Fred Keil Nr.204 1996
Die Erlebnisse des jungen Peter Korte in Frankreich
Es war ein kleines, einstöckiges Haus. Unter dem Dach waren Mansardenzimmerchen eingerichtet worden. Dort wohnte der neunzehnjährige Peter K., ein schlanker, flinker und wacher Junge, der den Urlaub seiner Eltern genutzt hatte um von zu Hause auszuziehen in ein eigenes Zimmer. Das Haus stand an einem schmalen Weg, der sich auf einer Länge von 600 Metern erstreckte und eine Straße mit einer anderen verband. Zur einen Seite des Weges standen vereinzelt Häuser, wuchsen Büsche und einige Bäume. Die andere Seite des Weges führte ein Stück weit an Bahngleisen entlang. Der Ort selbst war klein, kein Dorf mehr aber keine Stadt, sondern ein Stadtteil, der irgendwann einmal von der Verwaltung den zwei Kleinstadten im Tal der Wupper zuge- ordnet worden war. Der junge Mann arbeitete in einer Metallfabrik in jenem kleinen Ort. Er hatte fast schwarze Haare, braune Augen und feingliedrige Hände. Er scherzte gerne und neigte manchmal zu frechen Witzen, die ihm aber keiner krumm nahm. Die Mehrzahl der Leute in seiner Umgebung mochten ihn gern. Er wußte das und war deshalb wohl auch manchmal recht keck. Er arbeitete gern und erfand oft etwas ausgefallen Technisches, neigte aber auch zum Tagträumen und Nachdenken. Letzteres befremdete den einen oder anderen ohne jedoch eine nachteilige Konsequenz für ihn zur Folge zu haben. Wenige wußten, daß in ihm eine Umorientierung sich abspielte, die ihn vom handwerklich Praktischen, in dem er sein bisheriges Dasein gelebt hatte, zu geistigen Gefilden brachte, in welchen die großen und letzten Fragen sich aufwarfen, die die Menschen zuweilen beschäftigen. Er war nicht bestrebt, diese Wandlung Jedermann sichtbar zu machen. Er wußte, daß Manchen dergleichen befremden würde. Auch mochte er nach wie vor seine geliebten Materialien: Holz, Eisen, Leder, Stahl Leinwand, Farbe und Papier.
Es war Nacht geworden über dem Häuschen. Peter saß auf seinem Stuhl, setzte den Kopfhörer auf und hörte Beethoven, Symphonie Nr.3, jene, die Napoleon gewidmet war. Das wußte er nicht,- stand an der geöffneten Dachluke und sah zu dem verhangenen Nachthimmel hinauf. Er wurde ganz leicht und schwingend, und zwischendurch ein Schock, klein wie ein Schreck. Da wollte er als Vogel in die Nacht hinaus oder in ein Mädchenhaar hinein sich verweben, dunkles langes Haar, duftend nach Frau. Aber dann wieder nur dieses Dickicht großer Gerüste aus Stahl, der Stahl vergangener Jahrhunderte, der Aufbruch, den er hörte und nicht begriff; den er fühlte als Aufbruch, der sein Ausbruch ist. Noch war es nicht soweit.
Er war an einem Novemberabend aus dem Fabriktor hinausgegangen, die kleine Nebenstraße hinab, über den Spielplatz. Es war dämmerig geworden als er in seinem Zimmer unter dem Dachstuhl ankam. Dort hatte er eine kleine Elektroplatte, auf der er sich Spiegeleier briet, dazu einige Möhren kaute und Kaffee trank. Der Ölofen zündete nach einigen Versuchen endlich, er räumte sein Geschirr zusammen, machte den winzigen rechteckigen Tisch vor dem alten Schlafsofa frei, setzte sich in den leichten Korb- sessel und döste vor sich hin. So verging eine halbe Stunde, dann eine weitere. Schließlich klingelte es. Peter hastete die Treppe hinunter und fand an der Haustür seinen Freund Robert. Der war ebenfalls Arbeiter in einer Fabrik, drei Jahre älter als Peter, ein kluger aber wirr denkender junger Mann, der klein gewachsen war, schon jetzt die Bildung einer Glatze zeigte, zur See gefahren war als Küchenjunge und nie davon lassen konnte zu trinken, so lange das verdiente Geld dazu reichte. Peter hatte eine Flasche Wisky in seiner Kommode neben dem Tisch. Er hatte keinen Kühlschrank, in jenen Jahren bei den ganz kleinen Leuten nichts ungewöhnliches. Sie rauchten, tranken, erzählten dies und das. Peters Gedanken schweiften ab, denn die Geschichten von der Arbeit, Roberts Mutter, Roberts Freundin, seiner Bastelei mit Radioröhren waren nicht aufregend genug, Peters leicht beschwipste Aufmerksamkeit dabei zu behalten. Gegen 23.OO Uhr verließ Robert das Zimmer und ging nach Hause. Peter saß halb müde, halb benommen in dem Korbsessel und suchte nach einem Gedanken, den er irgendwann im Laufe des Abends verloren hatte. Unterdessen war es draußen sternenklar geworden. Er stellte das kleine Dachfenster auf und sah hinauf, sah einige Sterne und am Horizont die wuscheligen Bergkuppen der anderen Talseite. Darüber aber der schwarze Nachthimmel mit seinen Sternenbildern und dem großen Wagen. Sah und ging hinaus in ein Feld aus dunklem Stoff, das ihn mitzog an den Rand eines glitzernden Horizontes: Paris, seine Welt zwischen Erwachen und Bildsein, Gemäldewerden, statisch sich aufzulösen in den Raum der Sterne. Wohl fror er unter den Gerüsten der obenlaufenden Strecken der Metro und lief durch die Tempel vergangener Wunsch- träume und Enttäuschungen,- kaum war es denkbar, daß diese Stadt nicht enttäuschte und doch Magnet blieb,- auch als der Morgen graute auf der Treppe der Sacre Ceur. Nun, er war allein, nach einer Irrfahrt in allerlei freundlich bereit gestellten Autos, war er allein. Er sah hier und da von fern ein Gesicht, welches bald zur Frau werden würde, nun aber, aus der Distanz nur ein Wunschbild war, welches die Sehnsucht scheinbar aufsog und hundertfach zurückwarf in die weiten, wärmenden Augen.
An diesem Tag, einem Bruchstück alter Erinnerung, war er vierzehn Jahre alt geworden und mit einem lockenköpfigen Mädchen in den Wald gegangen, hatte ihre Hand gehalten und die seltsame Veränder- ung des Frühjahrs bemerkt, welches den aus sich strahlenden und unerfüllten jungen Seelen sich wandelnd offenlegt. Einige Worte, unbeholfen und kaum die langsam erwachenden männlichen Wünsche enthüllend, war er sich selbst doch Kind und Weiser, aber noch lange kein Mann. Sie blickte ihn ernst und wissend an, fasziniert von diesem Wachstum, aber sie war reifer und weiter, halb schon Frau, gehörte in die halb oder zu einem Viertel weiter fortge- schrittene Generation.
Es gab auf dem Pflaster der Großstadt nicht jene sanften Gestalten, die noch genug Mädchen, schon genug Frau gewesen wären für diesen träumenden Jungen, der beides nicht war: Kind oder Mann. Aber der Obelisk am Place de la Concorde und die alten Treppen nahmen ihn auf als einer der Ihren: träumend und zeitlos, dazu bestimmt ein Denkmal zu sein, einer suchenden Jugend. Dann würde er weiterschreiten, alles vergessen, sich umsehen und andere Orte finden und... und dieses Land vergessen.
Ein uraltes Holzhaus, zugleich Hotel, mit eisernen Balkonen und Dachgittern, einem spitzen Giebel an einer Seite und einer hölzernen Veranda- im Morgennebel, irgendwo am Ortseingang eines kleinen Nestes in Mittelfrankreich. Am Abend war er hierherge- kommen, aus einem Auto ausgestiegen, das ihn mitgenommen hatte. Im Entree hatte eine freundliche alte Dame mit munteren Augen ihn aufgenommen und eines der schönsten Zimmer ihm gegeben. Sie erzählte und gestikulierte, da sie sah, daß er ihre Sprache nicht verstand. Er verstand sie trotzdem und sie zeigte dies und das: den Kamin, die alten Bilder. Er sah alte Bilder, die Blumen- tapeten, Spitzendeckchen, überall uralte Möbel und Tischchen. Es schien, als wäre er seit Jahren der erste und einzige Gast gewesen. Die Fensterflügel, bis zum Boden reichend, verbargen die Nacht. Am Morgen als die ersten Vögel zu hören waren, öffnete er diese Flügel und sah hinaus auf Felder und Baumreihen, eine Ebene mit leicht welligen Erhebungen, voller Dunst und Tau. Die alte Dame kam herauf und brachte ihm Croissons, Weisbrot, Butter, Marmelade und Milchkaffee. Eine Stunde später verabschiedete er sich von der netten alten Dame, die ihn an seine Großmutter erinnert hatte, deren Vorfahren einmal aus Frankreich nach Deutschland gezogen waren.
Ein frischer Morgen in Paris. Peter fror etwas, ging mit müden steifen Beinen zum Eiffelturm, stieg in den Aufzug und fuhr zur großen Plattform hinauf. Von dort aus ging er in den kleinen Aufzug und fuhr damit hinauf zur letzten Plattform unter der Spitze des Turms. Er bestellte sich einen Pernod, rauchte eine schwarze Zigarette und sah hinaus. Weit am Horizont, leicht dunstig standen die Vorstadthäuser, die Blöcke und Wolkenkratzer. Der Horizont erschien gekrümmt. Der Himmel wurde langsam mittäglich hell. Im Vordergrund die Dächer der alten Stadt Paris, die Seine, die Brücken, der Bogen Napoleons. Unten auf der Ile de Cite wohnte ein alter weiser Mann, den sein Unglück mitfühlend gemacht hatte. Er war in Berlin gewesen und hatte dort vor vielen Jahren Philosophie studiert. Peter fühlte merkwürdige Regungen, wenn er an ihn dachte. Er wollte ihm etwas mitteilen und zeigen,- vielleicht sogar diese Stadt, die nicht Peters Stadt war. Und dennoch, - es schien ihm, als wäre dieser alte Mann ein Fremder in seiner Stadt, obwohl er und nicht Peter in den Cafes am Saint Germain des pres gesessen hatte und zur Figur der Weltliteratur geworden war, - der aber vielleicht auch in aller Welt einsam stand und groß. Peter fühlte sich sanft wie die Sonne und fein wie das Glas des Himmels, voller Glück oder einem dem Ähnlichen Unbekannten. Er wollte dem alten Mann die Welt zeigen, seine Welt, von der er glaubte, sie sei eine Sonnenwelt, die ein Licht verbreiten müßte;- so hitzig wohl konnte seine innere Welt sein. Wenn aber einer allein mit sich war, so Peter und nicht der alte Mann inmitten seiner Freunde, Studenten und seines Ruhmes,- jeder fast kannte ihn. Starke Empfindungen färben aber eine innere Welt ganz, aus Schatten wird Licht, so hell, daß jedes andere Wesen erscheint wie ein Schattenriß. Er spürte das irgendwie, zog an der starken Zigarette, ließ seine Sinne schwammig werden vom Alkohol und sah glasklar sich sitzen auf dem hohen Turm, sich als das Auge, welches alles sah.
Am Nachmittag schlenderte er die Champs Elysee hinauf, kam zu den Bistros kurz vor dem Bogen, als sich ein Arm in seinen rechten einhakte und wie selbstverständlich mit ihm weiterging. Es war der Arm eines Mädchens in seinem Alter. Sie war etwas kleiner als er, schlank, weich, mit langen krausen, fast schwarzen Haaren und dunkelbraunen Augen. Peter erschrak ein wenig, ließ aber alles wie es lief und lächelte sie an. Sie lächelte zurück ging mit ihm und zeigte einige Augenblicke später mit ihrem rechten Arm zu einer Sitzgruppe hin, bei der sie angelangt waren. Sie setzen sich und bestellten Expressos. Sie frug ihn einiges, aber er vestand fast nichts. Nachdem er ihr wenigstens sein Nichtverstehen hatte übermitteln können, zuckte sie mit den Schultern, zeigte zum hellblauen Himmel hinauf, als ob sie sagen wollte: was solls, es ist herrliches Wetter, das reicht erst einmal. Peter überlegte, wie er sich verständigen könnte, und kam auf den Einfall, sein Schreibheft zu benutzen um ihr Zeichnungen zu machen, mit denen er sich mitteilen wollte. Das gelang recht gut. Sie ließ sich das Heft geben und zeichnete ebenfalls mit. So ging es hin und her. Sie rückte näher, schließlich sagte sie, sie müsse gehen, gab Peter einen Wangenkuß und verschwand leicht und anzusehen wie ein flatternder Falter zwischen den Bäumen am Alleenrand. Peter sah ihr nach, etwas enttäuscht, mit dem Gefühl, nicht nur von ihr sondern überhaupt verlassen zu sein. Zum ersten Mal fühlte er sich in dieser Stadt allein. Bisher war er angefüllt gewesen mit sich selbst, nun war etwas in ihm leer geworden, er hatte etwas verloren, von dem er nichts wußte, als das es eine Leere hinterließ. Sie war aber so leicht und unbeschwert gegangen, als ob sie ihn sowieso nicht aus den Augen verlieren könnte,- so kam es ihm vor. Er würde sie bald wiedersehen können, dachte und hoffte er für sich.
Am Abend, als die Dämmerung einsetzte, fuhr Peter mit der Metro zum westlichen Stadtrand von Paris, wo er in einer Jugendher- berge übernachtete. Früh am anderen Morgen fuhr er ins Stadt- zentrum zurück. Es war noch etwas neblig, die Sonne brach allmählich warm durch den Dunst hindurch. Es roch nach kleinen Bäckereien, Markt, Blumen und Auspuffgasen, eben nach Paris, als er in den Jardin du Luxemburg ging und ohne Ziel dahin- schlenderte. Zwischen den alten Steinfiguren, den schlanken adeligen Damen der Vergangenheit, sah er vor sich, etwa ein- hundert Meter weit voraus eine schlanke Mädchengestalt. Er lief ihr nach, da er glaubte Michele vor sich zu haben, jenes Mädchen vom Vortag, mit der er am Chanps Elysee gesessen hatte. Als er näher kam, schien sie weiter von ihm fortgelaufen zu sein, sie schien einen flatternden Lauf zu haben,- sie war ein Falter. Er hatte einen großen dunklen Falter gesehen und ihn für das Mädchen gehalten. Er mußte über sich lächeln, steuerte auf eine Bank zu, und mit leicht hastig gewordener Atmung setzte er sich hin. - Plötzlich hörte er Trommeln und Marschmusik. Er sah sich um. Aus der Richtung des Palais kamen Soldaten marschiert. Sie trugen alte klassisch römische Uniformen, es waren die Soldaten der Revolution. Sie maschierten einige Dutzend Meter vor ihm über einen anderen Weg an ihm vorbei. Dann inmitten der Truppen ein Reiter mit Dreispitz. Napoleon ritt in Begleitung seiner Gardetruppen durch den Jardin du Luxemburg.
