Fred Keil  Nr.204                          1996
   
          Die Erlebnisse des jungen Peter Korte in Frankreich
          
          Es war ein kleines, einstöckiges Haus. Unter dem Dach waren 
          Mansardenzimmerchen eingerichtet worden. Dort wohnte der 
          neunzehnjährige Peter K., ein schlanker, flinker und wacher 
          Junge, der den Urlaub seiner Eltern genutzt hatte um von zu 
          Hause auszuziehen in ein eigenes Zimmer. Das Haus stand an 
          einem schmalen Weg, der sich auf einer Länge von 600 Metern 
          erstreckte und eine Straße mit einer anderen verband. Zur einen 
          Seite des Weges standen vereinzelt Häuser, wuchsen Büsche und 
          einige Bäume. Die andere Seite des Weges führte ein Stück weit 
          an Bahngleisen entlang. Der Ort selbst war klein, kein Dorf mehr 
          aber keine Stadt, sondern ein Stadtteil, der irgendwann einmal 
          von der Verwaltung den zwei Kleinstadten im Tal der Wupper zuge-
          ordnet worden war. Der junge Mann arbeitete in einer Metallfabrik
          in jenem kleinen Ort. Er hatte fast schwarze Haare,
          braune Augen und feingliedrige Hände. Er scherzte gerne und 
          neigte manchmal zu frechen Witzen, die ihm aber keiner krumm nahm. 
          Die Mehrzahl der Leute in seiner Umgebung mochten ihn gern. Er 
          wußte das und war deshalb wohl auch manchmal recht keck. Er 
          arbeitete gern und erfand oft etwas ausgefallen Technisches, 
          neigte aber auch zum Tagträumen und Nachdenken. Letzteres 
          befremdete den einen oder anderen ohne jedoch eine nachteilige 
          Konsequenz für ihn zur Folge zu haben. Wenige wußten, daß in ihm 
          eine Umorientierung sich abspielte, die ihn vom handwerklich 
          Praktischen, in dem er sein bisheriges Dasein gelebt hatte, zu 
          geistigen Gefilden brachte, in welchen die großen und letzten 
          Fragen sich aufwarfen, die die Menschen zuweilen beschäftigen. 
          Er war nicht bestrebt, diese Wandlung Jedermann sichtbar zu 
          machen. Er wußte, daß Manchen dergleichen befremden würde. Auch 
          mochte er nach wie vor seine geliebten Materialien: Holz, Eisen, 
          Leder, Stahl Leinwand, Farbe und Papier.
      
          Es war Nacht geworden über dem Häuschen. Peter saß auf seinem 
          Stuhl, setzte den Kopfhörer auf und hörte Beethoven, Symphonie 
          Nr.3, jene, die Napoleon gewidmet war. Das wußte er nicht,- 
          stand an der geöffneten Dachluke und sah zu dem verhangenen 
          Nachthimmel hinauf. Er wurde ganz leicht und schwingend, und 
          zwischendurch ein Schock, klein
          wie ein Schreck. Da wollte er als Vogel in die Nacht hinaus oder 
          in ein Mädchenhaar hinein sich verweben, dunkles langes Haar, 
          duftend nach Frau. Aber dann wieder nur dieses Dickicht großer 
          Gerüste aus Stahl, der Stahl vergangener Jahrhunderte, der 
          Aufbruch, den er hörte und nicht begriff; den er fühlte als 
          Aufbruch, der sein Ausbruch ist.
          Noch war es nicht soweit.
          Er war an einem Novemberabend aus dem Fabriktor hinausgegangen, 
          die kleine Nebenstraße hinab, über den Spielplatz. Es war 
          dämmerig geworden als er in seinem Zimmer unter dem Dachstuhl 
          ankam. Dort hatte er eine kleine Elektroplatte, auf der er sich 
          Spiegeleier briet, dazu einige Möhren kaute und Kaffee trank. 
          Der Ölofen zündete nach einigen Versuchen endlich, er räumte 
          sein Geschirr zusammen, machte den winzigen rechteckigen Tisch 
          vor dem alten Schlafsofa frei, setzte sich in den leichten Korb-
          sessel und döste vor sich hin. So verging eine halbe Stunde, 
          dann eine weitere. Schließlich klingelte es. Peter hastete die 
          Treppe hinunter und fand an der Haustür seinen Freund Robert. 
          Der war ebenfalls Arbeiter in einer Fabrik, drei Jahre älter als 
          Peter, ein kluger aber wirr denkender junger Mann, der klein 
          gewachsen war, schon jetzt die Bildung einer Glatze zeigte,
          zur See gefahren war als Küchenjunge und nie davon lassen konnte 
          zu trinken, so lange das verdiente Geld dazu reichte.
          Peter hatte eine Flasche Wisky in seiner Kommode neben dem Tisch.
          Er hatte keinen Kühlschrank, in jenen Jahren bei den ganz kleinen 
          Leuten nichts ungewöhnliches. Sie rauchten, tranken, erzählten 
          dies und das. Peters Gedanken schweiften ab, denn die Geschichten 
          von der Arbeit, Roberts Mutter, Roberts Freundin, seiner Bastelei 
          mit Radioröhren waren nicht aufregend genug, Peters leicht 
          beschwipste Aufmerksamkeit dabei zu behalten. 
          Gegen 23.OO Uhr verließ Robert das Zimmer und ging nach Hause.
          Peter saß halb müde, halb benommen in dem Korbsessel und suchte 
          nach einem Gedanken, den er irgendwann im Laufe des Abends 
          verloren hatte. Unterdessen war es draußen sternenklar geworden. 
          Er stellte das kleine Dachfenster auf und sah hinauf, sah einige 
          Sterne und am Horizont die wuscheligen Bergkuppen der anderen 
          Talseite. Darüber aber der schwarze Nachthimmel mit seinen 
          Sternenbildern und dem großen Wagen. Sah und ging hinaus in ein 
          Feld aus dunklem Stoff, das ihn mitzog an den Rand eines 
          glitzernden Horizontes: Paris, seine Welt zwischen Erwachen und 
          Bildsein, Gemäldewerden, statisch sich aufzulösen in den Raum der 
          Sterne. Wohl fror er unter den Gerüsten der obenlaufenden 
          Strecken der Metro und lief durch die Tempel vergangener Wunsch-
          träume und Enttäuschungen,- kaum war es denkbar, daß diese Stadt 
          nicht enttäuschte und doch Magnet blieb,- auch als der Morgen 
          graute auf der Treppe der Sacre Ceur.
          Nun, er war allein, nach einer Irrfahrt in allerlei freundlich
          bereit gestellten Autos, war er allein. Er sah hier und da von 
          fern ein Gesicht, welches bald zur Frau werden würde, nun aber, 
          aus der Distanz nur ein Wunschbild war, welches die Sehnsucht 
          scheinbar aufsog und hundertfach zurückwarf in die weiten, 
          wärmenden Augen.
          An diesem Tag, einem Bruchstück alter Erinnerung, war er vierzehn 
          Jahre alt geworden und mit einem lockenköpfigen Mädchen in den
          Wald gegangen, hatte ihre Hand gehalten und die seltsame Veränder-
          ung des Frühjahrs bemerkt, welches den aus sich strahlenden und
          unerfüllten jungen Seelen sich wandelnd offenlegt. Einige Worte,
          unbeholfen und kaum die langsam erwachenden männlichen Wünsche
          enthüllend, war er sich selbst doch Kind und Weiser, aber noch
          lange kein Mann. Sie blickte ihn ernst und wissend an, fasziniert
          von diesem Wachstum, aber sie war reifer und weiter, halb schon 
          Frau, gehörte in die halb oder zu einem Viertel weiter fortge-
          schrittene Generation.
          Es gab auf dem Pflaster der Großstadt nicht jene sanften Gestalten,
          die noch genug Mädchen, schon genug Frau gewesen wären für diesen
          träumenden Jungen, der beides nicht war: Kind oder Mann. 
          Aber der Obelisk am Place de la Concorde und die alten Treppen
          nahmen ihn auf als einer der Ihren: träumend und zeitlos, dazu
          bestimmt ein Denkmal zu sein, einer suchenden Jugend.
          Dann würde er weiterschreiten, alles vergessen, sich umsehen und
          andere Orte finden und... und dieses Land vergessen.
          Ein uraltes Holzhaus, zugleich Hotel, mit eisernen Balkonen und
          Dachgittern, einem spitzen Giebel an einer Seite und einer
          hölzernen Veranda- im Morgennebel, irgendwo am Ortseingang eines
          kleinen Nestes in Mittelfrankreich. Am Abend war er hierherge-
          kommen, aus einem Auto ausgestiegen, das ihn mitgenommen hatte.
          Im Entree hatte eine freundliche alte Dame mit munteren Augen ihn
          aufgenommen und eines der schönsten Zimmer ihm gegeben. Sie
          erzählte und gestikulierte, da sie sah, daß er ihre Sprache nicht
          verstand. Er verstand sie trotzdem und sie zeigte dies und
          das: den Kamin, die alten Bilder. Er sah alte Bilder, die Blumen-
          tapeten, Spitzendeckchen, überall uralte Möbel und Tischchen. Es 
          schien, als wäre er seit Jahren der erste und einzige Gast 
          gewesen. Die Fensterflügel, bis zum Boden reichend, verbargen 
          die Nacht. Am Morgen als die ersten Vögel zu hören waren, öffnete 
          er diese Flügel und sah hinaus auf Felder und Baumreihen, eine 
          Ebene mit leicht welligen Erhebungen, voller Dunst und Tau.
          Die alte Dame kam herauf und brachte ihm Croissons, Weisbrot, 
          Butter, Marmelade und Milchkaffee.
          Eine Stunde später verabschiedete er sich von der netten alten 
          Dame, die ihn an seine Großmutter erinnert hatte, deren Vorfahren 
          einmal aus Frankreich nach Deutschland gezogen waren.
