsichtsperson benötigen wird. Die vorgesehene Mannschaft wird etwas abseits untergebracht sein und mich in Ruhe lassen." "Wie haben Sie das hingekriegt ?" "Die Putzkolonne..." Korthaus sagte lachend fast gleichzeitig:" Die Putzkolonne hat es vorbereitet." "So ist es, - adio mein Freund."
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