Am Abend lief Peter durch die Gassen des Quatier Latin hinauf bis zu dem alten Viertel am Ende der Rue Mouffetard. Je später es wurde, umso weniger Menschen traf er in den schmalen Gassen, die nur teilweise und auch nur schwach beleuchtet waren. Aus einer Nische eines Hause schritt eine Gestalt heraus, gerade in dem Moment als er an ihr vorbei war. Er hatte das Gefühl, diese Gestalt wolle sich auf ihn stürzen. Er erschrak sehr, wurde bleich und kalt und lief davon. Die Gestalt rief etwas, viel- leicht galt es ihm. Er rannte so schnell er konnte den Berg hinab zum Boulevard St.Michel, wo mehr Licht war und noch einige Autos fuhren. Hier fühlte er sich sicherer. Aber er war nun ziellos geworden. Er ging zur Seine und dort an der Mauer des oberen Kais entlang bis zum Place de la Concorde. Auch hier fuhren noch einige Autos. Er sah auf den Obelisken und setzte sich auf eine der Steinbrüstungen, die den Platz teilweise umrahmen. Er wurde ruhiger. Plötzlich hörte er Stimmen hinter der Steinballustrade. Er sah zwei Gestalten, die miteinander sprachen. Seltsamerweise verstand er, was sie sagten. Die eine Gestalt trug einen Mantel und offenbar eine langhaarige Zopffigur. Aber es war eine gebeugte alte Gestalt, eine Männerfigur, die nun zu der anderen sprach:" Gewiß Mon General, Sie werden auch in Dresden alles vorfinden, wie es bestellt wurde. Aber was wird nach Polen, wenn der Arm ihrer Fürsten die Truppen nicht mehr zusammenhält?" "Oh, Sie alter Mann, wir werden sie raisonnieren; und wenn nur die Hälfte bis Wilna zusammenbleiben, so soll das genügen um "ihm" seine Armee zu nehmen. Wir werden im nächsten Frühjahr in Petersburg und Moskau sein !"
Peter stand starr vor Staunen. Er sah nach hinten auf den Platz und fand ihn verändert vor. Hinter der Ballustrade sprach ein alter Würdenträger oder Vertrauter mit Napoleon über den bevorstehenden Feldzug gegen Rußland. "Sonderbare Stadt", dachte Peter:" die mich so in eine Vision der Vergangenheit entrücken lassen kann",-- und seine Furcht war vollkommen verschwunden. Er stand und horchte ins Dunkel, aber nun sah und hörte er nichts mehr. Er wartete, Minute um Minute, er wartete immer weiter, bis die erste Dämmerung sich ankündigte und vereinzelte Autos wieder über den Platz fuhren. Müde, mit bleiernen Schritten und steifen Gliedern ging er zur Metro und fuhr hinaus vor die Stadt.
Die Vormittagssonne schien warm, aber noch frisch vom Frühling auf die Nationalstraße südlich von Orleans. Peter stand an ein steinernes Ortsschild gelehnt und sah über die Wiesen und Felder hinaus zu den Baumreihen, die überall größere Feldstücke unter- teilten. Aber es waren niedrigere Bäume als im Norden, so erschien es ihm. Ab und zu streckte er die Hand heraus um von einem Auto mitgenommen zu werden. Nach einer Weile hielt eine hellgraue Ente. Eine schöne blonde Frau hielt ihm die Beifahrer- tür auf und lud ihn ein mitzufahren. Peter bedankte sich und sah die Frau, die etwa dreißig Jahre alt war verwundert an. Sie hatte ein feines, sehr intellektuelles Gesicht und eine volle Frauen- figur, soweit das im Wagen sichtbar wurde. Sie spürte Peters Blick und lächelte. Um ihn von einer möglicherweise aufkommenden Verlegenheit fernzuhalten begann sie:" Wohin möchten Sie fahren, junger Mann ?" Peter antwortete:" Zum Süden, ich möchte zur Mittelmeerküste." "So weit fahre ich nicht, aber Sie können doch einhundertzwanzig Kilometer näher an ihr Ziel herankommen. Wollen Sie schnell zum Meer gelangen ?" "Ich habe es nicht eilig", antwortete Peter und fuhr fort:" wenn ich in drei oder vier Tagen dort bin, wäre das schon gut, aber es macht auch nichts, wenn es länger dauert." Unterdessen kamen sie zu einer kleinen Ortschaft. Sie fuhren hindurch. Die Fahrerin frug nun:" Wenn Sie Zeit haben, so möchte ich Ihnen meinen Onkel vorstellen, er wohnt nicht weit von hier. Wir könnten bei ihm essen und am Nachmittag weiter fahren." Erfreut sagte Peter:" Sehr gern, ich lerne gerne die Leute kennen, die im Lande leben. Eigentlich ist der Grund meiner Reise, das Land und die Leute kennenzulernen."
Zum Landhaus führte eine kleine Allee von Obstbäumen. Vor dem Haus wuchsen Blumen und Ranken. Die Ente holperte den Weg zu dem Haus hin, sie stiegen aus. Sogleich kam ein etwa fünfundfünfzig- jähriger Franzose aus dem Eingang des Hauses, ging auf die Ente zu und begrüßte die Beiden. Sie gingen ins Haus hinein. Peter wurde gebeten an einem großen, schweren Tisch Platz zu nehmen, der im ersten großen Raum stand, der gleich hinter der Tür lag. Er war Diele und Speisesaal in einem. Die Frau des Onkels, eine pummelige kleine Französin brachte Schalen mit Obst, Brot und Wurst. Dazu gab es Mineralwasser, Milchcafe und Weißwein. Später kamen Salate und Käse hinzu. Während des Essens begann der Onkel ein Gespräch. Er frug Peter nach seiner Heimatstadt, was er vorhabe, wo er hin wolle. Peter beantwortete alles und erzählte dann von seiner merkwürdigen Begegnung mit Napoleon im nächt- lichen Paris. Der Onkel wunderte sich nicht sehr. Er sprach: "Wir denken oft, daß Napoleon noch lebt. Sehen Sie, überall in Europa hat sich die Revolution durchgesetzt. Auch Preußen,- aber Sie sind kein Preuße sondern Rheinländer ?!" Peter bejahte. Der Onkel fuhr fort: "Nachdem auch Napoleon der Dritte von den Preußen geschlagen worden war, gab es diese Restauration, die ohne den ersten Weltkrieg vielleicht von den Völkern Europas ab- geschüttelt worden wäre. Aber es mußten noch zwei große Tragödien über uns hereinbrechen. Nun, bald sind alle Europäer in einer Republik vereint, vielleicht auch der Osten..." Peter hörte auf- merksam zu, er fragte dann den Gastgeber:" Warum zog Napoleon nach Rußland ?" Der Gastgeber antwortete:" Die Geschichte sagt, Napoleon mußte die Kontinentalsperre durchhalten und auch in Rußland durchsetzen. Allerdings könnten auch andere Beweggründe mitgespielt haben. Sehen Sie, Europa wurde um 1812 langsam erwachsen. Der französische Einfluß begann überall in dem Sinne Früchte zu zeigen, daß die Völker sich befreien wollten. Aber die deutsche Befreiung konnte natürlich nicht unter französischer Besatzung erfolgen. Tragisch ist vielleicht der Umweg über den Nationalismus. Er hat alles verbogen. Die feudalen Herrschaften nutzten die Freiheitsbestrebungen um mit der Vertreibung der Franzosen auch die bürgerliche Republik zu verhindern. Schließ- lich die großen Kriege... Das alles lag schon gewissermaßen 1812 in der Luft. Napoleon wollte die aufkommenden Probleme mit Angriff lösen. Bestimmt sollte der große Zug gegen Rußland die Verbündeten zusammenschweißen. Und, -ich denke manchmal, - war Paris nicht zu langweilig geworden ?" "Nehmen Sie meine Onkel nicht zu ernst", schaltete sich die junge Frau ein. Wenn es um Politik geht, ist er ein bißchen..." Sie zeigte mit der Hand an ihre Stirn und deutete an, sie hielte ihn für ein bißchen verrückt. Der hatte das wohl bemerkt und lachte über ihre Geste. Er griff zur Weinflasche unf goß Peter Wein ins Glas. Nach einer Weile begann er:" Wenn Sie in die Provence kommen, dann sehen Sie sich Tarascon an. Ich habe da etwas für Sie." Er stand auf, ging zu einem Schrank, holte ein kleines Büchlein heraus und reichte es Peter. "Nehmen Sie das mit, es ist der Tartarin aus Tarascon von Alphonse Dudet. Sie werden auf Ihrer Reise Vieles wiederer- kennen." Peter bedankte sich und steckte das Büchlein ein.
Am Abend ging Peter mit der schönen Frau unter den Obstbäumen spazieren. Da er sehr nachdenklich war, frug ihn seine Begleiterin:" Was geht Dir durch den Kopf, mein Freund?" Peter antwortete:" Wie ist es möglich, daß Napoleon auf St. Helena nicht von seinen Franzosen befreit worden war ? Eine so große Nation, und er wurde nicht befreit." Die junge Frau lachte:" Du hast Gedanken. Fast niemad denkt mehr daran, und Du willst Napoleon befreien." Peter antwortete:" Mich beschäftigt die Frage, was wäre geschehen, wenn er befreit worden wäre ?" Die Frau sagte:" Sieh dieses seltsame Licht zwischen den Bäumen, jetzt wo die Dämmerung in die Nacht übergeht." Peter ging nun schweigend neben ihr. Der Duft der Landschaft wurde ihm bewußt, fruchtig, erdig und würzig. Schweigend gingen sie nach einer Weile zum Haus zurück. Zur Nacht wurde ihm in einem kleinen Zimmer ein Bett gezeigt. Er legte sich hin und dachte nach. Es war ihm unmöglich einzuschlafen. Nachdem er eine Weile gelegen hatte, stand er leise auf und ging in den Obstgarten hinab. Unter den Bäumen stand an der Seite des Hauses eine Bank. Er war verwundert und etwas erschrocken: Dort saß der Onkel und sah in die Nacht hinaus. Als er Peter kommen sah, sprach er zu ihm:" Setz Dich, junger Mann. Du kannst nicht schlafen ?!" Peter ging auf die Bank zu und setze sich neben den Mann und sagte: "Ich bin zu wach, außerdem..." Der Mann setzte fort:" Napoleon geht Dir durch den Kopf !" "Ja." erwiderte Peter. "Wir sollten ihn von dieser elenden Insel herunterholen, das meinst Du ?!" Peter war etwas erstaunt und sagte stolpernd:" Wenn wir in seiner Zeit leben könnten, sollten wir es tun." Der Mann sprach:" Es gibt mehr Verrückte, als Du Dir träumen läßt. Komm mit! " Damit erhob er sich und ging auf einen Stall zu, in dem Pferde standen. Er warf Sattelzeug über zwei Pferde und forderte Peter auf, eines davon zu besteigen. Peter zögerte, stieg aber dann auf. Nun ritten beide aus dem Hof heraus auf die Straße. Seltsamerweise war es eine Straße, die mit festem Lehm stabil- isiert war. Peter dachte, er sei nun in der Vergangenheit ange- langt, es gab keine Ortsschilder mehr, keine Masten. Der Mann ritt vor, Peter ritt hinterher. Sie ritten einige Stunden lang. Peter wurde steif im Sattel, sein Gesäß schmerzte. Endlich gelangten sie an einen kleinen Ort. Von Osten kam die Dämmerung herauf. Nun sah er, daß sie an der Küste angelangt waren. Der Mann ritt deben Peter, zeigte auf die alten Häuser und den Hafen und sprach:" Das ist Toulon, junger Mann. Von hier aus werden wir mit einem Schiff zu St. Helena fahren." "Aber geht das so einfach ?", frug Peter verwundert. "Einfach nicht, aber dem Kapitän eines Linienschiffes werden sie bestimmt keinen Wunsch versagen." Peter sah in der heraufkommenden Dämmerung, daß der Onkel jener schönen Frau eine alte Kapitänsuniform trug. Nu sah er an sich herab, er trug auch eine Uniform. Nun, so dachte er, dann träume ich eben, es ist bisher ein schöner Traum. Wie er so nachdachte, hörte er den Onkel sagen: "Nu los, junger Seemann, unser Schiff wartet schon." Sie ritten zu einem Wachhaus, stiegen herunter von den Pferden. Ein Matrose, der Wache hatte, grüßte beide. Sie gingen zum Kai direkt auf einen Viermaster zu, der unter vollen Segeln stand. Offensichtlich war der Mann bereits erwartet worden. Er ging an Deck, rief einige Offiziere und erteilte Befehle. Peter stand dabei und staunte sehr. Die Anker wurden gelichtet, die Segel blähten sich, das Schiff nahm Fahrt auf.
Die Insel St.Helena, auf die Napoleon verbannt worden war, hatte eine unverwechselbare Silhouette. Daher war das Erstaunen des Onkels verständlich, als er nach mehrtägiger Schiffsreise am Horizont nicht die vertraute Silhouette sah, sondern eine andere. Aber es war nicht möglich, eine andere Insel als St.Helena vor sich zu haben, die Berechnungen stimmten. Peter sah die Auf- regung des alten Mannes und frug ihn deshalb:" Wieso sind wir denn nicht dort angelangt, wo wir sein sollten ?" Der Onkel wollte etwas erwidern, aber noch bevor er etwas sagen konnte, grollte der Donner von Geschützsalven über sie hinweg. Geschosse sahen sie nicht. Nun kam ein sehr großes Kriegsschiff auf sie zu gelaufen. Der Onkel sagte, es sei ein britisches Linienschiff. Dieses Schiff feuerte nun eine volle Breitseite gegen die Silhouette der Insel. Etwas später kam ein Ruderboot zur Back- bortseite und ein britischer Offizier betrat das Deck. Er begann sogleich:" Sie sind in britischem Hoheitsgewässer, Sie müssen sofort zurücksegeln, andernfalls müssen wir Ihr Schiff beschlagnahmen." Dabei machte der Offizier keinen sehr sicheren Eindruck, er schien von irgendetwas gehetzt zu sein. Nun krachte es auf einmal fürchterlich. Es schien, als habe eine ganze Seite der Insel auf einmal Feuer gespien. Die Silhouette verschwand im Pulverdampf. Es krachte in der Nähe, alles wurde in Rauch gehüllt. Als sich die Schwaden etwas verzogen hatten, sahen die Seeleute des Onkels, Peter und der britische Offizier, wie das große britische Linienschiff versank. Es versanken die Trümmer, die noch von ihm übrig geblieben waren. Nun senkte der britische Offizier seinen Blick und sprach:" Ich liefere mich ihrer Nation aus. Respektieren Sie bitte die Flagge Seiner Majestät und mein Offizierspatent."Der Onkel war verblüfft und geleitete den Offizier in seine Kapitänskajüte. Peter durfte mitgehen. "Nun erzählen Sie uns, was hier geschieht!", forderte der Onkel den Engländer auf. Der begann:" Napoleon hat drei französische Linienschiffe hierher beordert. Diese haben unsere Bewachungsschiffe versenkt, nur unser Schiff konnte sich zunächst retten. An Bord war der Inselgouveneur und sein Stab. Unsere Flotte wurde um Hilfe ersucht, aber sie steht mit fünf Linien- schiffen in der Karibik im Kampf mit der spanischen Armada und die andere großen Schiffe befinden sich auf dem Weg von Schottland nach hier." Der Onkel frug nun: "Was ist mit der Insel geschehen, ich erkenne sie gar nicht wieder ?" Der Offizier antwortete:" Das waren Napoleons Mineure. Sie haben einen neuen, sehr gefährlichen Sprengstoff erhalten. Sie proben für ihre nächste Schlacht auf dem Kontinent." "Napoleon kommt zurück ?", fragte der Onkel. "Ja, und wir werden ihn nicht aufhalten können." Der Onkel war sehr erfreut über diese Nachricht. Umgehend gab er Befehle um die Heimreise anzutreten. Offensichtlich war seine Mitwirkung nicht nötig, und zu bleiben barg die Gefahr, bei den Spreng,- und Schießübungen das gleiche Schicksal zu erleiden wie das englische Linienenschiff.