          Ein frischer Morgen in Paris. Peter fror etwas, ging mit müden 
          steifen Beinen zum Eiffelturm, stieg in den Aufzug und fuhr zur 
          großen Plattform hinauf. Von dort aus ging er in den kleinen 
          Aufzug und fuhr damit hinauf zur letzten Plattform unter der 
          Spitze des Turms. Er bestellte sich einen Pernod, rauchte eine 
          schwarze Zigarette und sah hinaus. Weit am Horizont, leicht 
          dunstig standen die Vorstadthäuser, die Blöcke und Wolkenkratzer. 
          Der Horizont erschien gekrümmt. Der Himmel wurde langsam 
          mittäglich hell. Im Vordergrund die Dächer der alten Stadt Paris, 
          die Seine, die Brücken, der Bogen Napoleons. Unten auf der Ile 
          de Cite wohnte ein alter weiser Mann, den sein Unglück 
          mitfühlend gemacht hatte. Er war in Berlin gewesen und hatte 
          dort vor vielen Jahren Philosophie studiert. Peter fühlte 
          merkwürdige Regungen, wenn er an ihn dachte. Er wollte ihm etwas 
          mitteilen und zeigen,- vielleicht sogar diese Stadt, die nicht 
          Peters Stadt war. Und dennoch, - es schien ihm, als wäre dieser 
          alte Mann ein Fremder in seiner Stadt, obwohl er und nicht Peter 
          in den Cafes am Saint Germain des pres gesessen hatte und zur 
          Figur der Weltliteratur geworden war, - der aber vielleicht auch 
          in aller Welt einsam stand und groß. Peter fühlte sich sanft wie 
          die Sonne und fein wie das Glas des Himmels, voller Glück oder 
          einem dem Ähnlichen Unbekannten. Er wollte dem alten Mann die 
          Welt zeigen, seine Welt, von der er glaubte, sie sei eine 
          Sonnenwelt, die ein Licht verbreiten müßte;- so hitzig wohl 
          konnte seine innere Welt sein. Wenn aber einer allein  mit sich 
          war, so Peter und nicht der alte Mann inmitten seiner Freunde, 
          Studenten und seines Ruhmes,- jeder fast kannte ihn. 
          Starke Empfindungen färben aber eine innere Welt ganz, aus 
          Schatten wird Licht, so hell, daß jedes andere Wesen erscheint 
          wie ein Schattenriß. Er spürte das irgendwie, zog an der starken 
          Zigarette, ließ seine Sinne schwammig werden vom Alkohol und 
          sah glasklar sich sitzen auf dem hohen Turm, sich als das Auge, 
          welches alles sah.
          Am Nachmittag schlenderte er die Champs Elysee hinauf, kam zu 
          den Bistros kurz vor dem Bogen, als sich ein Arm in seinen 
          rechten einhakte und wie selbstverständlich mit ihm weiterging. 
          Es war der Arm eines Mädchens in seinem Alter. Sie war etwas 
          kleiner als er, schlank, weich, mit langen krausen, fast 
          schwarzen Haaren und dunkelbraunen Augen. Peter erschrak ein 
          wenig, ließ aber alles wie es lief und lächelte sie an. Sie 
          lächelte zurück ging mit ihm und zeigte einige Augenblicke 
          später mit ihrem rechten Arm zu einer Sitzgruppe hin, bei der 
          sie angelangt waren. Sie setzen sich und bestellten Expressos. 
          Sie frug ihn einiges, aber er vestand fast nichts. Nachdem er 
          ihr wenigstens sein Nichtverstehen hatte übermitteln können, 
          zuckte sie mit den Schultern, zeigte zum hellblauen Himmel 
          hinauf, als ob sie sagen wollte: was solls, es ist herrliches 
          Wetter, das reicht erst einmal. Peter überlegte, wie er sich 
          verständigen könnte, und kam auf den Einfall, sein Schreibheft 
          zu benutzen um ihr Zeichnungen zu machen, mit denen er sich 
          mitteilen wollte. Das gelang recht gut. Sie ließ sich das Heft
          geben und zeichnete ebenfalls mit. So ging es hin und her. Sie 
          rückte näher, schließlich sagte sie, sie müsse gehen, gab Peter 
          einen Wangenkuß und verschwand leicht und anzusehen wie ein 
          flatternder Falter zwischen den Bäumen am Alleenrand. Peter sah 
          ihr nach, etwas enttäuscht, mit dem Gefühl, nicht nur von ihr 
          sondern überhaupt verlassen zu sein. Zum ersten Mal fühlte er 
          sich in dieser Stadt allein. Bisher war er angefüllt gewesen 
          mit sich selbst, nun war etwas in ihm leer geworden, er hatte 
          etwas verloren, von dem er nichts wußte, als das es eine
          Leere hinterließ. Sie war aber so leicht und unbeschwert gegangen, 
          als ob sie ihn sowieso nicht aus den Augen verlieren könnte,- 
          so kam es ihm vor. Er würde sie bald wiedersehen können, dachte 
          und hoffte er für sich.
          Am Abend, als die Dämmerung einsetzte, fuhr Peter mit der Metro 
          zum westlichen Stadtrand von Paris, wo er in einer Jugendher-
          berge übernachtete. Früh am anderen Morgen fuhr er ins Stadt-
          zentrum zurück. Es war noch etwas neblig, die Sonne brach 
          allmählich warm durch den Dunst hindurch. Es roch nach kleinen 
          Bäckereien, Markt, Blumen und Auspuffgasen, eben nach Paris, 
          als er in den Jardin du Luxemburg ging und ohne Ziel dahin-
          schlenderte. Zwischen den alten Steinfiguren, den schlanken 
          adeligen Damen der Vergangenheit, sah er vor sich, etwa ein-
          hundert Meter weit voraus eine schlanke Mädchengestalt. Er lief
          ihr nach, da er glaubte Michele vor sich zu haben, jenes Mädchen 
          vom Vortag, mit der er am Chanps Elysee gesessen hatte. Als er 
          näher kam, schien sie weiter von ihm fortgelaufen zu sein, sie 
          schien einen flatternden Lauf zu haben,- sie war ein Falter. 
          Er hatte einen großen dunklen Falter gesehen und ihn für das 
          Mädchen gehalten. Er mußte über sich lächeln, steuerte auf 
          eine Bank zu, und mit leicht hastig gewordener Atmung setzte er 
          sich hin. -
          Plötzlich hörte er Trommeln und Marschmusik. Er sah sich um. Aus 
          der Richtung des Palais kamen Soldaten marschiert. Sie trugen 
          alte klassisch römische Uniformen, es waren die Soldaten der 
          Revolution. Sie maschierten einige Dutzend Meter vor ihm über 
          einen anderen Weg an ihm vorbei. Dann inmitten der Truppen ein 
          Reiter mit Dreispitz. Napoleon ritt in Begleitung seiner 
          Gardetruppen durch den Jardin du Luxemburg.
          Am Abend lief Peter durch die Gassen des Quatier Latin hinauf bis
          zu dem alten Viertel am Ende der Rue Mouffetard. Je später es 
          wurde, umso weniger Menschen traf er in den schmalen Gassen, die 
          nur teilweise und auch nur schwach beleuchtet waren. Aus einer 
          Nische eines Hause schritt eine Gestalt heraus, gerade in dem 
          Moment als er an ihr vorbei war. Er hatte das Gefühl, diese 
          Gestalt wolle sich auf ihn  stürzen. Er erschrak sehr, wurde 
          bleich und kalt und lief davon. Die Gestalt rief etwas, viel-
          leicht galt es ihm. Er rannte so schnell er konnte den Berg hinab 
          zum Boulevard St.Michel, wo mehr Licht war und noch einige Autos 
          fuhren. Hier fühlte er sich sicherer. Aber er war nun ziellos 
          geworden. Er ging zur Seine und dort an der Mauer des oberen 
          Kais entlang bis zum Place de la Concorde. Auch hier fuhren noch 
          einige Autos. Er sah auf den Obelisken und setzte sich auf eine 
          der Steinbrüstungen, die den Platz teilweise umrahmen.  Er wurde 
          ruhiger. Plötzlich hörte er Stimmen hinter der Steinballustrade. 
          Er sah zwei Gestalten, die miteinander sprachen. Seltsamerweise 
          verstand er, was sie sagten. Die eine Gestalt trug einen Mantel 
          und offenbar eine langhaarige Zopffigur. Aber es war eine gebeugte 
          alte Gestalt, eine Männerfigur, die nun zu der anderen
          sprach:" Gewiß Mon General, Sie werden auch in Dresden alles 
          vorfinden, wie es bestellt wurde. Aber was wird nach Polen, wenn 
          der Arm ihrer Fürsten die Truppen nicht mehr zusammenhält?" 
          "Oh, Sie alter Mann, wir werden sie raisonnieren; und wenn nur 
          die Hälfte bis Wilna zusammenbleiben, so soll das genügen um 
          "ihm" seine Armee zu nehmen. Wir werden im nächsten Frühjahr in 
          Petersburg und Moskau sein !"
          Peter stand starr vor Staunen. Er sah nach hinten auf den Platz 
          und fand ihn verändert vor. Hinter der Ballustrade sprach ein 
          alter Würdenträger oder Vertrauter mit Napoleon über den 
          bevorstehenden Feldzug gegen Rußland. "Sonderbare Stadt", dachte 
          Peter:" die mich so in eine Vision der Vergangenheit entrücken 
          lassen kann",-- und seine Furcht war vollkommen verschwunden.
          Er stand und horchte ins Dunkel, aber nun sah und hörte er nichts
          mehr. Er wartete, Minute um Minute, er wartete immer weiter, bis
          die erste Dämmerung sich ankündigte und vereinzelte Autos wieder
          über den Platz fuhren. Müde, mit bleiernen Schritten und steifen
          Gliedern ging er zur Metro und fuhr hinaus vor die Stadt.





          Die Vormittagssonne schien warm, aber noch frisch vom Frühling 
          auf die Nationalstraße südlich von Orleans. Peter stand an ein
          steinernes Ortsschild gelehnt und sah über die Wiesen und Felder
          hinaus zu den Baumreihen, die überall größere Feldstücke unter-
          teilten. Aber es waren niedrigere Bäume als im Norden, so 
          erschien es ihm. Ab und zu streckte er die Hand heraus um von 
          einem Auto mitgenommen zu werden. Nach einer Weile hielt eine 
          hellgraue Ente. Eine schöne blonde Frau hielt ihm die Beifahrer-
          tür auf und lud ihn ein mitzufahren. Peter bedankte sich und sah 
          die Frau, die etwa dreißig Jahre alt war verwundert an. Sie hatte 
          ein feines, sehr intellektuelles Gesicht und eine volle Frauen-
          figur, soweit das im Wagen sichtbar wurde. Sie spürte Peters 
          Blick und lächelte. Um ihn von einer möglicherweise aufkommenden 
          Verlegenheit fernzuhalten begann sie:" Wohin möchten Sie fahren, 
          junger Mann ?" Peter antwortete:" Zum Süden, ich möchte zur 
          Mittelmeerküste." "So weit fahre ich nicht, aber Sie können 
          doch einhundertzwanzig Kilometer näher an ihr Ziel herankommen. 
          Wollen Sie schnell zum Meer gelangen ?" "Ich habe es nicht eilig", 
          antwortete Peter und fuhr fort:" wenn ich in drei oder vier Tagen 
          dort bin, wäre das schon gut, aber es macht auch nichts, wenn es 
          länger dauert." Unterdessen kamen sie zu einer kleinen Ortschaft. 
          Sie fuhren hindurch. Die Fahrerin frug nun:" Wenn Sie Zeit haben, 
          so möchte ich Ihnen meinen Onkel vorstellen, er wohnt nicht weit 
          von hier. Wir könnten bei ihm essen und am Nachmittag weiter 
          fahren." Erfreut sagte Peter:" Sehr gern, ich lerne gerne die 
          Leute kennen, die im Lande leben. Eigentlich ist der Grund meiner 
          Reise, das Land und die Leute kennenzulernen."
          Zum Landhaus führte eine kleine Allee von Obstbäumen. Vor dem 
          Haus wuchsen Blumen und Ranken. Die Ente holperte den Weg zu dem
          Haus hin, sie stiegen aus. Sogleich kam ein etwa fünfundfünfzig-
          jähriger Franzose aus dem Eingang des Hauses, ging auf die Ente 
          zu und begrüßte die Beiden. Sie gingen ins Haus hinein. Peter 
          wurde gebeten an einem großen, schweren Tisch Platz zu nehmen, 
          der im ersten großen Raum stand, der gleich hinter der Tür lag. 
          Er war Diele und Speisesaal in einem. Die Frau des Onkels, eine 
          pummelige kleine Französin brachte Schalen mit Obst, Brot und 
          Wurst. Dazu gab es Mineralwasser, Milchcafe und Weißwein. Später 
          kamen Salate und Käse hinzu. Während des Essens begann der Onkel 
          ein Gespräch. Er frug Peter nach seiner Heimatstadt, was er 
          vorhabe, wo er hin wolle. Peter beantwortete alles und erzählte 
          dann von seiner merkwürdigen Begegnung mit Napoleon im nächt-
          lichen Paris. Der Onkel wunderte sich nicht sehr. Er sprach:
          "Wir denken oft, daß Napoleon noch lebt. Sehen Sie, überall in 
          Europa hat sich die Revolution durchgesetzt. Auch Preußen,- aber 
          Sie sind kein Preuße sondern Rheinländer ?!" Peter bejahte. Der 
          Onkel fuhr fort: "Nachdem auch Napoleon der Dritte von den 
          Preußen geschlagen worden war, gab es diese Restauration, die 
          ohne den ersten Weltkrieg vielleicht von den Völkern Europas ab-
          geschüttelt worden wäre. Aber es mußten noch zwei große Tragödien 
          über uns hereinbrechen. Nun, bald sind alle Europäer in einer 
          Republik vereint, vielleicht auch der Osten..." Peter hörte auf-
          merksam zu, er fragte dann den Gastgeber:" Warum zog Napoleon 
          nach Rußland ?" Der Gastgeber antwortete:" Die Geschichte sagt, 
          Napoleon mußte die Kontinentalsperre durchhalten und auch in
          Rußland durchsetzen. Allerdings könnten auch andere Beweggründe 
          mitgespielt haben. Sehen Sie, Europa wurde um 1812 langsam 
          erwachsen. Der französische Einfluß begann überall in dem Sinne 
          Früchte zu zeigen, daß die Völker sich befreien wollten. Aber 
          die deutsche Befreiung konnte natürlich nicht unter französischer 
          Besatzung erfolgen. Tragisch ist vielleicht der Umweg über den 
          Nationalismus. Er hat alles verbogen. Die feudalen Herrschaften 
          nutzten die Freiheitsbestrebungen um mit der Vertreibung der 
          Franzosen auch die bürgerliche Republik zu verhindern. Schließ-
          lich die großen Kriege... Das alles lag schon gewissermaßen 1812 
          in der Luft. Napoleon wollte die aufkommenden Probleme mit 
          Angriff lösen. Bestimmt sollte der große Zug gegen Rußland die 
          Verbündeten zusammenschweißen. Und, -ich denke manchmal, - war 
          Paris nicht zu langweilig geworden ?" "Nehmen Sie meine Onkel 
          nicht zu ernst", schaltete sich die junge Frau ein. Wenn es um 
          Politik geht, ist er ein bißchen..." Sie zeigte mit der Hand
          an ihre Stirn und deutete an, sie hielte ihn für ein bißchen 
          verrückt. Der hatte das wohl bemerkt und lachte über ihre Geste. 
          Er griff zur Weinflasche unf goß Peter Wein ins Glas. Nach einer 
          Weile begann er:" Wenn Sie in die Provence kommen, dann sehen Sie 
          sich Tarascon an. Ich habe da etwas für Sie." Er stand auf, ging 
          zu einem Schrank, holte ein kleines Büchlein heraus und reichte 
          es Peter. "Nehmen Sie das mit, es ist der Tartarin aus Tarascon 
          von Alphonse Dudet. Sie werden auf Ihrer Reise Vieles wiederer-
          kennen." Peter bedankte sich und steckte das Büchlein ein.
          Am Abend ging Peter mit der schönen Frau unter den Obstbäumen 
          spazieren. Da er sehr nachdenklich war, frug ihn seine 
          Begleiterin:" Was geht Dir durch den Kopf, mein Freund?" Peter 
          antwortete:" Wie ist es möglich, daß Napoleon auf St. Helena 
          nicht von seinen Franzosen befreit worden war ? Eine so große 
          Nation, und er wurde nicht befreit." Die junge Frau lachte:" Du 
          hast Gedanken. Fast niemad denkt mehr daran, und Du willst
          Napoleon befreien." Peter antwortete:" Mich beschäftigt die 
          Frage, was wäre geschehen, wenn er befreit worden wäre ?" Die 
          Frau sagte:" Sieh dieses seltsame Licht zwischen den Bäumen, 
          jetzt wo die Dämmerung in die Nacht übergeht." Peter ging nun 
          schweigend neben ihr. Der Duft der Landschaft wurde ihm bewußt, 
          fruchtig, erdig und würzig. Schweigend gingen sie nach einer 
          Weile zum Haus zurück. Zur Nacht wurde ihm in einem kleinen 
          Zimmer ein Bett gezeigt. Er legte sich hin und dachte nach. Es 
          war ihm unmöglich einzuschlafen. Nachdem er eine Weile gelegen 
          hatte, stand er leise auf und ging in den Obstgarten hinab. Unter 
          den Bäumen stand an der Seite des Hauses eine Bank. Er war 
          verwundert und etwas erschrocken: Dort saß der Onkel und sah in 
          die Nacht hinaus. Als er Peter kommen sah, sprach er zu ihm:" 
          Setz Dich, junger Mann. Du kannst nicht schlafen ?!" Peter ging 
          auf die Bank zu und setze sich neben den Mann und sagte:
          "Ich bin zu wach, außerdem..." Der Mann setzte fort:" Napoleon 
          geht Dir durch den Kopf !" "Ja." erwiderte Peter. "Wir sollten 
          ihn von dieser elenden Insel herunterholen, das meinst Du ?!" 
          Peter war etwas erstaunt und sagte stolpernd:" Wenn wir in 
          seiner Zeit leben könnten, sollten wir es tun." Der Mann 
          sprach:" Es gibt mehr Verrückte, als Du Dir träumen läßt. Komm 
          mit! "  Damit erhob er sich und ging auf einen Stall zu, in dem 
          Pferde standen. Er warf Sattelzeug über zwei Pferde und forderte 
          Peter auf, eines davon zu besteigen. Peter zögerte, stieg aber 
          dann auf. Nun ritten beide aus dem Hof heraus auf die Straße. 
          Seltsamerweise war es eine Straße, die mit festem Lehm stabil-
          isiert war. Peter dachte, er sei nun in der Vergangenheit ange-
          langt, es gab keine Ortsschilder mehr, keine Masten. Der Mann 
          ritt vor, Peter ritt hinterher. Sie ritten einige Stunden lang. 
          Peter wurde steif im Sattel, sein Gesäß schmerzte. Endlich 
          gelangten sie an einen kleinen Ort. Von Osten kam die Dämmerung 
          herauf. Nun sah er, daß sie an der Küste angelangt waren. Der 
          Mann ritt deben Peter, zeigte auf die alten Häuser
          und den Hafen und sprach:" Das ist Toulon, junger Mann. Von hier 
          aus werden wir mit einem Schiff zu St. Helena fahren." "Aber geht 
          das so einfach ?", frug Peter verwundert. "Einfach nicht, aber 
          dem Kapitän eines Linienschiffes werden sie bestimmt keinen 
          Wunsch versagen." Peter sah in der heraufkommenden Dämmerung, 
          daß der Onkel jener schönen Frau eine alte Kapitänsuniform trug. 
          Nu sah er an sich herab, er trug auch eine Uniform. Nun, so 
          dachte er, dann träume ich eben, es ist bisher ein schöner Traum. 