Der Hafen von Toulon wurde ohne weitere Zwischenfälle erreicht. Peter verabschiedete sich von dem Onkel der schönen Frau und ging am frühen Morgen in Richtung Aix-en-Provence. Von dort wollte er die alte Römerstadt Arles besuchen. Zunächst war die Luft noch frisch und würzig. Das Krüppelgewächs der ebenen Landschaft duftete wie ein großer Kräutergarten. Die flachen hellen Häuser mit ihren hellroten Ziegeln lagen veschlafen zwischen den Baum- reihen und Gemüsefeldern, die hier und dort mit künstlicher Bewässerung am Leben erhalten wurden. Die Telefonmasten schienen langsam mitzuwandern. Wie er sie so gelegentlich betrachtete, wurde ihm klar, daß er wieder in der Gegenwart angekommen war. Der alte Hafen war längst hinter dem Horizont verschwunden, einige Autos fuhren ihm entgegen oder kamen hinter ihm heran und fuhren vorbei. Nun wurde es warm, dann immer wärmer und staubiger. Gegen Mittag wurde es sehr heiß. Die Straßendecke flimmerte. Peter nahm ein weißes Tuch aus seiner Hemdentasche und bedeckte damit seinen Kopf. Er hielt Ausschau nach einem schattigen Plätzchen. Schließlich sah er die verfallenen Reste eines römischen Aquädukts. Einer der etwa 6 Meter hohen Bögen war noch intakt. Die Felssteine und einzelnen Schichten schmaler, gebrannter Lehmziegel hielten noch ihre Form, nachdem sie 1700 Jahre so geblieben waren. Andere Teilstücke waren weg- gebrochen, vom Sand und Lehm teilweise begraben worden. Peter setzte sich unter den Bogen und hatte nun einen Schatten zum Schutz gegen die Sonnenstrahlen. Wenn er vor sich hin und in die Weite blickte, sah er neben dem Weg einige Pinien, eine Buschreihe, und dahinter einen halbvertrockneten Garten, der offensichtlich nicht bestellt worden war. Zur anderen Seite, in seinem Rücken stieg das Gelände leicht wellig an. Dort wuchsen Krüppelgewächse zwischen spärlichem Gras und Sandflecken. Da war aber noch etwas, das er zunächst für einen Felsbrocken von seltsamer Form hielt. Peter stand auf, verließ den schattigen Streifen des Bogens und ging, geblendet von der Mittagssonne auf diese Form zu. Dort saß ein bronzefarbenes Mädchen mit einer Sithar und dem spitzen Kopfschmuck der Tempelmädchen in Bangkok. Ihr Busen war frei und glänzte wie poliertes gedunkeltes Kupfer. Sie war eine Figur aus Kupferbronze, schien aber langsam ihren Kopf dem Instrumentenhals zuzuneigen, schien ihren grazilen rechten Arm zum Spielen anzuwinkeln. Nun sah sie zu Peter hinüber. Unter langen Augenwimpervorhängen sandte sie einen Strom von Blicken und Sehnsucht,- so erschien es ihm. Augenblicklich war er aufgewühlt und bebend, wurde starr und selbst Figur, so wie Metall. Er bebte, und zugleich zog ihn diese Figur an, sie war alle Gesichter, in denen er einmal sehnend sich verloren, war Traum und Kuß, Umarmung, fliegendes Zutraun und Lächeln, wie die stillen feinen Wellenhügel der Ostsee. "Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und es verschmäht gelassen uns zu zerstören", sagte Rilke, - und auch er mußte weiter sein, so wie dieser junge Mann, der sich verlor im Anschaun,- während ihr Busen sichtlich bebte, da sie leblos hier nicht sein konnte. Nun erhob sie sich. Ihre Haut glänzte im Sonnenlicht wie helles Kupfer. Langsam schritt Peter auf sie zu. Sie aber ging von ihm fort. Sie hielt das Musikinstrument in der Linken, rückte ihre spitze, kegelförmige Metallhaube zurecht und schritt in die wellige Ebene hinaus. Peter ging etwas rascher. Ihr Duft wehte zu ihm herüber, er erstarrte für einen Augenblick wie leicht betäubt. Dann entschloß er sich zu ihr zu laufen. Er lief, erst zögernd, dann schneller,- aber er kam ihr nicht näher. Er lief so schnell er konnte,- sie ging mit wiegenden Hüften scheinbar schlendernd dahin. Er bemerkte, daß die Entfernung nicht wirklich war, sie konnte nicht überbrückt werden. Außer Atem blieb er stehen und sah ihr nach. Sie entschwand aber auch nicht seinem Blick. Die Entfernung konnte auch nicht größer werden, selbst nicht als er gedankenverloren da stand und ihr nachsah. Eine schwere, beinahe drückend süße, zugleich auch im Halse Bitternis erzeugende Melancholie kam in ihm auf. Es sollte so wie jetzt, so verwundet und bezaubert, ewig in ihm bleiben, das wünschte er halb und zur anderen Hälfte wollte er nicht mehr da sein, alles wollte er ablegen, alles vergessen.
Lange noch trug er das Bild der vor ihm herschreitenden Sitharspielerin in sich. Als er am Pariser Metrobahnhof Stalingrad stand sah er sie. Inmitten der Leute stand sie, mit freien Schultern und dem goldenen spitzen Kegel auf dem Kopf. Sie erschien alle um einen Kopf zu überragen. Niemand nahm aber Notiz von ihr. Vielleicht sah sie niemand. Er hatte sie aber so heftig vor Augen, daß er sie für wirklich hielt. Er ging zu ihr, das heißt, er versuchte sie zu erreichen. Sie ging vor ihm her, genauso wie in der Provence, das Musikinstrument in der Hand, mit wiegendem Schritt. Ihre Schultern glänzten kupferbraun im Gegenlicht, welches von oben durch die Eisenkonstruktion hinab- fiel. Sie ging nun eine eiserne Treppe hinauf. Der Metrobahnhof hatte einen Turm aus Eisengerippe, ähnlich dem Eiffelturm. Peter kam das seltsam vor, einen solchen Metrobahnhof gab es doch nicht. Aber er ging ihr nach. Längst war ihm das Unwirkliche dieser Gestalt klar. Alles war nicht wirklich da. Aber er wollte weitermachen. Er spürte ihren Duft. Er erregte ihn, machte ihn auf eine für jeden unsichtbare Weise verrückt. Zuweilen blieb er auf der scheinbar unendlichen Treppe stehen und sah ihr nach, hinauf, wo der Turm noch kein Ende hatte. Er litt wie jene ver- zauberten Artisten, die in ihr Gemälde hineinfallen, weil es ein bildgewordenes Dasein ist. So auch saugt er sich voll und wird hungriger, durstiger, süchtiger nach ihr.
Irgendwann kam er oben auf der Plattform jenes Turmes an. Das schöne Mädchen war verschwunden. Er sah nach unten, sah die Dächer von Paris, die Treppen der Sacre Ceur, die Treppen am Montmarte, die Seine, die Ile de Cite und wollte fliegen. Er breitete seine Arme aus und flog über die Dächer der Stadt. In den Tuillerien glitt er zu Boden und spazierte zum Louvre. Vor den Seitenflügeln kam er an jenen kleineren Triumphbogen, vor dem Napoleon seine Paraden abzuhalten pflegte. Er setzte sich am Fuß des Bogens in den Sand des festgetretenen Weges und sah den Leuten zu, die dort vorbeiliefen. Sah aber zugleich zurück in die Zeit der Paraden, wie sie vor der Katastrophe in Rußland dort abgehalten worden waren. Die Gardekavallerie war angetreten, Napoleon ritt die Reihen ab. Hier und da hielt er an, sprach mit dem Einen und Anderen, verlieh auch manchen Orden. Dann sah er den jungen Mann aus der Zukunft, den Peter, der dort am Fuße des Bodens saß. Dieser wollte aufspringen, aber Napoleon winkte mit der Hand, daß er sitzen bleiben solle. Er sah ihn an, sah dabei so zu ihm, als ob er wortlos das Unmögliche verstanden hätte, tippte grüßend mit seiner rechten Hand an seinen Dreispitz, warf sein Pferd herum und ritt wieder zurück zu den Gardetruppen. Dann gab es ein Kommando und die Formation trabte aus dem Areal hinaus. Napoleon blieb mit zweien seiner Offiziere zu Pferde am Bogen stehen, sah hinüber zum Louvre, wies mit der Hand nach Osten, die Offiziere blickten in diese Richtung, dann ritten sie ebenfalls davon.
Peter lief durch die Straßen, die großen Boulevards hinunter bis zur Pt.de la Vilette und hoffte, jenes Mädchen wiederzusehen, die ihren Arm so vetraut in den seinen geschoben hatte und nach einem Expresso am Camps Elysee ihm wieder aus den Augen verloren gegangen war. Er fühlte sich einsam, die Stadt glich einem Umkehrbild. Wenn er südlich von ihr an der Loire oder noch weiter bei Avignon dahinging, so erschien sie ihm zusammen mit seinen Erinnerungen als ein Ort, an dem er ganz für sich und in sich geborgen ist. Die Bilder und Eindrücke der Stadt waren so freundlich nah in ihm, wie lebende Personen im engen Verkehr selten es sein können, sie waren idealer. Aber sobald er die alten Häuser zu allen Seiten um sich hatte, die Seine und der Place Clichy in umschlossen hatten, so wurde er ein kleiner Punkt inmitten einer großen Ebene der Zeit, die vorher und nachher und überall ihn einsam machte. Das war nicht eine unangenehme Erfahrung, sondern eine nur in Paris für ihn beheimatete Freiheit. Jedoch, sie biß sich in ihm fest, machte ihn unruhig,- und so trieb es ihn immer wieder hinaus auf das Land. Aus der Perspektive der Boulevards war alles umgekehrt: Die freundlichen und groß- zügigen Bewohner der IIle de France, die heiteren Gestalten um Arles waren ihm wie Erlösung. - Auch dort währte dieses Bild seines Inneren nicht lange. So trieb es ihn hinaus und hinein.
Unter milder Frühsommersonne nahe St.Remy ging Peter die Via Aurelia entlang, an Gärten und weißen flachen Häusern vorbei und suchte,- suchte seine Sitharspielerin. Die Weinreben im hellen frühen Grün mit ihren winzigen perlenförmigen Früchten, kaum größer als Hirsekörner, standen zuweilen bis heran an die Straße, und Vergangenheit lag unsichtbar über dieser Landschaft, die schon Legionen gesehen hatte unter römischen Standarten auf ihrem Weg in den Soldatentod, in die Hölle von Spanien. Das helle Licht des Südens, Afrika schon, aber noch eine Landschaft Eurpoas...Er sah,- er stand still: Dort, im Schatten einer Pinie, dort lag sie, aber regungslos und eingeknickt, als sei sie gestürzt. Das Instrument war zerbrochen, ihr Kopf halb begraben im Sand. Peter sah starr, sah seine Sitharspielerin, gefallen wie jedes sterbliche Wesen, aber doch eine Statue aus Metall. Während der Abend kam, die Nacht verging, ein neuer Tag kam, und der neue Tag ebenso verging, und während die Zeit Tag für Tag verflog, schneller als die Burgen der Wolken, sah er das Mädchen aus Metall, die Spuren der Zeit sich eingraben in die vollkommene Figur. Jahrhunderte legten die grüne Patina über die Formen, welche zeitloser schimmerten, je mehr sie sich auflösten und dem Sande glichen. Ihr spitzer Hut und der schmale Hals der Sithar erhoben sich noch wie Reliefs aus dem Sand,- und eine Schulter verblieb im kupfernen Glanz, da der Wind sie polierte.
Er irrte durch eine Stadt. Irgendwo hörte er, das sei New York. Aber er befand sich in einem alten Industriegebiet. Er stand auf einer etwa drei Meter hohen Leiter. Oben war sie gegen eine Mauerkante gelehnt, die mit Granitblöcken abschloß. Ein Mädchen, ein Mischling von faszinierender Schönheit, nur mir einem Bikini bekleidet, kletterte oben auf der Mauer herum und lockerte die Granitblöcke. Peter erschrak und sagte ihr, sie solle aufhören. Sie lachte und machte weiter. Schließlich lockerte sie den Block, gegen welchen die Leiter gelehnt war. Peter kippte mit der Leiter und stürzte ab. Sie rief ihm zu, er solle abspringen. Im gleichen Moment sprang er, und nichts passierte ihm dabei. Irgendwo oben kam er dann doch an und sah auf eine Ebene von Bahngleisen. Beherrscht wurde das Bild von einem gewaltigen ovalen Turm, der etwa achtzig Meter an der breiten Seite war, aus Backstein gebaut und etwa sechszig Meter hoch war. Oben war eine Eisengerüstkonstruktion aufgebaut, die den Turm ähnlich einem Pilzdach zu beiden Seiten weit überragte. Die Konstruktion war an der Oberseite flach, so tief wie der Turm an der schmalen Seite des eliptischen Grundrisses, etwa dreißig Meter. Alles war mit abertausenden Nieten festgemacht und sah aus, wie die Stahl- gerippekonstruktionen der Jahrhundertwende. Grau und staubig war alles vom gleichen dunklen Ton überzogen. Eine Dampflock kam. Peter und das Mädchen sahen sie nicht. Erst sehr spät, fast zu spät hörte Peter einen Warnton und zog das Mädchen von den Gleisen weg, auf welchen der Zug herankam. Auf der Ebene vor dem Turm war eine Skulptur aufgebaut, eine liegede Frau, etwa zwanzig Meter hoch, aus dunklem grauen Material, vielleicht Eisen oder auch Stein. Ihre Formen waren teils natürlich aber auch geometrisch kubisch vereinfacht wiedergegeben. Zu Peters großem Erstaunen war da inmitten dieser Schienen und Industriekulisse dieses Kunstwerk, welche sich äußerlich der Umgebung völlig angepaßt hatte. Das war, so dachte er: Amerika,- Großes und Gegensätzliches, Verrücktes, Normales, alles nah beieinander. Er fror innerlich...und war fasziniert, klammerte sich an diese Szenerie, die der Droge gleich mehr, näher, dichter in ihm werden sollte.
Peter erwachte an einer Landstraße im Zentralmassiv. Die ärmlichen Häuser eines Dorfes, die mageren Felder waren zu sehen. Alles war wie ausgestorben. Es hieß, die französische Regierung würde einiges investieren um das weitere Abwandern der Menschen aus dem Massiv Central zu verhindern. Wohl vergeblich, auch wenn hier und da Stromleitungen gelegt worden waren um die Isolation der Dorfbewohner von der modernen Zeit zu beenden. Er sah durch die niedrigen Bäume hindurch, und wie in einem doppelt belichteten Bild sah er eine Stadtlandschaft, die ihn nun ganz in sich aufnahm. Er war auf einem großen, von Geröll und Schutt beladenen Platz, der notdürftig platt gewalzt worden war. Zur rechten stand ein Gebäude, welches etwa 50 Meter hoch war und eine merkwürdige Fassade hatte, Es waren gotische und moderne geometrische Elemente, und ein Dach wie von einera alten Kathedrale. Zur anderen Seite standen Gebäude, die viele neoklassizistische Formen, Säulen, Bögen, aber auch Jugendstil- elemente hatten. Überall gab es dazwischen Stahlgerüst- konstruktionen, deren genietete Bauweise die Handschrift der Jahrhundertwende trug. Darüber die Dächer von Paris, gealterte Zinkplatten, und runde Tonkamine. Er ging über den Platz und kam zu einer dunklen großen Bogenhalle aus Stahlgerippe, die zu einem Bahnhof gehörte, der aber leer war und einem Güterver- ladeplatz glich. Er ging dort hinein und befand sich nun in einer Kulisse, die sehr der glich, die er gerade als einen Teil von New Vork erfahren hatte. Er spürte, daß er selbst der Architekt dieser Landschaften war, und er erschauerte über den Einblick in diesen Abgrund seiner Phantasie. Aber es war doch mehr als bloß ein Traum,- so schien es ihm zu sein.
Wie der Schlaf, so hatte auch Peters Wachsein kräftige und blasse Farben, die einander abwechselten. Er befand sich, nachdem er nichts mehr erinnerte, was in den letzten Stunden geschehen war, in einer kleinen Straße nahe des Place Clichy. Es war weit nach Mitternacht, die Laternen verbreiteten ein funzeliges Licht. Leute waren nicht mehr zu sehen, das Treppengeländer jener großen Treppe die zum Montmarte hinaufführt und zur Sacre Ceur, war, einer schlafenden Skulptur ähnlich, von einer merkwürdigen Anziehung. Peter schlenderte dorthin, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Auf einem Mäuerchen saß eine Gestalt. Sie hatte die Silhouette eines Mädchens oder einer Katze, das war nicht sehr deutlich zu sehen. Vorsichtig aber sehr zögernd näherte Peter sich dem Mäuerchen. Es glänzte wie schwarzes Haar oder Fell etwas von dieser Figur im Gaslaternenlicht. Zwei Augen sahen ihn an. Ein vieldeutiger Blick traf ihn, durchbohrte ihn vielleicht oder durchdrang ihn vielleicht, so wie ein Blick hindurchgeht, wenn er nichts wahrnimmt von den, was er sieht. Die Augen jedoch schienen ihn anzulächeln, so erschien es ihm. Das Wesen richtete sich auf, scheinbare oder nicht nur scheinbare Brüste glänzten mit schwarzen Wölbungen vor dem tiefblauen Hintergrund im Lampen- licht. Lippen wandten sich ihm zu, oder wenigstens in seine Richtung. Nun ein Sprung, ein großes Tier oder was es sein konnte, sprang von der Mauer hinab und floh in großen Sprüngen. Eine schwarze Phanterkatze schnellte in einen Abgrund hinter dem Mäuerchen hinunter. Etwas flatterte nach, ein schwarzes Kleid vielleicht oder der federnde Raubtierschwanz. - Peter stand - und ging dann mit großen schnellen und furchsamen Schritten eine Seitengasse hinein in die Richtung zum Place Clichy. Dort unter dem besser beleuchteten Straßenkreis atmete er auf. Er setzte sich auf einen der Stühle, die vor einem Bistro stehen- geblieben waren. Alle diese leeren Stühle, den schlafenden Tauben gleich, - er dämmerte vor sich hin. Doch mit einem Mal wurde er wach und mutig. Er spannte sich, erhob sich, sah alte Erinnerungen, sah sich mit einem Bogen und Pfeilen, wie er als Achtjähriger in den Wiesen herumgelaufen war und suchte. Er erhob sich, ließ die Stühle weiterdämmern und suchte sie. Er glaubte fest, sie wäre eine Frauenkatze, langhaarig mit scharfem Raubtiergeruch,- der nun, in der Erinnerung an das eben Erlebte ihn sehr erregte. Er duckte sich und schlich zurück in jene dunkle Gasse, aus der er gerade gekommen war. Irgendwo in einer Türöffnung ein Licht. Er ging heran, die Tür des alten hohen Hauses stand weit auf. Er ging hinein. Innmitten eines Säulenganges stand er und sah alte Malereien und Fresken. Jagdszenen waren dort vor Jahr- hunderten aufgemalt, vielleicht auch schon vor über tausend Jahren. Er ging weiter, die nächste Tür stand offen. Der Raum war blau beleuchtet. Vorhänge fielen zwischen den Säulen in Bögen hinab. Inmitten des Raumes, auf einer römischen Liege war sie. Eine Frazu wie eine Phanterkatze. Schwarze Haut, schwarzes Haar, schwarzes Fell. Sie wandte sich ihm zu, ihre Lippen öffneten sich, gefährliche Lippen- und fauchte, sprang hoch, streckte ihre Krallen nach ihm. Peter wich mit einem Satz zurück. Doch dann entgegengesetzt riß ihn sein Ungestüm. Er stürzte sich in die Tatzen hinein. Weich durchdrangen die Krallen seine Schultern,- ihr Duft betäubte und erregte ihn, wie er es nie kannte. Der Mann, der einmal aus ihm werden wollte, wurde wach. Er packte zu, sie krümmte sich, sie verkrallten sich beide und durchdrangen sich. Sie schrie, er schrie.- Schwarz wurde es um ihn, er verlorjedes Bewußtsein. Am anderen Morgen, oder irgendeinem anderen Morgen,- das war ihm ununterscheidbar, wurde er vom Lärm des Kreisverkehrs des Place Clichy geweckt. Ein Kellner trat zu ihm, das Bistro begann seinen Tagesbetrieb. Benommen sah Peter auf seine Hände. Krallenspuren zogen ihre verkrusteten Linien über seine Arme und Schultern, alles brannte an ihm und in ihm auch.
Als er am frühen Morgen Paris in Richtung Orleans verließ und ge- mächlich die Nationalstraße daherschlenderte, kam er an ein Straßenstück, an dessen Seiten hohe Pappeln standen. Der Westwind bog sie leicht zur Seite, Peter war kühl, und die schlaflose Nacht lag bleiern in seinen Gliedern. Es duftete nach Gras und den Autos, die ihn ab und zu überholten. Er wollte wieder in die Provence zurück. Sein nächtliches Erlebnis hatte den Wunsch geweckt in ihm, die Sitharspielerin wiederzusehen, deren Figur irgendwo am Rand der Via Aurelia halb vergraben im Sand lag. Zunächst war diese Figur nur ein Fixpunkt gewesen, dem er sich irgendwann nähern mochte. Aber mit der heraufkommenden Wärme des frühen Mittags wurde es drängend in ihm. Er schritt schneller voran und streckte seinen Daumen heraus, damit ihn ein Auto mitmähme. Nach wenigen Minuten hielt eine Citroen-Ente. Drei junge Leute saßen darin. Ein Mann von etwa 26 Jahren und zwei Frauen von Anfang zwanzig. Kaum war Peter eingestiegen, wurde er gefragt, wohin er wolle, woher er komme, was er arbeiten oder lernen würde. Peter antwortete auf diese Fragen, war aber besonders erfreut über das Interesse einer der beiden jungen Frauen an seinen Texten, die er geschrieben hatte, und von denen er einige mit sich führte. Das Auto schaukelte, so gut es konnte gen Süden. Am Abend gelangten sie nach Chateauroux. Dort wurde er von den Dreien, die als Journalisten tätig waren, zum Abendessen eingeladen. Sie begaben sich zu dem Hotel, in welchem die drei übernachten wollten. Es war ein üppiges Essen mit sieben Gängen plus Käse- platte, Obstnachtisch, Eis, Kaffee und Wein. Ein weißhaariger Herr kam einigemale zu Tisch um sich zu erkundigen, ob die kleine Gesellschaft zufrieden sei. Unterdessen wollte die eine der beiden Frauen, Jeanette, mehr von Peters Gedanken wissen. "Was beschäftigt Sie denn zur Zeit besonders ?", fragte sie. Peter antwortete:" Es sind mehrere Dinge. Über Vieles wüßte ich gern die Wahrheit. Die Wahrheit über mich, über mein Leben, über die Anderen und deren Leben, aber auch über die Befreiung. Ich glaube, ich bin noch ziemlich unfrei."Das überrascht mich aber, Peter. Sie reisen nun allein durch Eurpoa und fühlen sich noch nicht völlig frei ?" Peter sprach:" Ja, ich bin schon etwas weiter gekommen als dort, wo ich vor einem Jahr noch stand, als Lehrling, gebunden an Eltern, Chef und Tagesablauf. Aber in mir.... Überall wo ich hingehe, bin ich auch dabei. Ich muß mich doch immer mitnehmen." "Wissen Sie, Sie sind sehr weit für Ihr Alter, Peter. Diese Fragen haben schon viele bedeutende Köpfe beschäftigt, und Sie haben es noch einmal entdeckt, daß man immer mit sich selbst auskommen muß, also die Frage der inneren Freiheit", erwiderte Jeanette. Bernard, der Mann in der Gruppe hatte etwas zugehört und sagte nun:" Unsere zwei charmanten Philosophen..." Und zur Dritten, Claudine gewandt, sprach er weiter:" Es ist doch ein echtes deutsch-französisches Treffen: Dort die Suche nach der Wahrheit und hier nach der Freiheit.." Jeanette entgegnete:" So einfach, mein Lieber, ist das nicht. Wir haben eine große Tradition in der Suche nach Freiheit, und Peter hat zu Hause den Immanuel Kant, den deutschen Freiheitssucher." "Aber sie haben Hegel gehabt, und wir Sarte..." setzte Bernard lächelnd hinzu, und man sah, daß er das Ganze amüsiert und leichter nahm, als es sich anhörte. Jeanette hakte nach:" Und Sarte war in Berlin, bei Hei.." "Heidegger", ergänzte Peter. "Ja, Heidegger,- und der war doch ein Hegelianer", sagte Jeanette. Nun schaltete sich Claudine ein und sagte lachend:" Ich denke, Hegel war ein eifriger Leser von Voltaire,- und dann sind wir bald in Rom und von aus in Athen." Die vier lachten. Das hatte der weißhaarige Herr gehört, der der Inhaber des Hotels war. Er trat zum Tisch und sprach:" Es gefällt Ihnen in Chateauroux, das freut mich sehr". Und zu Peter gewandt: "Wohin werden Sie weiter reisen ?" "Vielleicht komme ich in ein zwei Tagen zur Provence." "Unsere Provence", sprach der Herr:" Ich würde gerne mit Ihnen reisen, aber sie sehen ja, hier bin ich an meinem Platz." Damit zeigte er in die Runde.
Gegen 22.00 Uhr wurde die Runde aufgehoben. Bernard schlug vor, noch irgendwo in ein Bistrot zu gehen. Die vier brachen auf. Peter wollte sich aber kurz vor dem Eingang von den anderen trennen, da er einen Campingplatz aufsuchen wollte um dort zu übernachten. Ein Zimmer im Hotel hätte er nicht bezahlen können. Claudine sagte aber: "Bleiben sie bei uns Peter, Sie haben den Herrn dort gesehen, das war der Hotelier. Er hat Sie eingeladen, in der Nacht in seinem Hotel zu bleiben, als sein Gast." Peter war sehr erfreut. So zog die kleine Gesellschaft in ein Bistrot. Vom Wein etwas beschwingt, aber auch von der milden Luft, dem dunkelblauen Spätdämmerungshimmel, den Zigallen und allerlei anderem, begannen die beiden Frauen hüpfend die Straße entlang zu tanzen. Sie hakten sich bei Peter und Bernard ein, sangen etwas, trällerten und bildeten eine Viererkette- und so gings die kleine Straße entlang. Die Bistros hatten ihre Stühle heraus- gestellt. Die Vier tranken Kaffe, plapperten so dahin und begaben sich dann ins Hotel zurück.