          Wie er so nachdachte, hörte er den Onkel sagen: "Nu los, junger 
          Seemann, unser Schiff wartet schon." Sie ritten zu einem Wachhaus, 
          stiegen herunter von den Pferden. Ein Matrose, der Wache hatte, 
          grüßte beide. Sie gingen zum Kai direkt auf einen Viermaster zu, 
          der unter vollen Segeln stand. Offensichtlich war der Mann 
          bereits erwartet worden. Er ging an Deck, rief einige Offiziere 
          und erteilte Befehle. Peter stand dabei und staunte sehr.
          Die Anker wurden gelichtet, die Segel blähten sich, das Schiff 
          nahm Fahrt auf. 
          Die Insel St.Helena, auf die Napoleon verbannt worden war, hatte
          eine unverwechselbare Silhouette. Daher war das Erstaunen des
          Onkels verständlich, als er nach mehrtägiger Schiffsreise am 
          Horizont nicht die vertraute Silhouette sah, sondern eine andere. 
          Aber es war nicht möglich, eine andere Insel als St.Helena vor 
          sich zu haben, die Berechnungen stimmten. Peter sah die Auf-
          regung des alten Mannes und frug ihn deshalb:" Wieso sind wir 
          denn nicht dort angelangt, wo wir sein sollten ?" Der Onkel 
          wollte etwas erwidern, aber noch bevor er etwas sagen konnte, 
          grollte der Donner von Geschützsalven über sie hinweg. Geschosse 
          sahen sie nicht. Nun kam ein sehr großes Kriegsschiff auf sie zu 
          gelaufen. Der Onkel sagte, es sei ein britisches Linienschiff. 
          Dieses Schiff feuerte nun eine volle Breitseite gegen die 
          Silhouette der Insel. Etwas später kam ein Ruderboot zur Back-
          bortseite und ein britischer Offizier betrat das Deck. Er begann 
          sogleich:" Sie sind in britischem Hoheitsgewässer, Sie müssen
          sofort zurücksegeln, andernfalls müssen wir Ihr Schiff 
          beschlagnahmen." Dabei machte der Offizier keinen sehr sicheren 
          Eindruck, er schien von irgendetwas gehetzt zu sein. Nun krachte 
          es auf einmal fürchterlich. Es schien, als habe eine ganze Seite 
          der Insel auf einmal Feuer gespien. Die Silhouette verschwand im 
          Pulverdampf. Es krachte in der Nähe, alles wurde in Rauch 
          gehüllt. Als sich die Schwaden etwas verzogen hatten, sahen 
          die Seeleute des Onkels, Peter und der britische Offizier, wie 
          das große britische Linienschiff versank. Es versanken die 
          Trümmer, die noch von ihm übrig geblieben waren. Nun senkte der 
          britische Offizier seinen Blick und sprach:" Ich liefere mich 
          ihrer Nation aus. Respektieren Sie bitte die Flagge Seiner 
          Majestät und mein Offizierspatent."Der Onkel war verblüfft und 
          geleitete den Offizier in seine Kapitänskajüte. Peter durfte 
          mitgehen. "Nun erzählen Sie uns, was hier geschieht!", forderte 
          der Onkel den Engländer auf. Der begann:" Napoleon hat drei
          französische Linienschiffe hierher beordert. Diese haben unsere 
          Bewachungsschiffe versenkt, nur unser Schiff konnte sich zunächst 
          retten. An Bord war der Inselgouveneur und sein Stab. Unsere 
          Flotte wurde um Hilfe ersucht, aber sie steht mit fünf Linien-
          schiffen in der Karibik im Kampf mit der spanischen Armada und 
          die andere großen Schiffe befinden sich auf dem Weg von 
          Schottland nach hier." Der Onkel frug nun: "Was ist mit der 
          Insel geschehen, ich erkenne sie gar nicht wieder ?" Der 
          Offizier antwortete:" Das waren Napoleons Mineure. Sie haben 
          einen neuen, sehr gefährlichen Sprengstoff erhalten. Sie proben 
          für ihre nächste Schlacht auf dem Kontinent." "Napoleon kommt 
          zurück ?", fragte der Onkel. "Ja, und wir werden ihn nicht 
          aufhalten können." Der Onkel war sehr erfreut über diese 
          Nachricht. Umgehend gab er Befehle um die Heimreise anzutreten. 
          Offensichtlich war seine Mitwirkung nicht nötig, und zu bleiben 
          barg die Gefahr, bei den Spreng,- und Schießübungen das gleiche 
          Schicksal zu erleiden wie das englische Linienenschiff.
          Der Hafen von Toulon wurde ohne weitere Zwischenfälle erreicht.
          Peter verabschiedete sich von dem Onkel der schönen Frau und ging
          am frühen Morgen in Richtung Aix-en-Provence. Von dort wollte er
          die alte Römerstadt Arles besuchen. Zunächst war die Luft noch 
          frisch und würzig. Das Krüppelgewächs der ebenen Landschaft 
          duftete wie ein großer Kräutergarten. Die flachen hellen Häuser 
          mit ihren hellroten Ziegeln lagen veschlafen zwischen den Baum-
          reihen und Gemüsefeldern, die hier und dort mit künstlicher 
          Bewässerung am Leben erhalten wurden. Die Telefonmasten schienen 
          langsam mitzuwandern. Wie er sie so gelegentlich betrachtete, 
          wurde ihm klar, daß er wieder in der Gegenwart angekommen war. 
          Der alte Hafen war längst hinter dem Horizont verschwunden, 
          einige Autos fuhren ihm entgegen oder kamen hinter ihm heran und 
          fuhren vorbei. Nun wurde es warm, dann immer wärmer und staubiger. 
          Gegen Mittag wurde es sehr heiß. Die Straßendecke flimmerte. 
          Peter nahm ein weißes Tuch aus seiner Hemdentasche und bedeckte 
          damit seinen Kopf. Er hielt Ausschau nach einem schattigen 
          Plätzchen. Schließlich sah er die verfallenen Reste eines 
          römischen Aquädukts. Einer der etwa 6 Meter hohen Bögen war
          noch intakt. Die Felssteine und einzelnen Schichten schmaler, 
          gebrannter Lehmziegel hielten noch ihre Form, nachdem sie 
          1700 Jahre so geblieben waren. Andere Teilstücke waren weg-
          gebrochen, vom Sand und Lehm teilweise begraben worden. Peter 
          setzte sich unter den Bogen und hatte nun einen Schatten zum 
          Schutz gegen die Sonnenstrahlen. Wenn er vor sich hin und in 
          die Weite blickte, sah er neben dem Weg einige Pinien, eine 
          Buschreihe, und dahinter  einen halbvertrockneten Garten, der 
          offensichtlich nicht bestellt worden war. Zur anderen Seite, in 
          seinem Rücken stieg das Gelände leicht wellig an. Dort  wuchsen 
          Krüppelgewächse zwischen spärlichem Gras und Sandflecken. Da war 
          aber noch etwas, das er zunächst für einen Felsbrocken von 
          seltsamer Form hielt. Peter stand auf, verließ den schattigen 
          Streifen des Bogens und ging, geblendet von der Mittagssonne 
          auf diese Form zu. Dort saß ein bronzefarbenes Mädchen mit einer 
          Sithar und dem spitzen Kopfschmuck der Tempelmädchen in Bangkok. 
          Ihr Busen war frei und glänzte wie poliertes gedunkeltes Kupfer. 
          Sie war eine Figur aus Kupferbronze, schien aber langsam ihren 
          Kopf dem Instrumentenhals zuzuneigen, schien ihren grazilen 
          rechten Arm zum Spielen anzuwinkeln. Nun sah sie zu Peter 
          hinüber. Unter langen Augenwimpervorhängen sandte sie einen 
          Strom von Blicken und Sehnsucht,- so erschien es ihm. 
          Augenblicklich war er aufgewühlt und bebend, wurde starr und 
          selbst Figur, so wie Metall. Er bebte, und zugleich zog ihn 
          diese Figur an, sie war alle Gesichter, in denen er einmal 
          sehnend sich verloren, war Traum und Kuß, Umarmung, fliegendes 
          Zutraun und Lächeln, wie die stillen feinen Wellenhügel der 
          Ostsee. "Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, 
          den wir noch gerade ertragen, und es verschmäht gelassen uns 
          zu zerstören", sagte Rilke, - und auch er mußte weiter sein, 
          so wie dieser junge Mann, der sich verlor im Anschaun,- während 
          ihr Busen sichtlich bebte, da sie leblos hier nicht sein konnte.
          Nun erhob sie sich. Ihre Haut glänzte im Sonnenlicht wie helles 
          Kupfer. Langsam schritt Peter auf sie zu. Sie aber ging von ihm 
          fort. Sie hielt das Musikinstrument in der Linken, rückte ihre 
          spitze, kegelförmige Metallhaube zurecht und schritt in die 
          wellige Ebene hinaus. Peter ging etwas rascher. Ihr Duft wehte 
          zu ihm herüber, er erstarrte für einen Augenblick wie leicht 
          betäubt. Dann entschloß er sich zu ihr zu laufen. Er lief, erst 
          zögernd, dann schneller,- aber er kam ihr nicht näher. Er lief 
          so schnell er konnte,- sie ging mit wiegenden Hüften scheinbar 
          schlendernd dahin. Er bemerkte, daß die Entfernung nicht 
          wirklich war, sie konnte nicht überbrückt werden. Außer Atem
          blieb er stehen und sah ihr nach. Sie entschwand aber auch nicht 
          seinem Blick. Die Entfernung konnte auch nicht größer werden, 
          selbst nicht als er gedankenverloren da stand und ihr nachsah. 
          Eine schwere, beinahe drückend süße, zugleich auch im Halse 
          Bitternis erzeugende Melancholie kam in ihm auf. Es sollte so 
          wie jetzt, so verwundet und bezaubert, ewig in ihm bleiben, das 
          wünschte er halb und zur anderen Hälfte wollte er nicht mehr da 
          sein, alles wollte er ablegen, alles vergessen.
      
          Lange noch trug er das Bild der vor ihm herschreitenden 
          Sitharspielerin in sich. Als er am Pariser Metrobahnhof 
          Stalingrad stand sah er sie. Inmitten der Leute stand sie, 
          mit freien Schultern und dem goldenen spitzen Kegel auf dem Kopf. 
          Sie erschien alle um einen Kopf zu überragen. Niemand nahm aber 
          Notiz von ihr. Vielleicht sah sie niemand. Er hatte sie aber 
          so heftig vor Augen, daß er sie für wirklich hielt. Er ging zu 
          ihr, das heißt, er versuchte sie zu erreichen. Sie ging vor ihm 
          her, genauso wie in der Provence, das Musikinstrument in der Hand, 
          mit wiegendem Schritt. Ihre Schultern glänzten kupferbraun im 
          Gegenlicht, welches von oben durch die Eisenkonstruktion hinab-
          fiel. Sie ging nun eine eiserne Treppe hinauf. Der Metrobahnhof
          hatte einen Turm aus Eisengerippe, ähnlich dem Eiffelturm. Peter
          kam das seltsam vor, einen solchen Metrobahnhof gab es doch nicht. 
          Aber er ging ihr nach. Längst war ihm das Unwirkliche dieser 
          Gestalt klar. Alles war nicht wirklich da. Aber er wollte 
          weitermachen. Er spürte ihren Duft. Er erregte ihn, machte ihn 
          auf eine für jeden unsichtbare Weise verrückt. Zuweilen blieb er 
          auf der scheinbar unendlichen Treppe stehen und sah ihr nach, 
          hinauf, wo der Turm noch kein Ende hatte. Er litt wie jene ver-
          zauberten Artisten, die in ihr Gemälde hineinfallen, weil es ein 
          bildgewordenes Dasein ist. So auch saugt er sich voll und 
          wird hungriger, durstiger, süchtiger nach ihr.

         Irgendwann kam er oben auf der Plattform jenes Turmes an. Das
         schöne Mädchen war verschwunden. Er sah nach unten, sah die
         Dächer von Paris, die Treppen der Sacre Ceur, die Treppen am 
         Montmarte, die Seine, die Ile de Cite und wollte fliegen. Er 
         breitete seine Arme aus und flog über die Dächer der Stadt. In 
         den Tuillerien glitt er zu Boden und spazierte zum Louvre. Vor 
         den Seitenflügeln kam er an jenen kleineren Triumphbogen, vor 
         dem Napoleon seine Paraden abzuhalten pflegte. Er setzte sich 
         am Fuß des Bogens in den Sand des festgetretenen Weges und sah 
         den Leuten zu, die dort vorbeiliefen. Sah aber zugleich zurück in 
         die Zeit der Paraden, wie sie vor der Katastrophe in Rußland dort 
         abgehalten worden waren. Die Gardekavallerie war angetreten, 
         Napoleon ritt die Reihen ab. Hier und da hielt er an, sprach mit 
         dem Einen und Anderen, verlieh auch manchen Orden. Dann sah er 
         den jungen Mann aus der Zukunft, den Peter, der dort am Fuße des 
         Bodens saß. Dieser wollte aufspringen, aber Napoleon winkte mit 
         der Hand, daß er sitzen bleiben solle. Er sah ihn an, sah dabei
         so zu ihm, als ob er wortlos das Unmögliche verstanden hätte, 
         tippte grüßend mit seiner rechten Hand an seinen Dreispitz, warf 
         sein Pferd herum und ritt wieder zurück zu den Gardetruppen. Dann 
         gab es ein Kommando und die Formation trabte aus dem Areal hinaus. 
         Napoleon blieb mit zweien seiner Offiziere zu Pferde am Bogen 
         stehen, sah hinüber zum Louvre, wies mit der Hand nach Osten, die 
         Offiziere blickten in diese Richtung, dann ritten sie ebenfalls 
         davon.
         Peter lief durch die Straßen, die großen Boulevards hinunter bis
         zur Pt.de la Vilette und hoffte, jenes Mädchen wiederzusehen, die 
         ihren Arm so vetraut in den seinen geschoben hatte und nach 
         einem Expresso am Camps Elysee ihm wieder aus den Augen verloren 
         gegangen war. Er fühlte sich einsam, die Stadt glich einem 
         Umkehrbild. Wenn er südlich von ihr an der Loire oder noch weiter 
         bei Avignon dahinging, so erschien sie ihm zusammen mit seinen 
         Erinnerungen als ein Ort, an dem er ganz für sich und in sich 
         geborgen ist. Die Bilder und Eindrücke der Stadt waren so 
         freundlich nah in ihm, wie lebende Personen im engen Verkehr 
         selten es sein können, sie waren idealer. Aber sobald er die 
         alten Häuser zu allen Seiten um sich hatte, die Seine und der
         Place Clichy in umschlossen hatten, so wurde er ein kleiner Punkt
         inmitten einer großen Ebene der Zeit, die vorher und nachher und 
         überall ihn einsam machte. Das war nicht eine unangenehme 
         Erfahrung, sondern eine nur in Paris für ihn beheimatete Freiheit. 
         Jedoch, sie biß sich in ihm fest, machte ihn unruhig,- und so 
         trieb es ihn immer wieder hinaus auf das Land. Aus der Perspektive 
         der Boulevards war alles umgekehrt: Die freundlichen und groß-
         zügigen Bewohner der IIle de France, die heiteren Gestalten um 
         Arles waren ihm wie Erlösung. - Auch dort währte dieses Bild 
         seines Inneren nicht lange. So trieb es ihn hinaus und hinein.
         Unter milder Frühsommersonne nahe St.Remy ging Peter die Via 
         Aurelia entlang, an Gärten und weißen flachen Häusern vorbei und 
         suchte,- suchte seine Sitharspielerin. Die Weinreben im hellen 
         frühen Grün mit ihren winzigen perlenförmigen Früchten, kaum 
         größer als Hirsekörner, standen zuweilen bis heran an die Straße, 
         und Vergangenheit lag unsichtbar über dieser Landschaft, die 
         schon Legionen gesehen hatte unter römischen Standarten auf 
         ihrem Weg in den Soldatentod, in die Hölle von Spanien. Das helle 
         Licht des Südens, Afrika schon, aber noch eine Landschaft 
         Eurpoas...Er sah,- er stand still: Dort, im Schatten einer Pinie, 
         dort lag sie, aber regungslos und eingeknickt, als sei sie 
         gestürzt. Das Instrument war zerbrochen, ihr Kopf halb begraben 
         im Sand. Peter sah starr, sah seine Sitharspielerin, gefallen wie 
         jedes sterbliche Wesen, aber doch eine Statue aus Metall. 
         Während der Abend kam, die Nacht verging, ein neuer Tag kam, und 
         der neue Tag ebenso verging, und während die Zeit Tag für Tag 
         verflog, schneller als die Burgen der Wolken, sah er das Mädchen 
         aus Metall, die Spuren der Zeit sich eingraben in die vollkommene 
         Figur. Jahrhunderte legten die grüne Patina über die Formen, 
         welche zeitloser schimmerten, je mehr sie sich auflösten und 
         dem Sande glichen. Ihr spitzer Hut und der schmale Hals der 
         Sithar erhoben sich noch wie Reliefs aus dem Sand,- und eine 
         Schulter verblieb im kupfernen Glanz, da der Wind sie polierte.
         Er irrte durch eine Stadt. Irgendwo hörte er, das sei New York. 
         Aber er befand sich in einem alten Industriegebiet. Er stand 
         auf einer etwa drei Meter hohen Leiter. Oben war sie gegen eine 
         Mauerkante gelehnt, die mit Granitblöcken abschloß. Ein Mädchen, 
         ein Mischling von faszinierender Schönheit, nur mir einem Bikini 
         bekleidet, kletterte oben auf der Mauer herum und lockerte die 
         Granitblöcke. Peter erschrak und sagte ihr, sie solle aufhören. 
         Sie lachte und machte weiter. Schließlich lockerte sie den Block, 
         gegen welchen die Leiter gelehnt war. Peter kippte mit der 
         Leiter und stürzte ab. Sie rief ihm zu, er solle abspringen. Im 
         gleichen Moment sprang er, und nichts passierte ihm dabei.
         Irgendwo oben kam er dann doch an und sah auf eine Ebene von 
         Bahngleisen. Beherrscht wurde das Bild von einem gewaltigen 
         ovalen Turm, der etwa achtzig Meter an der breiten Seite war, 
         aus Backstein gebaut und etwa sechszig Meter hoch war. Oben war 
         eine Eisengerüstkonstruktion aufgebaut, die den Turm ähnlich 
         einem Pilzdach zu beiden Seiten weit überragte. Die Konstruktion 
         war an der Oberseite flach, so tief wie der Turm an der schmalen 
         Seite des eliptischen Grundrisses, etwa dreißig Meter. Alles war 
         mit abertausenden Nieten festgemacht und sah aus, wie die Stahl-
         gerippekonstruktionen der Jahrhundertwende. Grau und staubig war 
         alles vom gleichen dunklen Ton überzogen. Eine Dampflock kam. 
         Peter und das Mädchen sahen sie nicht. Erst sehr spät, fast zu 
         spät hörte Peter einen Warnton und zog das Mädchen von den 
         Gleisen weg, auf welchen der Zug herankam. Auf der Ebene vor dem 
         Turm war eine Skulptur aufgebaut, eine liegede Frau, etwa zwanzig 
         Meter hoch, aus dunklem grauen Material, vielleicht Eisen oder 
         auch Stein. Ihre Formen waren teils natürlich aber auch 
         geometrisch kubisch vereinfacht wiedergegeben. Zu Peters großem 
         Erstaunen war da inmitten dieser Schienen und Industriekulisse 
         dieses Kunstwerk, welche sich äußerlich der Umgebung völlig 
         angepaßt hatte. Das war, so dachte er: Amerika,-  Großes und
         Gegensätzliches, Verrücktes, Normales, alles nah beieinander.
         Er fror innerlich...und war fasziniert, klammerte sich an diese 
         Szenerie, die der Droge gleich mehr, näher, dichter in ihm 
         werden sollte.
         Peter erwachte an einer Landstraße im Zentralmassiv. Die 
         ärmlichen Häuser eines Dorfes, die mageren Felder waren zu sehen. 