Am anderen Morgen trennten sich die Wege. Peter erhielt von dem Hotelbesitzer eine Fahrkarte nach Avignon geschenkt, da er Peters vorläufiges Reiseziel kannte. Aber es wurde später Nachmittag, bis Peter einen passenden Anschluß fand. Die Dämmerung erlebte er in einem leeren Wagenabteil, denn das Publikum war hier und da auf den Bahnhöfen ausgestiegen. Als es dunkel geworden war, wurde er müde und schläfrig. Einige der Lampen im Zug waren kaputt, sodaß er nicht lesen konnte. Als er wieder einmal halb ein- geschlafen war wurde er von etwas geweckt: ein etwa sechszehn- jähriges Mädchen stand vor ihm, eine schwarzbraune anmutige, schlanke Figur mit europiden Gesichtszügen, weichem Augenausdruck, einem engen Kleid und einem duftigen Decollete. Sie fragte ihn nach einem Zuganschluß nach Barcelona. Peter sah auf die Fahr- karten und den Informationsausdruck, die sie ihm vorhielt. Sie mußte in Marseille umsteigen, aber dieser Zug war der falsche, sie hätte einen anderen Zug nehmen müssen. So wie es jetzt war, blieb ihr nur die Möglichkeit in Lyon in einen Zug nach Marseille umzusteigen. Er wünschte ihr, daß sie es noch zeitlich schaffen würde, den Anschlußzug von Marseille nach Barcelona zu bekommen. Peter versprach ihr, den Schaffner aufzusuchen um weitere Auskunft zu bekommen. Er wolle ihr dann Bescheid sagen. Das Mädchen ging wieder zu ihrem Platz zurück. Kurz darauf fand Peter den Schaffner zwei Wagen weiter hinten im Zug. Dieser erklärte ihm die Anschluß- möglichkeiten. Peter ging zu dem Mädchen zurück. Sie lag in einem abgedunkelten Abteil auf der Bank zusammengekrümmt und mit ihrer Jacke und einer Decke zugedeckt. Sie war wohl sehr müde. Als Peter sie ansprach, kam sie hoch, strich ihre dunklen langen Haare zur Seite und hörte zu. Ihre braunschwarze Haut glänzte in dem Restlicht, welches vom Gang hereinkam. Sie zündete sich eine Zigarette an. Peter fragte ob sie auch eine für ihn hätte. Sie verneinte und hielt ihm ihre Zigarette hin. Peter nahm die Zigarette aus ihrer Hand, nahm einen Zug und gab sie ihr, etwas erregt von allem, zurück. Dann begab er sich wieder auf seinen Platz am anderen Ende des Wagons. Spät in der Nacht traf der Zug in Lyon ein. Peter verließ den Bahnhof und verbrachte die Wartezeit in der Nacht am Boden kauernd im Gebüsch nahe des Bahnhofs. Am Morgen ging er in die Bistros, nachdem sie endlich geöffnet waren. Den folgenden Tag verbrachte er im Zug. Erst spät am Abend, nach anstrengenden Stunden des Wartens im Abteil, gelangte er in Avignon an. Nach einem kleinen Imbiß ging Peter vor die Tore der Stadt. Er wollte zum Ufer der Rhone, in die Nähe jener Brückenruine, die aus dem Mittelalter mit einigen Bögen übrig geblieben war. Das Mondlicht schimmerte auf der nur sehr leicht gekräuselten Oberfläche des Flusses. Die Schatten der alten Gemäuer waren deutlich zu sehen. Peter erschrak, wie ihn ein alter Mann ansprach: " Wer hierher kommt um diese Zeit sucht etwas. Was suchst Du, mein Sohn?" Peter sah den Mann an. Er sah aus wie ein provencialischer Bauer, klein gedrungen, Baskenmütze, Schnauzbart, dunkles leicht krauses Haar, ein verwittertes Gesicht. Nach bevor er etwas sagen konnte - er war zu verblüfft um sogleich zu antworten - sprach der Mann weiter:" Ich bin auch hier gewesen, als ich so jung war wie Du. Dann hatte ich eine Familie, zog in die Camarque, hatte Rinder, etwas Weinanbau, dann auch Kinder. Nun sind sie alle groß, aus dem Haus. Sie sind in die Stadt gegangen, nach Toulouse der eine, meine Tochter ist in Paris..." Er unterbrach sich, stützte sich auf einem Stock ab, sah über das Wasser und sprach weiter:" Das ist ein schöner Platz, etwas Vergangenheit. Wen man alt ist, befreundet man sich mit der Vergangenheit. Du bist auf Reisen, nicht war ?" Er wartete aber keine Antwort ab sondern sprach weiter:" So ein wenig wollen wir alle die Welt erobern, in Deinem Alter." Peter erwiderte: " Nicht erobern, kennenlernen, das Land..." Der Alte lachte: " Du bist gut, das ist doch ein und dasselbe. Aber die Illusionen, o ja, die sind uns lieb.. Nein, ich sage nicht, Du bist ein zorniger junger Mann. Hier gab es Krawalle, die Studenten waren auf den Straßen, Polizei dazu. Es war nicht schön. Aber Du bist noch zu jung." Peter sagte:" Ich wußte nichts von Krawallen. Bisher dachte ich, sie beschränkten sich auf Paris." "Nein, nein, hier war es mehr, es gab brennende Autos, Barrikaden." Der Alte bückte sich, pflückte von einem Kraut am Boden etwas und hielt es Peter hin:" Das sind unsere Gewürze, probier mal." Peter nahm das Kraut und roch daran:" Das riecht gut, sehr gut." "Man nimmt es zu Fisch oder Braten, wie man will, aber auch zu Salaten paßt es gut." Dann sah der Alte wieder auf das Wasser, und scheinbar vergaß er, daß noch jemand anwesend war. Peter schwieg, sah die Landschaft und spürte kühl den Mistral an seinem Hemd zupfen. So schwiegen beide, während auf der silbrig schwarzen Oberfläche der Rhone hier und da das Wasser sich kräuselte, wenn ein Fisch nach oben schnappte. Schließlich stappfte der Alte davon, murmelte etwas zum Abschied und ging zur Stadtmauer hinüber, dort wo das westliche Stadttor war.
Da die Nacht mild warm war, kroch Peter außerhalb der Stadtmauer bei einer Buschreihe unter das Gehölz und schlief bald ein. Mit der Dämmerung wurde er wach. Es roch nach frischem Weißbrot. Peter ging an der Mauer entlag zum westlichen Stadttor hinein und von innen an der Mauer zurück an jene Stelle, wo es so gut gerochen hatte. Er fand in einem alten Haus den Bäcker. Die Tür stand auf, man sah die Backstube. Peter ging zu der offenen Tür und rief "Hallo". Es kam ein gedrungener Mann in weißem Kittel und mehlverstaubtem Haar. Peter bestellte ein Brot. Er bekam es sogleich. Es war ein weißes bauchiges Stangenweißbrot, nicht die dünne sondern die kurze dicke Sorte. Er aß es mit Heißhunger. Die braune Kruste knackte, darunter war das Brot weich und luftig durch die eingebackenen Luftblasen. Er lief anschließend durch die Straßen von Avignon, sah den burgähnlichen Bau der Gegenpäpste und war erstaunt über die vielen steinernen Schilder an den Türen von Banken, Ärzten und Unternehmen. Manche waren aus weißem Marmor. Die Schrift war sehr genau eingemeißelt, insgesamt eher Kunst- objekten denn Schildern ähnlich. Am späten Abend ging Peter wieder hinaus aus der Stadt zu jener Stelle nahe des Rhoneufers wo er in der Nacht davor gewesen war. Er dachte, es wäre interessant den alten Mann wieder zu treffen, obgleich Peter es für unwahr- scheinlich hielt, ihm noch einmal an dieser Stelle zu gegegnen. Aber er kam,- mit langsamen Schritten war er aus den dunklen Streifen der Buschreihen hinausgetreten. Einge Meter vor Peter blieb er stehen, stütze sich auf einem Stock ab und sah zur Rhone. Dann sprach er, ohne Peter anzusehen, beinahe so wie zu sich selbst:" Das haben Deine Völker besser gemacht,- nicht alle, aber doch Friedrich der Zweite von Preußen und die Ostarmee unter Hindenburg..." Peter wußte ganz und gar nicht, was überhaupt gemeint war. Er sah den Alten fragend an. "Du weißt nicht wovon ich spreche ?" Peter zuckte mit den Schultern. Der Alte sprach: " Wenn er in der Linie Wilna-Pinsk den Winter 1812 bis 1813 stehengeblieben wäre, wie die Preußen bis 1917, dann sähe Europa heute anders aus, wir hätten die Kleinstaaterei überwunden. Aber auch Friedrich gab ein gutes Beispiel. Als die Russen Ostpreußen überrannten, gab er es sofort preis und sagte dazu, angesichts der Unmöglichkeit Ostpreußen zu halten: Wer alles halten will hält nichts." - Noch immer sah Peter den Alten fragend an. Der schüttelte etwas den Kopf und sprach weiter. Vergessen wir diese Militärgeschichten, aber wer voranstürmt muß auch anhalten können. Oh ja, das war sein großer schwacher Fleck: er wollte alles und auch sofort." Peter ahnte nun etwas. Die Jahreszahlen und Namen ließen ihn auf Napoleon schließen; der Alte war Bonapartist. Ohne noch weiter auf den fragend blickenden Peter Rücksicht zu nehmen, sprach der Alte weiter:" Hier stand Schwarzenberg, dort Junot und dort Mcdonald." Dabei rizte er mit seinem Stock aneinander liegende Kreise in den steinigen Sandboden. Dann fuhr er fort:" Da oben liegt Wilna, hier die Pripjet-Sümpfe, dahinter Brest-Litowsk. Wäre er vor Brest-Litowsk stehen ge- blieben, hätte er die Front durch die Sümpfe verstärkt gefunden und in diesem Abschnitt ein ganzes Korps freibekommen. Dann, im Frühjahr wäre ein doppelter Vormarsch erfolgt: Im Norden nach Petersburg, im Osten nach Moskau. Aber er war zu hitzig und warf seinen eigen Plan über den Haufen." Nun sah er Peter aufmerksam an,- der blickte zurück. Der Alte sprach weiter:" So ist es aber, man ist sich selbst der schlimmste Feind. Man kann sich selbst nicht besiegen." Nun hielt er inne, sah plötzlich auf die fast glatte Fläche der Rhone hinaus und sprach:" Sieh einmal dort." Peter blickte auf das Wasser in die Richtung der mittelalterlichen Brückenreste. Dort glitt ein Segelschiff mit einigen kleinen Segeln und vielleicht drei vier Leuten dahin. Es war ein Nachbau einer Schilfbarke, wie sie im vorantiken Ägypten gefahren waren. Die Leute auf dem Schiff waren ziemlich ruhig, kein Geplapper oder andere Geräusche. Merkwürdig still war das Schiff, dann glitt es rhoneabwärts aus dem Sichtfeld der Beiden hinaus. Der Alte war unterdessen davon gegangen. Peter stand da und war daran zu glauben, er hätte Wachträume oder Träume gehabt,- der Unterschied erschien ihm unbedeutend.
Peter hatte die letzte Nacht ziemlich unruhig dahindämmernd unter einem Torbogen verbracht. Am anderen Morgen war er bereits während der Dämmerung auf den Beinen. Es war kurz vor fünf Uhr morgens, die ganze Stadt schlief noch, abgesehen von den Bäckern und einigen Geschäftsleuten, die ihre kleinen Läden öffneten, fegten und sonst irgendetwas hantierten. Peter dachte, sie wären vielleicht ebenso unruhig wie er selbst. Oder vielleicht war es die Gewohnheit, die bedingt durch die Mittagshitze, die Menschen dazu brachte, ihre Aktivitäten in die Abend- und Frühmorgen- stunden zu verlegen. Der Alte ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Er spürte seine Neugierde auf wohltuende Weise zufriedengestellt durch das was er erzählte. Manches wollte Peter schon einmal gefragt haben,- wohl in anderen Bildern als jenen, die der Alte entwarf. Aber sie trafen ziemlich genau das, was Peter bewegte. Daher ging er am späten Nachmittag bereits wieder in die Richtung jener Stelle vor der Stadt, wo er den Alten getroffen hatte. An der Straße vor der Stadtmauer, die er überqueren mußte um zur Rhone zu gelangen, hielt ein Wagen. Die Tür öffnete sich und der Alte steckte seinen Kopf heraus und sagte: "Hallo, fahren Sie mit, junger Herr?" Peter ging zur Tür jenes alten klapprigen Autos, welches hinten eine Ladekabine hatte und fragte: "Wohin fahren Sie ?" Der Mann erwiderte:" Ich besuche meinen Bruder in Orange. Er gibt ein Essen heute Nacht. Morgen vormittag fahre ich wieder hierhin zurück." Peter stieg ein und fuhr mit. Der Alte fuhr die Route National nach Norden. Der Feierabendverkehr brachte vor den kleinen Ortschaften einiges Gedrängel, sodaß Peter die alten Häuser mit ihren sandigen Fassaden und den leuchtend roten Ton- schindeldächern betrachten konnte. Die Farben waren sehr hell- pastellartig, getränkt von dem berühmten Licht der Provence, welches die Helle des nahen Afrika bereits vorwegnimmt. In der frühen Dämmerung kamen sie in Orange an. Der Bruder des Alten wohnte in einem Haus nahe des römischen Theaters, seiner hohen Bühnenmauer mit den dahinter liegenden halbrunden terassen- förmigen Zuschauerrängen. Ein Freilichtbau in dessen ab- schließenden Bühnenmauer noch Reste von Kolonnaden und Bögen erhalten geblieben waren. Peter wollte sofort ins Theater hinein, aber der Alte sagte, für Touristen sei bereits geschlossen, aber nach dem Essen würde er Peter einen Zugang oberhalb der Zuschauer- reihen zeigen. Mit großem Hallo wurden die Beiden im Hause des Bruders, der zugleich Metzger war, begrüßt. Man führte sie zwischen alten freundlichen Damen, jungen Leuten und einem dicklichen Koch hindurch in den Garten hinter dem Haus, wo bereits ein Buffet angerichtet worden war. Der Alte stellte Peter seinem Bruder vor:" Dies ist mein junger Freund aus Düssel- dorf, er reist durch unser Land und ist sehr wißbegierig." Der Bruder nahm Peter in den Arm, drückte ihn und sagte:" Willkommen in unserem kleinen Städchen. Waren Sie schon im Theater ?" Peter verneinte und der Alte antwortete:" Wir wollen nach dem Essen hinein. Der Bruder sagte darauf:" Wie in unserer Schulzeit, von oben über die Mauer." Dabei lachte er und sprach weiter:" Er wird nie erwachsen, immer noch der Jüngste von uns allen, ein ewiger Lausbub." Dann nahmen sie Platz, und mit ihnen etwa zehn Personen. Ein sechsjähriges Mädchen reichte Peter eine Schale mit kleinen knusprig gebratenen Fischen:" Die hab ich mitgefangen, mit Papa." Peter nahm einen und aß ihn. Ein anderer Mann aus der Familie spielte eine Ziehharmonica und sang dazu Lieder. Die Gesellschaft sang mit, trank Wein und wurde ausgelassener. Ein junger Bursche nahm eine der Frauen und tanzte mit ihr vor dem langen Tisch. Die späte Dämmerung kam, es wurde Nacht. Eine funzelige Glübirne hing an der Hoftür und verbreitete so wenig