         Alles war wie ausgestorben. Es hieß, die französische Regierung 
         würde einiges investieren um das weitere Abwandern der Menschen 
         aus dem Massiv Central zu verhindern. Wohl vergeblich, auch wenn 
         hier und da Stromleitungen gelegt worden waren um die Isolation 
         der Dorfbewohner von der modernen Zeit zu beenden. Er sah durch 
         die niedrigen Bäume hindurch, und wie in einem doppelt 
         belichteten Bild sah er eine Stadtlandschaft, die ihn nun ganz 
         in sich aufnahm. Er war auf einem großen, von Geröll und Schutt 
         beladenen Platz, der notdürftig platt gewalzt worden war. Zur 
         rechten stand ein Gebäude, welches etwa 50 Meter hoch war und
         eine merkwürdige Fassade hatte, Es waren gotische und moderne 
         geometrische Elemente, und ein Dach wie von einera alten 
         Kathedrale. Zur anderen Seite standen Gebäude, die viele 
         neoklassizistische Formen, Säulen, Bögen, aber auch Jugendstil-
         elemente hatten. Überall gab es dazwischen Stahlgerüst-
         konstruktionen, deren genietete Bauweise die Handschrift der 
         Jahrhundertwende trug. Darüber die Dächer von Paris, gealterte 
         Zinkplatten, und runde Tonkamine. Er ging über den Platz und kam 
         zu einer dunklen großen Bogenhalle aus Stahlgerippe, die zu 
         einem Bahnhof gehörte, der aber leer war und einem Güterver-
         ladeplatz glich. Er ging dort hinein und befand sich nun in einer 
         Kulisse, die sehr der glich, die er gerade als einen Teil von 
         New Vork erfahren hatte. Er spürte, daß er selbst der Architekt 
         dieser Landschaften war, und er erschauerte über den Einblick in 
         diesen Abgrund seiner Phantasie. Aber es war doch mehr als 
         bloß ein Traum,- so schien es ihm zu sein.
         Wie der Schlaf, so hatte auch Peters Wachsein kräftige und
         blasse Farben, die einander abwechselten. Er befand sich, nachdem 
         er nichts mehr erinnerte, was in den letzten Stunden geschehen 
         war, in einer kleinen Straße nahe des Place Clichy. Es war weit 
         nach Mitternacht, die Laternen verbreiteten ein funzeliges Licht. 
         Leute waren nicht mehr zu sehen, das Treppengeländer jener großen 
         Treppe die zum Montmarte hinaufführt und zur Sacre Ceur, war, 
         einer schlafenden Skulptur ähnlich, von einer merkwürdigen 
         Anziehung. Peter schlenderte dorthin, die Hände tief in den 
         Hosentaschen vergraben. Auf einem Mäuerchen saß eine Gestalt.
         Sie hatte die Silhouette eines Mädchens oder einer Katze, das war
         nicht sehr deutlich zu sehen. Vorsichtig aber sehr zögernd näherte
         Peter sich dem Mäuerchen. Es glänzte wie schwarzes Haar oder Fell 
         etwas von dieser Figur im Gaslaternenlicht. Zwei Augen sahen ihn 
         an. Ein vieldeutiger Blick traf ihn, durchbohrte ihn vielleicht
         oder durchdrang ihn vielleicht, so wie ein Blick hindurchgeht, 
         wenn er nichts wahrnimmt von den, was er sieht. Die Augen jedoch 
         schienen ihn anzulächeln, so erschien es ihm. Das Wesen richtete 
         sich auf, scheinbare oder nicht nur scheinbare Brüste glänzten 
         mit schwarzen Wölbungen vor dem tiefblauen Hintergrund im Lampen-
         licht. Lippen wandten sich ihm zu, oder wenigstens in seine 
         Richtung. Nun ein Sprung, ein großes Tier oder was es sein 
         konnte, sprang von der Mauer hinab und floh in großen Sprüngen. 
         Eine schwarze Phanterkatze schnellte in einen Abgrund hinter dem 
         Mäuerchen hinunter. Etwas flatterte nach, ein schwarzes Kleid 
         vielleicht oder der federnde Raubtierschwanz. - Peter stand -
         und ging dann mit großen schnellen und furchsamen Schritten
         eine Seitengasse hinein in die Richtung zum Place Clichy. Dort 
         unter dem besser beleuchteten Straßenkreis atmete er auf.
         Er setzte sich auf einen der Stühle, die vor einem Bistro stehen-
         geblieben waren. Alle diese leeren Stühle, den schlafenden Tauben 
         gleich, - er dämmerte vor sich hin. Doch mit einem Mal wurde er 
         wach und mutig. Er spannte sich, erhob sich, sah alte Erinnerungen, 
         sah sich mit einem Bogen und Pfeilen, wie er als Achtjähriger in 
         den Wiesen herumgelaufen war und suchte. Er erhob sich, ließ die 
         Stühle weiterdämmern und suchte sie. Er glaubte fest, sie wäre 
         eine Frauenkatze, langhaarig mit scharfem Raubtiergeruch,- 
         der nun, in der Erinnerung an das eben Erlebte ihn sehr erregte. 
         Er duckte sich und schlich zurück in jene dunkle Gasse, aus der 
         er gerade gekommen war. Irgendwo in einer Türöffnung ein Licht. 
         Er ging heran, die Tür des alten hohen Hauses stand weit auf. 
         Er ging hinein. Innmitten eines Säulenganges stand er und sah 
         alte Malereien und Fresken. Jagdszenen waren dort vor Jahr-
         hunderten aufgemalt, vielleicht auch schon vor über tausend
         Jahren. Er ging weiter, die nächste Tür stand offen. Der Raum war
         blau beleuchtet. Vorhänge fielen zwischen den Säulen in Bögen 
         hinab. Inmitten des Raumes, auf einer römischen Liege war sie. 
         Eine Frazu wie eine Phanterkatze. Schwarze Haut, schwarzes Haar, 
         schwarzes Fell. Sie wandte sich ihm zu, ihre Lippen öffneten 
         sich, gefährliche Lippen- und fauchte, sprang hoch, streckte 
         ihre Krallen nach ihm. Peter wich mit einem Satz zurück. Doch 
         dann entgegengesetzt riß ihn sein Ungestüm. Er stürzte sich in 
         die Tatzen hinein. Weich durchdrangen die Krallen seine 
         Schultern,- ihr Duft betäubte und erregte ihn, wie er es nie 
         kannte. Der Mann, der einmal aus ihm werden wollte, wurde wach.
         Er packte zu, sie krümmte sich, sie verkrallten sich beide und 
         durchdrangen sich. Sie schrie, er schrie.- Schwarz wurde es um 
         ihn, er verlorjedes Bewußtsein.
         Am anderen Morgen, oder irgendeinem anderen Morgen,- das war ihm 
         ununterscheidbar, wurde er vom Lärm des Kreisverkehrs des Place 
         Clichy geweckt. Ein Kellner trat zu ihm, das Bistro begann 
         seinen Tagesbetrieb. Benommen sah Peter auf seine Hände. 
         Krallenspuren zogen ihre verkrusteten Linien über seine Arme 
         und Schultern, alles brannte an ihm und in ihm auch.
         Als er am frühen Morgen Paris in Richtung Orleans verließ und ge-
         mächlich die Nationalstraße daherschlenderte, kam er an ein
         Straßenstück, an dessen Seiten hohe Pappeln standen. Der Westwind
         bog sie leicht zur Seite, Peter war kühl, und die schlaflose Nacht
         lag bleiern in seinen Gliedern. Es duftete nach Gras und den Autos, 
         die ihn ab und zu überholten. Er wollte wieder in die Provence 
         zurück. Sein nächtliches Erlebnis hatte den Wunsch geweckt in ihm, 
         die Sitharspielerin wiederzusehen, deren Figur irgendwo am Rand 
         der Via Aurelia halb vergraben im Sand lag. Zunächst war diese 
         Figur nur ein Fixpunkt gewesen, dem er sich irgendwann nähern 
         mochte. Aber mit der heraufkommenden Wärme des frühen Mittags 
         wurde es drängend in ihm. Er schritt schneller voran und streckte 
         seinen Daumen heraus, damit ihn ein Auto mitmähme. Nach wenigen 
         Minuten hielt eine Citroen-Ente. Drei junge Leute saßen darin. 
         Ein Mann von etwa 26 Jahren und zwei Frauen von Anfang zwanzig.
         Kaum war Peter eingestiegen, wurde er gefragt, wohin er wolle, 
         woher er komme, was er arbeiten oder lernen würde. Peter 
         antwortete auf diese Fragen, war aber besonders erfreut über 
         das Interesse einer der beiden jungen Frauen an seinen Texten, 
         die er geschrieben hatte, und von denen er einige mit sich führte. 
         Das Auto schaukelte, so gut es konnte gen Süden. Am Abend 
         gelangten sie nach Chateauroux. Dort wurde er von den Dreien, 
         die  als Journalisten tätig waren, zum Abendessen eingeladen. 
         Sie begaben sich zu dem Hotel, in welchem die drei übernachten 
         wollten. Es war ein üppiges Essen mit sieben Gängen plus Käse-
         platte, Obstnachtisch, Eis, Kaffee und Wein. Ein weißhaariger Herr 
         kam einigemale zu Tisch um sich zu erkundigen, ob die kleine 
         Gesellschaft zufrieden sei. Unterdessen wollte die eine der 
         beiden Frauen, Jeanette, mehr von Peters Gedanken wissen.
         "Was beschäftigt Sie denn zur Zeit besonders ?", fragte sie. Peter
         antwortete:" Es sind mehrere Dinge. Über Vieles wüßte 
         ich gern die Wahrheit. Die Wahrheit über mich, über mein Leben,
         über die Anderen und deren Leben, aber auch über die Befreiung. 