Licht, daß die hellsten Sterne über der Mauer zum Nachbarhof hin sichtbar wurden. Sie hatten drei Stunden gesessen, als der Alte zu Peter sagte: " Komm, wir gehen ins Theater." Sie mußten eine kleine Gasse zwischen den Häuschen hinaufgehen, dann über Geröll, eine magere Wiese mit Gesträuch hinauf klettern und gelagten schließlich zu einem Mäuerchen oberhalb der halbrunden Zuschauerreihen des Theaters. Der Mond war hochgekommen, ohne ihn wäre nichts zu sehen gewesen. Als sie ohne besondere Mühen das Mäuerchen überwunden hatten, sahen sie vor sich das große Halbrund der nach unten steil abfallenden Zuschauerreihen, die Fläche des Orchesters vor der Bühne, die Mauer mit ihren Bögen und die Figur des Augustus, die dort stand. Peter erschien es so, als seien die Römer nur zur Nachtruhe nach Hause gegangen um morgen wieder hierin zurück zu kommen, und man schriebe das Jahr 20 und nicht das zwanzigste Jahrhundert. Der Alte setzte sich auf die Steinstufen, Peter setzte sich neben ihm. Nach einer Weile stand der Alte auf und sagte zu Peter:" Bleiben Sie hier und sehen Sie zu." Der Alte sprang flink wie ein junger Bursche die Stufen hinab zur Arena, die hier ein Halbrund war, entsprechend dem Grundriß des Theaters. Peter blieb wo er war. Unten sah er den Alten im Mondlicht. Er gestikulierte, sprang zur linken Seite der Bühne und sprach:" Diese Bühne, unser Leben: Eine immer wieder gleiche Vorstellung, nichts Neues." Nun zeigte er auf die gegen- überliegende Seite der Fläche. Dort geschah etwas Merkwürdiges. Figuren zogen auf, die durchscheinend waren wie Glas, Traum- schemen: Eine Hochzeitsgesellschaft, dahinter Totenträger und zuletzt Soldaten und Trompeter. Sie zogen seltsam starr wie große Bilder ohne eigene Bewegung durch die Arena. Dann standen sie still, minutenlang. Schließlich schoben sie sich in einen Stein- bogen der Mauer in der Mitte der Bühne hinein, dort verschwanden sie. Der Alte zeigte wiederum auf die gegenüberliegende Seite und sprach:" Die Götter sind davongegangen. Sie haben sich nicht zu Tode gelacht und nicht an der Tafel überfressen. Vor Langeweile sind sie gestorben. Das war nicht leicht, denn Götter sterben nicht." Nun kamen Gestalten mit Maschinen aus dem Dunkel der rechten Ecke vor der Bühne hervor. Es waren eine Raketenrampe, Raketen, und eine unbekleidete Frauenpuppe aus Plastik ohne Geschlechtsmerkmale außer Wölbungen, die man für Brüste halten konnte. Es wurde still im Theater. Der Alte stand leblos wie eine Statue. Nach einer Weile zeigte er auf diese Gruppe und rief: " Das täuscht uns nicht, die Künste, die Geburt des Neuen, das Niedagewesene, die Fahrt zum Mond...." Nun trat oben auf der hochgelegenen Bühne an der Mauer, gleich unterhalb der Kaiser- statue ein Mann hervor. Er war römisch gekleidet und sprach: " Ich habe das wohl gesehen, Eure Benühungen... Da ist doch etwas, was ich niemals sah." Er zeigte auf die Raketenrampe, dann zum Himmel und sprach:" Dort oben wollt Ihr hingelangen. Aber wir sind nicht da." Nun senkte er den Kopf, schüttelte ihn etwas und sprach weiter:" Uns zu suchen, das ist ein altes Spiel. Ich habe mich getäuscht, nichts hat sich verändert." Der Alte war vor- sichtig nähergekommen und sagte zu dem Mann gewandt:" Sie suchen Dich nicht. Das ist schon etwas Ungeheuerliches, sie suchen nichts." Der Mann auf der Bühne schritt zu dem Alten, der nun genau unterhalb vor der Mauer der Bühne stand und sprach:" Sie versuchen sich in neuen Künsten ?" Der Alte legte den Kopf in den Nacken um den Anderen sehen zu können und erwiderte:" Es ist etwas verrückt damit, sie sehen sich nicht als Künstler, aber sie sind es ohne Zweifel." Der Andere antwortete:" Sie sind sich selbst ebenfalls Schein. Das ist großartig, Produkte aus Schein, Leben aus Schein und ein Bewußtsein aus Schein." "Ja, es ist alles irgendwie falsch", sprach der Alte. "Dann ist es richtig !" entgegnete der Andere und ging in das Dunkel der Mauer zurück. Die Figuren und Maschinen zogen zu der Mauer und verschwanden darin. Peter hatte erstaunt zugesehen. Nun kam der Alte zurück, setzte sich neben ihn und sprach:" So geht das schon einige Jahre lang. Wir disputieren immer im gleichen Kreis." Peter fragte: " Wer war das ?" Der Alte antwortete:" Einer aus dieser Stadt. Wenn ich hier bin, kommt er auch." "Und die Anderen ?" "Das sind Projektionen. Sehen Sie, dort hinten steht der Projektor. Bei den Vorstellungen hier im Sommer, wird er benutzt." "Spielen Sie im Sommer auch eine Rolle bei den Aufführungen ?" Der Alte sah Peter an, grinste und antwortete:" O ja, ich spiele Voltaire, einen verrückten Voltaire allerdings. Peter sah den Alten fragend an. Dieser stand auf und erwiderte:" Mein junger Freund, wenn es so weit ist, dann kommen Sie zu uns und sehen sich das Stück an." "Wann ist es so weit ?" "Von heute an in acht Wochen." "Dann bin ich vielleicht schon in Spanien, schade", antwortete Peter. "Dann kommen Sie in der nächsten Woche einmal mit zur Probe, zu einer kleinen Spezialprobe." Wiederum sah Peter den Alten irritiert an. Dieser ging zur Mauer hin um das Theater zu verlassen. Während sie zum Haus der gastfreundlichen Familie zurückgingen, erzählte der Alte:" Ich spreche in dem Stück 'Voltaire und Savanarola in Florenz' den Dialog des Voltaire. Sie hören schon am Titel, es ist ein phantastisches Stück, völlig unrealistisch, aber amüsant. Während Savanarola die Autorität der Kirche, einer radikalen reformierten Kirche propagiert, spricht Voltaire über den Sieg der Vernunft." Nun blieb der Alte auf der Straße stehen und begann: "Die Vernunft geht hell wie ein Sonne über dem Abendland auf. Da stehen Sie mit ihrem ewigen Leben inmitten einer Sonne der Vernunft. Und die Leute sehen ihre Gräber, sie sehen, nichts ist geschehen. Bald sind die Bauern auf dem Felde und die Arbeiter in den Manu- fakturen so schlau wie heute nur ein Kardinal." Der Alte hielt inne, sah zu Peter und sprach weiter:" Der Andere, der den Savanarola spielt, antwortet nun und spricht über die Tugend, die Moral, die Zucht undsoweiter. Voltaire, also meine Rolle fährt dann so fort: Sie werden nicht mehr fromm, aber sie werden schlau werden. Auch in Ihrer gerechten Gottesrepublik werden sie schlau werden und dem Verbrechen frönen. Freilich mit büßendem Knie und ordentlicher Hochzeit. Das ist aber nur ein Zwischenspiel. Wenn die Aufklärung weiter fortgeschritten ist, wird jeder jede Rolle durchschauen und selbst spielen können. Die Gleichheit macht aus jedem einen potentiellen Bischof. Sie werden diesen Umweg nicht lange gehen wollen: Er spielt etwas vor, jener spielt etwas zurück. Sie werden einfach vernünftig und sachlich werden. Ja, die Habgier, die Dummheit und die Laster werden manchen Umweg und einige Jahrzehnte kosten. Aber Sie zweifeln doch nicht daran, daß jeder sieht wohin es führt ?! Man wird den Reichtum vernünftig verteilen und verwalten, jeder wird seinen besten Teil dazu beitragen, das Gemeinwohl zu fördern. Alle werden völlig gleich und völlig vernünftig untergehn, erschlaffen und dem vierten Jahrhundert sich zugesellen, den Weiberkaisern Westroms." Peter war sehr beeindruckt, allerdings auch irritiert. Der Alte schritt langsam weiter und sprach:" Das ist nicht der Voltaire den Sie kennen sondern ein verrückter Voltaire, vielleicht ein Rousseauscher Voltaire." Dabei kicherte er vor sich hin. Peter frug sich, ob der Alte ihn nicht etwas narren wollte mit diesen Darbietungen. Während er so nachgrübelte langten sie wieder bei dem Haus des Bruders des Alten an.
Nachdem der alte Mann und Peter wieder nach Avignon zurückgekehrt waren, sprach am anderen Morgen Peter zu dem Alten:" Es ist Zeit für mich weiter zu reisen. In einigen Tagen möchte ich in der Camarque sein. Der Alte erwiderte:" Wenn Sie noch etwas Zeit haben, können wir zusammen bis Arles fahren, ich muß dort etwas hinbringen." "Wann wollen Sie fahren ?", frug Peter. "Wir können gegen Mittag losfahren, am Besten gegen 12 Uhr, später wird es sehr heiß werden." Sie fuhren also zusammen los. Der klapprige alte Wagen fuhr die Straßen parallel der Rhone entlang Richtung Süden. Peter wollte wissen, warum er auf Leute traf, die sich mit Napoleon beschäftigten. Deshalb frug er den Alten:" Was bedeutet Ihr Interesse für Napoleon. Denken Sie, es könnte ein neuer Napoleon kommen ? Und was sollte er heute tun ?" Der Alte sah Peter an, lächelte etwas, ein wenig verschmitzt und sprach: " Nun ja, die Zeiten sind vorbei. Ein Napoleon würde heute nicht mehr aufsteigen können. Aber er ist ein Symbol für eine alte Aufgabe. Sehen Sie, junger Mann, Napoleon und vor ihm Marc Aurel, Alexander und andere Große. Sie scheiterten, weil die Menschen ihre eigenen Länder noch nicht erobert haben. Sie sind noch unreif und tragen in sich selbst lauter weiße Stellen, unerforschte Gebiete sozusagen. Stellen Sie sich einen Mann vor, der so etwas wie Napoleon und Buddha in einer Gestalt ist: Furchtlos, einsam, wissend und groß. Stellen Sie sich vor, ein ganze Menschheit wird von solchen Gestalten geprägt, eine Menschheit ohne Illusionen..." Peter erwiderte:" Sie sprechen vom Sieg der Vernunft ?!" "Aber ja. Nur wissen wir noch nicht in jedem Punkte, wie diese Vernunft beschaffen ist. Wird man keine Kriege führen, weil es vernünftig ist ? Wird man miteinander arbeiten können ohne ganze Völker an den Abgrund ihrer Existenz zu drängen. Oder ist das alles eine Art Vernunft der Natur, was wir heute besser vermeiden wollen ?!" Peter sah den Alten fragend und nachdenklich an. Dieser sprach weiter:" Sehen Sie, ein neuer Napoleon wird nicht so deutlich sichtbar sein. Immerhin haben wir in Europa erst nach zweitausend Jahren von Buddha erfahren." "Aber Buddha war doch völlig in sich gekehrt; hingegen Napoleon...". "Sie sind nicht so sehr ver- schieden, wie es aussieht. Die Länder Europas sollten erobert werden um die Zivilisation auszubreiten, letztlich um den Geist hinaufzuheben. Buddha wollte die Menschheit von oben ordnen, ein Geist, der die Länder ebenfalls erobert hat." Nun stockte der Alte, Peter sah ihn an. Dann sprach jener weiter, als ob er Peters Gedanken erraten hätte und darauf antworten würde:" Sie können sagen, beide sind nicht ganz zu ihren Zielen gekommen,- das mag sein. Irgendetwas ist nicht zuende gedacht. Oder, gesetzt es lag alles an den Menschen, die nicht mitgehen konnten wohin die Großen vorangegangen waren. So fehlten also wichtige Entwicklungsschritte. Die Erziehung der Menschen ist noch nicht weit genug vorangebracht." Peter hatte einen Einfall." War der geheime Motor in Rousseau vielleicht die Absicht, die Menschheit zu erziehen, alle, nicht nur die Kinder ?" Der Alte lachte und sprach:" Aber gewiß ! - Wir wissen es nicht ganz genau, aber ich denke, es war so." Er blickte Peter an, so gut es der Verkehr erlaubte von der Straße wegzusehen und sprach weiter:" Sie haben gute Chancen voranzukommen bei der Eroberung dieser Länder." Damit zeigte er auf seinen Kopf. Nun kamen sie in einige kleine Ortschaften, sodaß der Verkehr zunahm und der Alte sich mehr darauf konzenztrieren mußte.
Nachdem sie in Arles angekommen waren, trennten sie sich, Peter und der Alte. Bis in die späte Nacht hinein saß Peter in den Bistros der Stadt. Dann aber zog es ihn hinaus. Er ging in der lauen Nachtluft die Straße in Richtung Süden aus der Stadt hinaus. Zigallen und andere Insekten girrten, Sterne kamen herauf, dann der abnehmende Mond. In einer seltsamen Empfindung vermeinte Peter, die Silhouetten der Nacht würden von ihm eingesogen oder er selbst würde sich ausbreiten und die Landschaft überdachen, ein Geist der den Äther überschritt, selbst Äther war und über- wölbender Sternenraum. Er sah sich, in sich den Raum der Sterne, ringsumher die unzähligen kleinen atomaren Feuer der Sonnen und an einer Stelle die große Sonne selbst, blendend, aber eine klare Scheibe inmitten eines schwarzen Sees. So fühlte er sich selbst entzündet, wie große Sonnen geboren werden. Von diesem Augenblick an entsteht eine neue Welt. Weil aber die Sonne nichts weiß von dem, was vor ihrer Geburt gewesen wäre, so war nichts,- und so fühlte sich in dieser nächtlichen Kugel Peter selbst. Nun war er da, nun begann überhaupt für ihn alles.
Er war irgendwo am Straßengraben eingeschlafen. Das Erwachen war fröstelig und mühsam. Sein rechter Arm war taub und einge- schlafen, der linke Füßknöchel gezerrt. Er rappelte sich hoch und fühlte sich verkatert, - der Rausch war vorrüber. Wie er an der erwachenden Landstraße so entlangschwankte, erinnerte er sich an ein frühes Erlebnis in der Schreinerei seines Vaters. Er war etwa acht Jahre alt und schon geschickt im Umgang mit Stecheisen und sogar der gefährlichen Bandkreissäge. Aber an einem dieser Tage griff er unglücklich in die große Schleifscheibe der Schleifmaschine und riß sich dabei den Nagel des linken Ring- fingers von der Fingerkuppe herunter. Und das obwohl die Maschine stand. Er hatte sich zu sicher gefühlt, seine frühen Fertigkeiten waren noch nicht wirklich sein Eigentum geworden. So auch erschien ihm im Licht dieses Morgens das Empfinden der vergangenen Nacht. Worauf, so dachte er, vermochte er wohl zurückblicken, wenn er sich so besah. Alles war doch ungeklärt. Also begab er sich wiederum auf Suche, nachdem er doch schon beinah alles gehabt hatte.
Als die ersten Autos die Straße belebten, hielt der den Daumen heraus und wurde kurz darauf von einer Frau mittleren Alters in ihrem Peugeot mitgenommen. Gegen Mittag kam er nach St. Remy. Er verabschiedete sich, sprang aus dem Wagen und setzte sich auf einem Platz in der Ortsmitte auf einen Stuhl eines Bistros. Die Sonne schien, es wurde warm, der kleine kugelige Wirt kam, nahm die Bestellung auf und brachte einen Kaffee. Nach einer Weile kam ein junges Paar hinzu und setzte sich an den Nebentisch. Schon nach wenigen Minuten begann ein freundliches Wortgeplänkel. Die junge Frau, immerhin gemessen an Peters jungenhaftem Alter eine richtige Frau, studierte an der Universität von Nanterre Philosophie. Ihr Begleiter hielt sich sehr zurück, lächelte freundlich und hörte einfach nur zu. Was er tat und war, kam nicht zur Sprache. Die junge Frau sagte nun:" Sie befassen sich mit philosophischen Fragen, das ist sehr interessant. Die verflossene Zeit beschäftigt Sie, habe ich das so richtig ver- standen ?". Peter erwiderte:" Es ist genau genommen die Erinnerung, die mich beschäftigt. Ich denke, daß ich außer meiner Erinnerung nichts besitze von der verflossenen Zeit. Aber was ist das, was ich mir erinnere ? Ist das so eine authentische Wiederholung des Gewesenen ? Ist das eine Art Film, Dokumentarfilm ?" Die Frau entgegnete nach einer Pause des Nachsinnens:" Das ist die Frage,- wenn wir das wüßten, wäre manches der großen Rätsel unseres Lebens gelöst. Sehen Sie das auch so?" "Ich habe das Gefühl, daß sich eine wichtige Sache dahinter verbirgt. Manchmal ist mir das Erinnerte sehr lebendig. Ich denke, so ist es gewesen, genau so. Aber es gibt auch Bilder und Erinnerungen, die sind bestimmt verklärt, verfärbt.." "Vielleicht sogar gefälscht ?", warf die Frau ein. Peter stutzte und frug:" Wie meinen Sie das gefälscht ?" Sie erwiderte:" Ich habe manches Häßliche vergessen und umgewandelt in meiner Erinnerung. Es gibt schreckliche Bilder, die mich verrückt machen würden, wenn sie noch genau so in mir erinnert würden, wie ich sie erlebte." "Aber kann man das feststellen, daß sich die Erinnerung zu etwas Anderem verwandelt hat als das, was wirklich geschah ?" Noch bevor eine Antwort kam, sprach er wie zu sich selbst gewandt weiter:" Doch, das gibt es. Ich hatte ein Mädchen getroffen, als ich vierzehn war, wir saßen beieinander, in einer kleinen Waldhütte. Wir trennten uns dann... Es war nicht so groß und schön, wie ich es mir später so zurecht gemacht habe..." Der Wirt brachte die Getränke für das freundliche Paar. Der Begleiter der jungen Frau richtete nun eine Frage an sie, die ihre weiteren Pläne für diesen Tag betraf, sodaß das Gespräch eine andere Richtung nahm. Als Peter diese persönliche Wendung zwischen den Beiden als doch endgültig aufgenommen und interpretiert hatte, dachte er, es sei gut weiterzuziehen.
Gegen Nachmittag stand Peter wieder auf der Straße und hielt die Hand heraus um mitgenommen zu werden. Da erschien der Renault des alten Mannes aus Avignon und hielt an. "Nun mein Freund, Frankreich ist nicht so groß, wie man denkt. Wohin soll es diesmal gehen?" "Zu den kleinen Bergen, ich glaube Alpilles heißen sie." Der Alte meinte:" Da gerade muß ich nicht hin, aber wie wäre es mit der Camarque?" "Das wäre prima, ich könnte einfach zuerst in die Camarque fahren und später in die Berge." So fuhren sie also los. Da der Alte kein Mann der großen Eile war, hielt er kurz darauf in einem kleinen Ort an und ging mit Peter in einen Bistrot. Dort saßen sie in der Spätnachmittagssonne bei einem Espresso. "Das ist ja ein Zufall", meinte Peter, "daß wir uns hier so schnell wiedersehen." "Na ja", meinte der Alte, "so ganz zufällig ist das nicht. Sie haben mir ja gesagt, sie wollen in die Camarque." "Sind sie nachsehen gefahren, wo ich bin ?", frug Peter. "Ich hatte eine Menge Zeit, das Wetter ist schön.. In der Camarque kenne ich einige Leute, gute Freunde. Kommen Sie einfach mit !" Bald darauf fuhren sie weiter. Gegen Abend wurde die Landschaft flacher, die ersten Schilfflächen kamen in Sicht. "Nun sind wir bald da. Sie sehen die typischen Ausläufer des Deltas. Bald gibt es nur noch Schilf und magere Steppenlandschaft." Nun überlegte der Alte und frug dann Peter: " Sie suchen nach einer Lösung der Lebensrätsel,-das steckt hinter ihrer Reise." Peter erwiderte:" Ich habe schon einmal gedacht, es sei alles ganz einfach. Ich sah überall einen gleichen Mechanismus: Produktion eines Produzenten innerhalb seiner Welt, Gleichsetzung von leicht veschiedenen aber doch ähnlichen Elementen, dann Erzeugung von etwas Neuem." "Also keine Wirklich- keit... aber in Ihrem Land ist doch das Sein, die Wahrheit... das sind sehr deutsche Kategorien", warf der Alte ein. Peter sagte darauf:" Es ist alles nicht das, was es ist..." Der Alte war erstaunt:" So denken Sie, in ihrem Alter. Entschuldigen Sie, ich wundere mich sehr." "Ich habe es gelesen, aber es erschien mir zwingend." Der Alte blickte suchend aus dem Wagen, dann sagte er:" Dort ist es, wir sind da."
Am späten Abend ging Peter allein in die Landschaft hinaus. Inmitten der Ebene sah er im Mondlicht eine Gruppe hoher Palmen. Er ging dorthin und kam an einen Teich. Schilf wuchs an einigen Stellen. Das Graugrün der Palmenblätter wurde vom Blaugrau der Nacht durchbrochen. Er sah den Mond, gleißend hell. Es zog hinauf. Er wünschte sich Flügel zu haben,- aber er setzte sich in das Gras am Fuße einer Palme. Der Wind war stetig und mild, irgendwo standen Flamingos... " Aber sind sie nicht unendlich traurig ?", sprach eine Stimme zu Peter. Der guckte verwundert in die Richtung, von der er sie gehört hatte und sah einen Soldaten mit einem römischen Helm auf dem Kopf, auf diesem Heln ein Federbusch. Peter dachte an die Theaterkulisse von Orange und vermutete einen der Darsteller in dieser Erscheinung. Er begrüßte den Fremden und frug:" Wer ist denn traurig ?" Der Fremde erwiderte:" Sehen Sie die Mauern von Tarascon, den Stadtbogen von Orange, diese Palme. Sehen Sie alle diese gelungenen Bilder einer schon beendeten Bewegung." Peter vermochte nicht ganz zu verstehen. Deshalb sagte er:" Ich kann selbst schon traurig sein und in den Gebäuden etwas von mir wiederfinden. Ist es das ?" Der Soldat erwiderte:" Es sind immer wieder die Produkte unseres Tuns, sie werden vollendet, ab- geschlossen, entgleiten uns. Nicht nur die Länder, kaum daß sie kultiviert wurden, zerfallen sie wieder. Es widerfährt auch den Gebäuden. Ich stand am Fuße der Pyramiden. Drei Jahrtausende blickten auf uns hinab. In dieser Distanz erscheint der Zerfall wie ein Ascheflug. Sie sehen zu dem Mond.. Wir hatten auch unseren Mond, unseren ganz besonderen Mond. Kaum war er erreicht, so entglitt er uns." "Sie meinen Europa?", frug Peter, dem der Gedanke gekommen war, der Soldat spräche von den Feldzügen Napoleons. Der Fremde sprach: " Nicht nur Europa. Damals war Europa noch die ganze Welt. Sie werden den Mond ebenfalls ereichen, ganz konkret werden Sie ihn betreten, eine Flagee dort aufstellen,- und dann wird es vorbei sein. "Peter glaubte zu wissen, was der Soldat meinte. Dieser sprach weiter: "Unter den produktiven Menschen gibt es zwei Grundtypen, der eine erschafft, greift zu und hält niemals an. Würde er sich besinnen, der Schauder würfe ihn aus der Bahn,- oder vielleicht würde er nur zögernd.- Auch dann wäre er verloren. Der andere Typus blickt überall hin, er ist selbst ein dauerndes Anhalten und Betrachten. Kaum hat er den Schlüssel der großen Lösung der Weltenrätsel gesehen, erkennt er doch wieder nur sein eigenes geistiges Produkt. Es endet jedesmal in der gleichen Weise: Wir erreichen und vollenden und verlieren. Deshalb sind die Gebäude und die anderen Spuren der Geschichte traurig." Peter dachte, der Soldat wolle auch sagen, daß der Betrachter und seine Objekte dasselbe seien. Denn nur dann konnte er sich nachvollziehen, daß Gebäude traurig wären. Deshalb frug er:" Täter und Tat und Produkt sind eins ?" Der Soldat erwiderte:" Ja!" Damit wandte er sich seitwärts und verließ den Platz.
Der nächste Tag war hell und heiß. Bereits beim Frühstück auf einem Gartenstuhl vor einem alten verfallenen Hotel am Nordrand der kargen Chamarqueebene stach die Sonne und die Luft flimmerte. Peters Nase war gerötet und brannte. Deshalb machte er sich aus einem Stück Pappe und einem Gummiband einen Nasenschutz. Einen alten Strohhut hatte er an der Straße gefunden, den er jetzt aufsetzte. Derart geschützt bekam er Lust durch den Tag zu gehen und der Hitze eine gewisse Gleichgültigkeit entgegenzubringen. Er ging über die Feldwege, zwischen Gärten und bebauten Feldern hindurch bis er in die trockene Savannenlandschaft kam, die trotz der nahen Rhone ausgedorrt war. Streckenweise verflog der klebrige Schweiß unter seinem Hemd durch den Wind. Dann war es angenehm. Andere Strecken waren voll stehender Gluthitze. Leichter Schwindel überkam ihn für Augenblicke, aber er ging weiter. Auf eine ihm nicht bisher bekannte Art wurden die Gedanken unspürbar. So zwischen Halbbewußtheit und indifferenten Tagtraumbildern wandelnd, schien er zeitlos und wunschlos zu sein.
Ziemlich ermattet ging er am Abend am Nordrand der Chamarque zurück in das kleine Hotel, es ähnelte den Pensionen in den Einfamilienhäusern des Bergischen Landes. Dort war er zugleich schon wie ein Mitglied der Familie. Dennoch achteten die Leute auf Distanz, jene Achtung vor der persönlichen Freiheit, die vielleicht ein Resultat der Aufklärung war. Peter hatte es einmal irgendwo gelesen, daß dieses Volk von Philosophen erzogen worden war. Er fühlte sich wohl, aber auch existenziell allein, eine befreiende Art der Einsamkeit inmitten freundlicher Menschen. Am anderen Tag ging er in nördlicher Richtung davon. Die Luft war angenehm frisch. Er hielt die Hand heraus, bald hielt ein Wagen und nahm ihn mit. Der Fahrer war ein feiner Herr, das Auto ein ganz großer, sanft dahinschwebender Luxuswagen. Bald entwickelte sich ein Gespräch. Der Herr sagte:" Wohin wollen Sie gehen ?" Peter erwiderte:" Ich würde gerne zum Gard, eigentlich auch zu der alten römischen Wasserleitung." "Ah, sie meinen den Pont du Gard. Da kann ich Ihnen behilflich sein. Wenn ich einen kleinen Bogen fahre, kommen wir dort vorbei." "Das ist prima", entfuhr es Peter. Der Herr sprach weiter:" Ich bin selbst beinah ein Tourist in meiner Heimat geworden. Seit über zwölf Jahren lebe ich in Paris. Bei Nimes wohnte mein Vater. Dort steht seine alte Mühle. Ich fahre ein-, zweimal imJahr dorthin. Weiter nördlich im Zentral-Massiv steht noch ein sehr altes und sehr instabiles Haus meines Großvaters, des Vaters meiner Mutter." "Warum ist das Haus instabil ?" " Wenn Sie noch nicht dort gewesen waren,- nun, die armen Bauern dort bauten ihre Häuser aus kleinem Felsgeröll,- es sind selten große Steine dabei. Da sie arm waren, schichteten sie das Geröll kunstvoll zu Mauern aufeinander, ohne Verwendung von Zement, oder unter Verwendung von sehr wenig Zement. Es ist nicht selten, daß Häuser dort zusammenfallen." Peter war sehr interessiert. Deshalb frug er:" Leben Sie auch ab und zu dort ?" "Nein, ich besuche das Dorf manchmal. Es ist ein sterbendes Dorf. Die jungen Leute bleiben nicht dort, sie gehen in die größeren Städte, nach Toulouse und in andere. In Toulouse wird sehr viel Industrie angesiedelt, dort gibt es Arbeit.- Wissen Sie was, wenn Sie wollen, begleiten Sie mich dorthin." Peter zögerte nicht und antwortete:" Gern, es interessiert mich sehr."
Peter saß im Sand an der Atlantikküste bei Arcachon. Er ritzte Figuren mit einem Stock in den Sand, sprang hoch, lief ins Wasser, warf sich in die Wellenkämme hoch hinein, ließ sich aufwärts tragen, fiel mit den Schaumkronen hinab, tauchte unter den Wellenbergen hindurch, in einem Wellental wieder auf. Dann wieder hoch, hinauf, hinab. Schließlich war er im seichten Wasser, lag im Sand, stand auf und ging wieder zu seinem Stock und den eingeritzten Figuren zurück. Der nette Herr stand bei ihm und sprach: "Dieser Abstecher an die Küste paßt genau zur Jahreszeit. Aber wir werden doch morgen ins Zentral-Massiv fahren. Er sah Peters Zeichnung, betrachtete den nassen Körper und erzählte: " Gewiß ist genau so einmal in vorgeschichtlicher Zeit die Ästhetik in die Menschheit eingetreten. Heute haben wir die Kunst. Wir hatten große Werke, Sprache, Bild, Musik..." Peter frug: " Wie meinen Sie das: die Ästhetik hat genau so angefangen ?" "Wie Sie!" "Wie ich ?", frug Peter und staunte. Der Herr sprach weiter:"Das war die Lebensfreude, der spontane Akt, wie Ihr Wellenspiel und diese Figuren im Sand. Später hat man die Kunst in Werke eingeschlossen. Das war auch eine Errungenschaft, aber doch nur möglich, weil unterdessen Künstler hervorgebracht worden waren neben den gewöhnlichen Sterblichen." "Sie meinen die Arbeitsteilung ?" Der Herr erwiderte:" Es mag Zeiten gegeben haben, wo das Werk alles überstieg: Beethoven in seiner 3.Synphonie, daneben stand Napoleon. Aber auf Dauer wird nicht ohne Folgen Kunst produziert für triviale Menschen." Peter sah nachdenklich zu Boden. Der Herr sprach weiter: "Ihr Friedrich hat einmal geschrieben, das Dasein sei nur als ästhetisches gerecht- fertigt. Das war ein treuer deutscher Satz. Was sollte je gerechtfertigt werden müsssen oder sollen ?.. Aber besser ist es nicht zu sagen. Der eruptive Akt des Hierseins ist nicht zu überschreiten... Nun, es gibt auch ganz andere Auffassungen. Wir wollen nicht "Recht" behalten." Peter sagte spontan:" Das ist es vielleicht, - das habe ich so gefühlt, konnte es aber gar nicht sagen." Nun gingen die Beiden zum Auto zurück. Peter zog seine Jeanshose und ein dünnes Hemd über seine nasse Badehose. Dann fuhren sie los. Nach einigen Kilometern bog der Fahrer von der Straße ab und fuhr auf einen schmalen Weg, der in einen Kiefern- wald hineinführte. Dabei erklärte er:" Wir gelangen gleich auf einen Hügel, direkt am Meer. Bevor wir ins Gebirge fahren, möchte ich Ihnen etwas zeigen." Kurz darauf hielt der Herr an und ging mit Peter auf die Hügelkuppe. Dort standen keine Bäume und unten war das Meer zu sehen. Der Herr sah auf die Uhr und sagte:" Wir sind richtig, achten Sie auf diese kleine Einbuchtung, dort unten sehen Sie gleich etwas, das wie ein großer Fisch aussieht." Peter sah an die genannte Stelle, sah aber noch nichts. Dann auf einmal schwamm unter der Wasseroberfläche ein langer schmaler Schatten hervor. Er kam von irgendwo am Küstensaum, aber die Stelle, von der der Schatten kam, war nicht einzusehen. Peter frug: " Ist das ein Fisch, ein Walfisch oder so etweas ?". Der Herr sprach:" Sehen Sie einmal oben." Nun sah Peter eine längliche Ausbuchtung in der Mitte, die nach oben ragte. "Es ist ein U-boot, entfuhr es ihm". "Ja, es ist ein Atom-U-Boot, eines der modernsten der Welt. Es trägt mehrere Atomraketen, den potentiellen Tod ganzer Länder." Peter erschauerte bei diesen Worten. Der Herr sprach weiter:" Es wissen nur Eingeweihte, daß hier die U-Boote ausfahren." Damit wandte er sich zurück um zum Wagen zu gehen. Peter ging mit und dann fuhren sie weiter.