         Ich glaube, ich bin noch ziemlich unfrei."Das überrascht mich 
         aber, Peter. Sie reisen nun allein durch Eurpoa und fühlen sich 
         noch nicht völlig frei ?" Peter sprach:" Ja, ich bin schon etwas 
         weiter gekommen als dort, wo ich vor einem Jahr noch stand, als 
         Lehrling, gebunden an Eltern, Chef und Tagesablauf. Aber in 
         mir.... Überall wo ich hingehe, bin ich auch dabei. Ich muß mich 
         doch immer mitnehmen." "Wissen Sie, Sie sind sehr weit für Ihr 
         Alter, Peter. Diese Fragen haben schon viele bedeutende Köpfe 
         beschäftigt, und Sie haben es noch einmal entdeckt, daß man immer 
         mit sich selbst auskommen muß, also die Frage der inneren 
         Freiheit", erwiderte Jeanette. Bernard, der Mann in der Gruppe 
         hatte etwas zugehört und sagte nun:" Unsere zwei charmanten 
         Philosophen..." Und zur Dritten, Claudine gewandt, sprach er 
         weiter:" Es ist doch ein echtes deutsch-französisches Treffen: 
         Dort die Suche nach der Wahrheit und hier nach der Freiheit.."
         Jeanette entgegnete:" So einfach, mein Lieber, ist das nicht. Wir
         haben eine große Tradition in der Suche nach Freiheit, und Peter
         hat zu Hause den Immanuel Kant, den deutschen Freiheitssucher."
         "Aber sie haben Hegel gehabt, und wir Sarte..." setzte Bernard
         lächelnd hinzu, und man sah, daß er das Ganze amüsiert und 
         leichter nahm, als es sich anhörte. Jeanette hakte nach:" Und 
         Sarte war in Berlin, bei Hei.." "Heidegger", ergänzte Peter. 
         "Ja, Heidegger,- und der war doch ein Hegelianer", sagte Jeanette. 
         Nun schaltete sich Claudine ein und sagte lachend:" Ich denke, 
         Hegel war ein eifriger Leser von Voltaire,- und dann sind wir 
         bald in Rom und von aus in Athen." Die vier lachten. Das hatte 
         der weißhaarige Herr gehört, der der Inhaber des Hotels war. Er 
         trat zum Tisch und sprach:" Es gefällt Ihnen in Chateauroux, 
         das freut mich sehr". Und zu Peter gewandt: "Wohin werden Sie 
         weiter reisen ?"  "Vielleicht komme ich in ein zwei Tagen zur 
         Provence." "Unsere Provence", sprach der Herr:" Ich würde gerne 
         mit Ihnen reisen, aber sie sehen ja, hier bin ich an meinem 
         Platz." Damit zeigte er in die Runde.
         Gegen 22.00 Uhr wurde die Runde aufgehoben. Bernard schlug vor, 
         noch irgendwo in ein Bistrot zu gehen. Die vier brachen auf. 
         Peter wollte sich aber kurz vor dem Eingang von den anderen 
         trennen, da er einen Campingplatz aufsuchen wollte um dort zu 
         übernachten. Ein Zimmer im Hotel hätte er nicht bezahlen können. 
         Claudine sagte aber: "Bleiben sie bei uns Peter, Sie haben den 
         Herrn dort gesehen, das war der Hotelier. Er hat Sie eingeladen, 
         in der Nacht in seinem Hotel zu bleiben, als sein  Gast." Peter 
         war sehr erfreut. So zog die kleine Gesellschaft in ein Bistrot. 
         Vom Wein etwas beschwingt, aber auch von der milden Luft, dem 
         dunkelblauen Spätdämmerungshimmel, den Zigallen und allerlei 
         anderem, begannen die beiden Frauen hüpfend die Straße entlang 
         zu tanzen. Sie hakten sich bei Peter und Bernard ein, sangen 
         etwas, trällerten und bildeten eine Viererkette- und so gings 
         die kleine Straße entlang. Die Bistros hatten ihre Stühle heraus-
         gestellt. Die Vier tranken Kaffe, plapperten so dahin und begaben 
         sich dann ins Hotel zurück.
         Am anderen Morgen trennten sich die Wege. Peter erhielt von dem 
         Hotelbesitzer eine Fahrkarte nach Avignon geschenkt, da er Peters 
         vorläufiges Reiseziel kannte. Aber es wurde später 
         Nachmittag, bis Peter einen passenden Anschluß fand. Die Dämmerung
         erlebte er in einem leeren Wagenabteil, denn das Publikum war hier
         und da auf den Bahnhöfen ausgestiegen. Als es dunkel geworden war,
         wurde er müde und schläfrig. Einige der Lampen im Zug waren kaputt,
         sodaß er nicht lesen konnte. Als er wieder einmal halb ein-
         geschlafen war wurde er von etwas geweckt: ein etwa sechszehn-
         jähriges Mädchen stand vor ihm, eine schwarzbraune anmutige, 
         schlanke Figur mit europiden Gesichtszügen, weichem Augenausdruck, 
         einem engen Kleid und einem duftigen Decollete. Sie fragte ihn 
         nach einem Zuganschluß nach Barcelona. Peter sah auf die Fahr-
         karten und den Informationsausdruck, die sie ihm vorhielt. Sie 
         mußte in Marseille umsteigen, aber dieser Zug war der falsche, 
         sie hätte einen anderen Zug nehmen müssen. So wie es jetzt war, 
         blieb ihr nur die Möglichkeit in Lyon in einen Zug nach Marseille 
         umzusteigen. Er wünschte ihr, daß sie es noch zeitlich schaffen 
         würde, den Anschlußzug von Marseille nach Barcelona zu bekommen. 
         Peter versprach ihr, den Schaffner aufzusuchen um weitere Auskunft 
         zu bekommen. Er wolle ihr dann Bescheid sagen. Das Mädchen ging 
         wieder zu ihrem Platz zurück. Kurz darauf fand Peter den Schaffner 
         zwei Wagen weiter hinten im Zug. Dieser erklärte ihm die Anschluß-
         möglichkeiten. Peter ging zu dem Mädchen zurück. Sie lag in einem 
         abgedunkelten Abteil auf der Bank zusammengekrümmt und mit ihrer 
         Jacke und einer Decke zugedeckt. Sie war wohl sehr müde. Als Peter 
         sie ansprach, kam sie hoch, strich ihre dunklen langen Haare zur 
         Seite und hörte zu. Ihre braunschwarze Haut glänzte in dem 
         Restlicht, welches vom Gang hereinkam. Sie zündete sich eine 
         Zigarette an. Peter fragte ob sie auch eine für ihn hätte. Sie 
         verneinte und hielt ihm ihre Zigarette hin. Peter nahm die 
         Zigarette aus ihrer Hand, nahm einen Zug und gab sie ihr, etwas 
         erregt von allem, zurück. Dann  begab er sich wieder auf seinen 
         Platz am anderen Ende des Wagons. Spät in der Nacht traf der Zug 
         in Lyon ein. Peter verließ den Bahnhof und verbrachte die 
         Wartezeit in der Nacht am Boden kauernd im Gebüsch nahe des 
         Bahnhofs. Am Morgen ging er in die Bistros, nachdem sie endlich 
         geöffnet waren. Den folgenden Tag verbrachte er im Zug. Erst spät 
         am Abend, nach anstrengenden Stunden des Wartens im Abteil, 
         gelangte er in Avignon an. Nach einem kleinen Imbiß ging Peter 
         vor die Tore der Stadt. Er wollte zum Ufer der Rhone, in die 
         Nähe jener Brückenruine, die aus dem Mittelalter mit einigen 
         Bögen übrig geblieben war. Das Mondlicht schimmerte auf der nur 
         sehr leicht gekräuselten Oberfläche des Flusses. Die Schatten der 
         alten Gemäuer waren deutlich zu sehen. Peter erschrak, wie ihn 
         ein alter Mann ansprach: " Wer hierher kommt um diese Zeit sucht 
         etwas. Was suchst Du, mein Sohn?" Peter sah den Mann an. Er sah 
         aus wie ein provencialischer Bauer, klein gedrungen, Baskenmütze, 
         Schnauzbart, dunkles leicht krauses Haar, ein verwittertes Gesicht. 
         Nach bevor er etwas sagen konnte - er war zu verblüfft um sogleich 
         zu antworten - sprach der Mann weiter:" Ich bin auch hier gewesen, 
         als ich so jung war wie Du. Dann hatte ich eine Familie, zog in 
         die Camarque, hatte Rinder, etwas Weinanbau, dann auch Kinder. 
         Nun sind sie alle groß, aus dem Haus. Sie sind in die Stadt 
         gegangen, nach Toulouse der eine, meine Tochter ist in Paris..." 
         Er unterbrach sich, stützte sich auf einem Stock ab, sah über 
         das Wasser und sprach weiter:" Das ist ein schöner Platz, etwas 
         Vergangenheit. Wen man alt ist, befreundet man sich mit der 
         Vergangenheit. Du bist auf Reisen, nicht war ?" Er wartete aber 
         keine Antwort ab sondern sprach weiter:" So ein wenig wollen 
         wir alle die Welt erobern, in Deinem Alter." Peter erwiderte:
         " Nicht erobern, kennenlernen, das Land..." Der Alte lachte:
         " Du bist gut, das ist doch ein und dasselbe. Aber die 
         Illusionen, o ja, die sind uns lieb.. Nein, ich sage nicht, 
         Du bist ein zorniger junger Mann. Hier gab es Krawalle, die 
         Studenten waren auf den Straßen, Polizei dazu. Es war nicht schön. 
         Aber Du bist noch zu jung." Peter sagte:" Ich wußte nichts von 
         Krawallen. Bisher dachte ich, sie beschränkten sich auf Paris." 
         "Nein, nein, hier war es mehr, es gab brennende Autos, 
         Barrikaden." Der Alte bückte sich, pflückte von einem Kraut am 
         Boden etwas und hielt es Peter hin:" Das sind unsere Gewürze, 
         probier mal." Peter nahm das Kraut und roch daran:" Das riecht 
         gut, sehr gut." "Man nimmt es zu Fisch oder Braten, wie man will, 
         aber auch zu Salaten paßt es gut." Dann sah der Alte wieder auf 
         das Wasser, und scheinbar vergaß er, daß noch jemand anwesend war. 