Während der Fahrt zum Zentralmassiv gingen Peter einige Merkwürdigkeiten durch den Kopf. Wieso wußte der freundliche feine Herr von der Stelle an der Küste, wo die Atom-Uboote hinaus- fuhren, obschon es nur Eingweihte wissen konnten. War er selbst ein Eingweihter ? Wenn er einer war, wieso und was tat er eigent- lich. Nach einigen Stunden gelangten sie an die Serpentinen, die ins Gebirge hinaufführten. Peter gab sich einen Ruck und fragte geradeheraus:" Wieso wußten Sie, daß die Atom-Uboote dort ausfuhren ?" Der Herr lächelte etwas und erwiderte:" Nun, es ist mein Beruf, das zu wissen". Peter guckte ihn fragend an. Der Herr sprach weiter:" Wenn Sie nicht aus Deutschland wären sondern ein junger Mann aus Paris, wüßten Sie, daß ich der Verteidigungs- minister der Französischen Republik bin." Peter war sprachlos. Er wandte sich zum Fenster weg um nicht mit offenem Mund den Herrn anzustarren. Dieser sprach weiter:" Es hat mir gefallen, daß Sie mich nicht erkannt haben. Ich bin gewissermaßen vorschriftswidrig unterwegs. Ich habe den ganzen Bewachertross in Perpignan gelassen. Man wird mich ganz schön zurechtweisen, wenn ich wieder zurück bin." Nach einigen weiteren Stunden gelangten sie in ein kleines sehr einsam gelegenes Dorf auf einer Art Hochebene. Es gab ringsumher einige sehr magere kleine Felder, die mit Geröllmäuerchen umrahmt waren. Peter frug: " Warum haben die Leute diese Mauern um die kleinen Felder aufgeschichtet ?" Der Herr antwortete: "Sie würden es lieber nicht machen müssen. Aber der Boden besteht fast ausschließlich aus diesem Felsgeröll. Es gibt nur eine sehr magere Erdkrume, die erst frei wird, wenn einige Zentimeter Geröll abgetragen sind." "Aber das ist ja eine schlimme Arbeit ?", entfuhr es Peter. Der Herr antwortete:" Das ist es, und bestimmt ist dieser Umstand auch einer der Gründe, warum die Dörfer aussterben." Nun waren sie an einem Häuschen angelangt. Eine alte Frau kam heraus und begrüßte die Beiden. Es wurde vereinbart, daß Peter über Nacht in einem der Häuschen schliefe, während der Herr in einem weiter unterhalb gelegenen kleinen Ort ein Hotelzimmer nehmen würde. Am anderen Tag wollten sie dann wieder zurückfahren. Ein Freund des Herrn kam ebenfalls aus der Tür und nahm die beiden Fremden mit ins Haus hinein. Dort stellte sich die Familie vor. Es waren nur noch drei Alte von ihr übrig geblieben: der Mann, seine Frau, beide über sechszig Jahre alt und die Schwester des Mannes, etwa im selben Alter. Die beiden Gäste erhielten Salat, Brot, Käse, Wein und Gemüse. Dann verabschiedete sich der Herr und ließ Peter bei den Alten zurück. Das Gespräch, welches sich nun entwickelte, hatte besonders Peters Heimatstadt zum Gegenstand. Der alte Mann war als Kriegsgefangener in Düsseldorf gewesen. Er sprach davon ohne Verbitterung, meinte aber, es wären nicht alle Gefangenen in Deutschland in einer so relativ guten Lage gewesen wie er selbst. Schließlich wurde Peter zu einem Haus gebracht, welches leer stand und ihm als Nachtplatz zugedacht war. Als er dann allein in dem großen dunklen Raum stand, aus den das Haus im Erdgeschoß bestand, erschrak er sehr. Der Raum war übersäät von den Kotkötteln der Ratten. Es mochten Dutzende dort irgendwo hausen. Der Raum war praktisch leer. Eine der Wände hatte den eingebauten Kamin. Es gab einen alten leeren Schrank, einen Stuhl und ein Drahtgestell, welches einmal als Liege gedacht war. Peter ging in das einzige Stockwerk hinauf. Dort waren drei kleinere Zimmer, alle im gleichen schlimmen Zustand wie der Raum unten. Da er aber sehr müde war, legte er sich in seiner Decke auf das Drahtgestell und versuchte zu schlafen. Er döste so vor sich hin,- dann raschelte es, dann raschelte es lauter, knackte und scharrte. Ohne Zweifwel waren die Ratten unterwegs. Peter schrak hoch, blieb minutenlang aufgestützt sitzen. Aber die Müdigkeit war stärker. Er legte sich wieder hin. Kaum lag er, wurde das Rascheln und Knacken wieder lauter. Wiederum schrak er hoch, die Geräusche erstarben. Er legte sich nochmals hin um bald darauf wieder hochzuschrecken. So ging das einige Male, bis er doch noch für eine längere Weile einschlief. Der große Raum wurde heller, da der Vollmond mehr und mehr in das Fenster zum Süden hineinschien. Peter wurde wach, konnte nicht mehr schlafen, und zog sich an. Er ging aus dem Haus hinaus. Das Dorf lag im Mondlicht ohne jegliches Lampenlicht wie schon seit Jahren ausgestorben. Die Hochebene mit ihren Geröllmauern und Felshügeln war ruhig und ohne Leben.- scheinbar. Peter hatte eine Weile so gestanden, als er einen Lichtschein am Horizont wahrnahm, der kam und ging, aber allmählich, nicht wie die Scheinwerfer von Autos etwa. Peter ging in die Richtung. Obgleich er sich fürchtete und sein Herz deutlich klopfen spürte, ging er in die Richtung des Lichtes. Es war ein weiter Weg. Nach etwa einer halben Stunde glaubte er, noch immer nicht näher an das auf und abschwellende Licht herangekommen zu sein. Er ging weiter. Schließlich kam er an einen hohen Zaun. Schilder wiesen auf etwas hin. Er konnte sie nicht lesen, denn das Mondlicht stand nicht auf den Vorderseiten der Schilder. Peter dachte aber, es sei hier ein Sperrgebiet. Er hatte einmal davon gehört, daß im Zentralmassiv die großen französischen Atomraketen stationiert sind. Nun glaubte er den Grund zu erkennen, warum der Herr, der ihn mitgenommen hatte und Verteidigungsminister war, hierhin gefahren war. Er dachte, vielleicht war er gar nicht zum Vergnügen hier, sondern aus dienstlichen Gründen. Peter erkannte nun einige flache Gebäude weit hinter dem Zaun. Es öffnete sich eine Tür, eine Gestalt kam, nein torkelte heraus und stürzte zu Boden. Eine weitere Gestalt kam heraus und stürzte ebenfalls zu Boden. Peter dachte, es sei dort etwas Schlimmes vorgefallen. Er kletterte über den Zaun, sah die elektrischen Drähte, aber er hatte sie schon berührt. Es geschah ihm aber nichts, es war keine Spannung da. Als er den Zaun überwunden hatte und sich dem Gebäude näherte, sah er neben einigen Lastwagen auch ein Auto, welches jenem glich, daß der Verteidigungsminister gefahren hatte. Peter ging zu der offenen Tür des Hauses, sah hinein und sah eine Wand voller beleuchteter Schalttafeln und Bildschirme. Auf einem der Schirme war ein Teil des Mondes abgebildet. Ein anderer Schirm zeigte eine Karte mit markierten Punkten. Nun sah er auf einem Sessel vor den Schalt- tafeln eine eingesunkene Gestalt. Peter ging näher und erschrak sehr. Dort saß der Verteidigungsminister und kämpfte mit der Ohnmacht. Aber er hatte Peter gesehen. "Mein Freund", sprach er ihn mit schwerer Stimme an: "Gas, es war Gas..." Dann sackte er zusammen. Peter suchte Wasser. Er fand aber nur eine halbvolle Weinflasche. Um den Bewußtlosen wiederzubeleben, schüttete er ihm etwas Wein ins Gesicht. Der Mann kam noch einmal zu sich und sprach:" Sehen Sie den Schlüssel unter dem roten Hebel dort.." Peter sah vor dem Stuhl am Schaltpult ein Schloß, in welchem ein Schlüssel steckte. Darüber war ein roter Hebel angebracht, der sich nach unten umstellen ließ. Der Herr kam wieder etwas zu sich und sagte:" Dort auf dem Mond sind gefährliche Dinge passiert. Etwas ist dort niedergegangen, - ein unbekannter Körper voller Viren. Unsere Astronauten sind sofort gestorben, als sie die Viren abbekamen. Eine unserer Großraketen soll dieses Gebiet auf dem Mond sterilisieren. Heute soll die Rakete gezündet werden, deshalb bin ich hier." Damit sackte er vom Stuhl herunter. Peter hielt ihn so gut er konnte und milderte den Sturz. Der Mann lag nun auf dem Boden. Peter rief:" Wachen Sie auf, wachen Sie auf.." Der Herr wurde noch einmal wach. Er sah Peter an und sprach:" Es ist keiner mehr wach von der Station. Die Rakete muß starten. Der Körper auf dem Mond bewegt sich innerhalb des Gebietes. Möglicherweise kommt er zur Erde hinab. Sehen Sie den Schlüssel. Die Startzeit ist 4 Uhr 10 gewesen. Es kann noch möglich sein, das Gebiet auf dem Mond zu treffen. Drehen sie den Schlüssel einmal herum und ziehen Sie dann den Hebel nach unten !" Peter tat, wie ihm gesagt worden war. Er drehte den Schlüssel herum. Sogleich sprang irgendwo eine Turbine an. Sie jaulte ohrenbetäubend. Dann riß er den Hebel nach unten. Die Turbine schien unter der Last langsamer zu laufen, dann schaltete sie ab. Auf einem der Bildschirme war ein leuchtender Punkt zu sehen. Eine Linie wurde projeziert, die auf dem Schirm mit der Mondabbildung wieder auftauchte und in einem bestimmten Winkel in ein Gebiet zielte, welches voller kleinerer Krater war. Möglichweise ein Gebiet auf einer Mondhochebene. Der Herr war noch einmal bewußtlos geworden. Peter schüttelte ihn und sagte:" Der Schlüssel ist umgedreht und der Hebel ist nach unten gestellt." Der Herr sprach unter größter Anstrengung:" Gut, dann wird es noch gelingen..." Damit kippte er von der Seite auf den Rücken, Peter dachte, er wäre tot. In Panik sprang er auf und rannte auf den Zaun zu, kletterte darüber und lief über die Geröllebene zum Dorf zurück. Von Osten kamen die ersten Lichtstreifen, mit denen sich die Dämmerung ankündigte.
Peter erwachte auf der kargen Wiese liegend vor dem Haus, in dem er vergeblich versucht hatte einzuschlafen. Er stand auf und ging zum Haus der Alten zurück. Dort stand der Wagen des Herrn, der ihn hierher mitgenommen hatte. Kurz darauf kam auch er selbst aus dem Haus heraus. Er sprach:" Sie wundern sich, daß wir hier schon alle versammelt sind. Aber wir müssen heute früh wieder weiter- fahren. Kommen Sie mit ?" "Gern", erwiderte Peter. Als sie bald darauf zusammen im Auto saßen, erzählte Peter von seinem Traum. Der Herr hörte sich alles interessiert an und sprach:" So unrealistisch war ihr Traum gar nicht, nur der Mond,- dort wird alles so sein wie bisher."
Peter war müde, bald vermischte sich sein Wachtraum mit dem Schlaf und wieder sah er sich in der Nacht vor dem Haus, in welchem er vergeblich versucht hatte einzuschlafen. In der Dämmerung vor dem kleinen Hügel am Haus stand ein alter Turm, nicht sehr hoch. Es war der Überrest eines Festungsbaus. Peter ging dort hin. Es war, als zöge ihn etwas in den Eingang hinein. Der Turm war oben aufgebrochen, das Dämmerlicht des Himmels fiel herein. Das alte Gemäuer war leer, aber in einer unscheinbaren Mulde gegenüber des Eingangs saß eine Gestalt. Peter erkannte an dem spitzen altindischen Hut die Sitharspielerin. Sie saß dort, sah ihn nicht und zupfte an den Saiten ihres Instruments. Peter blieb stehen. Verzaubert sah er sie an. Er wollte sich ihr nähern, aber er wagte es nicht auch nur zu atmen. Sie nahm ihn gar nicht wahr. Ihre braune kupferne Haut glänzte matt im Dämmerlicht. Ihr Busen hob sich leicht beim Atmen. Sie wiegte ihren Kopf etwas, legte ihn zur Seite, sah etwas am Hals ihrer Sithar nach. Peter vibrierte in einer Spannung aus Nähebedürfnis, Erregung und Hochstimmung. Er spürte, daß dieses wenig reale Ereignis keine Reaktion mehr würde benötigen. Die Situation war vollkommen wie je nur eine Kugel sein kann. Also blieb er stehen, rührte sich nicht und wünschte gar nichts mehr.
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