         Peter schwieg, sah die Landschaft und spürte kühl den Mistral an 
         seinem Hemd zupfen. So schwiegen beide, während auf der silbrig 
         schwarzen Oberfläche der Rhone hier und da das Wasser sich 
         kräuselte, wenn ein Fisch nach oben schnappte. Schließlich 
         stappfte der Alte davon, murmelte etwas zum Abschied und ging 
         zur Stadtmauer hinüber, dort wo das westliche Stadttor war.
         Da die Nacht mild warm war, kroch Peter außerhalb der Stadtmauer
         bei einer Buschreihe unter das Gehölz und schlief bald ein.
         Mit der Dämmerung wurde er wach. Es roch nach frischem Weißbrot.
         Peter ging an der Mauer entlag zum westlichen Stadttor hinein und
         von innen an der Mauer zurück an jene Stelle, wo es so gut
         gerochen hatte. Er fand in einem alten Haus den Bäcker. Die Tür
         stand auf, man sah die Backstube. Peter ging zu der offenen Tür 
         und rief "Hallo". Es kam ein gedrungener Mann in weißem Kittel und
         mehlverstaubtem Haar. Peter bestellte ein Brot. Er bekam es 
         sogleich. Es war ein weißes bauchiges Stangenweißbrot, nicht die 
         dünne sondern die kurze dicke Sorte. Er aß es mit Heißhunger. 
         Die braune Kruste knackte, darunter war das Brot weich und luftig 
         durch die eingebackenen Luftblasen. Er lief anschließend durch 
         die Straßen von Avignon, sah den burgähnlichen Bau der Gegenpäpste 
         und war erstaunt über die vielen steinernen Schilder an den Türen 
         von Banken, Ärzten und Unternehmen. Manche waren aus weißem Marmor. 
         Die Schrift war sehr genau eingemeißelt, insgesamt eher Kunst-
         objekten denn Schildern ähnlich. Am späten Abend ging Peter wieder 
         hinaus aus der Stadt zu jener Stelle nahe des Rhoneufers wo er in 
         der Nacht davor gewesen war. Er dachte, es wäre interessant den 
         alten Mann wieder zu treffen, obgleich Peter es für unwahr-
         scheinlich hielt, ihm noch einmal an dieser Stelle zu gegegnen. 
         Aber er kam,- mit langsamen Schritten war er aus den dunklen 
         Streifen der Buschreihen hinausgetreten. Einge Meter vor Peter 
         blieb er stehen, stütze sich auf einem Stock ab und sah zur Rhone. 
         Dann sprach er, ohne Peter anzusehen, beinahe so wie zu sich 
         selbst:" Das haben Deine Völker besser gemacht,- nicht alle, aber 
         doch Friedrich der Zweite von Preußen und die Ostarmee unter 
         Hindenburg..." Peter wußte ganz und gar nicht, was überhaupt 
         gemeint war. Er sah den Alten fragend an. "Du weißt nicht wovon 
         ich spreche ?" Peter zuckte mit den Schultern. Der Alte sprach:
         " Wenn er in der Linie Wilna-Pinsk den Winter 1812 bis 1813 
         stehengeblieben wäre, wie die Preußen bis 1917, dann sähe
         Europa heute anders aus, wir hätten die Kleinstaaterei überwunden.
         Aber auch Friedrich gab ein gutes Beispiel. Als die Russen 
         Ostpreußen überrannten, gab er es sofort preis und sagte dazu, 
         angesichts der Unmöglichkeit Ostpreußen zu halten: Wer alles 
         halten will hält nichts." - Noch immer sah Peter den Alten 
         fragend an. Der schüttelte etwas den Kopf und sprach weiter. 
         Vergessen wir diese Militärgeschichten, aber wer voranstürmt muß 
         auch anhalten können. Oh ja, das war sein großer schwacher Fleck: 
         er wollte alles und auch sofort." Peter ahnte nun etwas. Die 
         Jahreszahlen und Namen ließen ihn auf Napoleon schließen; der Alte 
         war Bonapartist. Ohne noch weiter auf den fragend blickenden 
         Peter Rücksicht zu nehmen, sprach der Alte weiter:" Hier stand 
         Schwarzenberg, dort Junot und dort Mcdonald." Dabei rizte er mit 
         seinem Stock aneinander liegende Kreise in den steinigen Sandboden. 
         Dann fuhr er fort:" Da oben liegt Wilna, hier die Pripjet-Sümpfe, 
         dahinter Brest-Litowsk. Wäre er vor Brest-Litowsk stehen ge-
         blieben, hätte er die Front durch die Sümpfe verstärkt gefunden 
         und in diesem Abschnitt ein ganzes Korps freibekommen. Dann, im 
         Frühjahr wäre ein doppelter Vormarsch erfolgt: Im Norden nach 
         Petersburg, im Osten nach Moskau. Aber er war zu hitzig und warf 
         seinen eigen Plan über den Haufen." Nun sah er Peter aufmerksam 
         an,- der blickte zurück. Der Alte sprach weiter:" So ist es aber, 
         man ist sich selbst der schlimmste Feind. Man kann sich selbst 
         nicht besiegen." Nun hielt er inne, sah plötzlich auf die fast 
         glatte Fläche der Rhone hinaus und sprach:" Sieh einmal dort."
         Peter blickte auf das Wasser in die Richtung der mittelalterlichen 
         Brückenreste. Dort glitt ein Segelschiff mit einigen kleinen 
         Segeln und vielleicht drei vier Leuten dahin. Es war ein Nachbau 
         einer Schilfbarke, wie sie im vorantiken Ägypten gefahren waren.
         Die Leute auf dem Schiff waren ziemlich ruhig, kein Geplapper oder
         andere Geräusche. Merkwürdig still war das Schiff, dann glitt es 
         rhoneabwärts aus dem Sichtfeld der Beiden hinaus. Der Alte war 
         unterdessen davon gegangen. Peter stand da und war daran zu 
         glauben, er hätte Wachträume oder Träume gehabt,- der Unterschied 
         erschien ihm unbedeutend.
         Peter hatte die letzte Nacht ziemlich unruhig dahindämmernd unter 
         einem Torbogen verbracht. Am anderen Morgen war er bereits 
         während der Dämmerung auf den Beinen. Es war kurz vor fünf Uhr
         morgens, die ganze Stadt schlief noch, abgesehen von den Bäckern
         und einigen Geschäftsleuten, die ihre kleinen Läden öffneten, 
         fegten und sonst irgendetwas hantierten. Peter dachte, sie wären 
         vielleicht ebenso unruhig wie er selbst. Oder vielleicht war es 
         die Gewohnheit, die bedingt durch die Mittagshitze, die Menschen 
         dazu brachte, ihre Aktivitäten in die Abend- und Frühmorgen-
         stunden zu verlegen. Der Alte ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. 
         Er spürte seine Neugierde auf wohltuende Weise zufriedengestellt 
         durch das was er erzählte. Manches wollte Peter schon einmal 
         gefragt haben,- wohl in anderen Bildern als jenen, die der Alte 
         entwarf. Aber sie trafen ziemlich genau das, was Peter bewegte. 
         Daher ging er am späten Nachmittag bereits wieder in die Richtung 
         jener Stelle vor der Stadt, wo er den Alten getroffen hatte. An 
         der Straße vor der Stadtmauer, die er überqueren mußte um zur 
         Rhone zu gelangen, hielt ein Wagen. Die Tür öffnete sich und der 
         Alte steckte seinen Kopf heraus und sagte: "Hallo, fahren Sie mit, 
         junger Herr?" Peter ging zur Tür jenes alten klapprigen Autos, 
         welches hinten eine Ladekabine hatte und fragte: "Wohin fahren 
         Sie ?" Der Mann erwiderte:" Ich besuche meinen Bruder in Orange. 
         Er gibt ein Essen heute Nacht. Morgen vormittag fahre ich wieder 
         hierhin zurück." Peter stieg ein und fuhr mit. Der Alte fuhr die 
         Route National nach Norden. Der Feierabendverkehr brachte vor den 
         kleinen Ortschaften einiges Gedrängel, sodaß Peter die alten 
         Häuser mit ihren sandigen Fassaden und den leuchtend roten Ton-
         schindeldächern betrachten konnte. Die Farben waren sehr hell-
         pastellartig, getränkt von dem berühmten Licht der Provence, 
         welches die Helle des nahen Afrika bereits vorwegnimmt. In der 
         frühen Dämmerung kamen sie in Orange an. Der Bruder des Alten 
         wohnte in einem Haus nahe des römischen Theaters, seiner hohen 
         Bühnenmauer mit den dahinter liegenden halbrunden terassen-
         förmigen Zuschauerrängen. Ein Freilichtbau in dessen ab-
         schließenden Bühnenmauer noch Reste von Kolonnaden und Bögen 
         erhalten geblieben waren. Peter wollte sofort ins Theater hinein, 
         aber der Alte sagte, für Touristen sei bereits geschlossen, aber 
         nach dem Essen würde er Peter einen Zugang oberhalb der Zuschauer-
         reihen zeigen. Mit großem Hallo wurden die Beiden im Hause des 
         Bruders, der zugleich Metzger war, begrüßt. Man führte sie 
         zwischen alten freundlichen Damen, jungen Leuten und einem 
         dicklichen Koch hindurch in den Garten hinter dem Haus, wo 
         bereits ein Buffet angerichtet worden war. Der Alte stellte 
         Peter seinem Bruder vor:" Dies ist mein junger Freund aus Düssel-
         dorf, er reist durch unser Land und ist sehr wißbegierig." Der
         Bruder nahm Peter in den  Arm, drückte ihn und sagte:" Willkommen
         in unserem kleinen Städchen. Waren Sie schon im Theater ?" Peter
         verneinte und der Alte antwortete:" Wir wollen nach dem Essen 
         hinein. Der Bruder sagte darauf:" Wie in unserer Schulzeit, von 
         oben über die Mauer." Dabei lachte er und sprach weiter:" Er wird 
         nie erwachsen, immer noch der Jüngste von uns allen, ein ewiger 
         Lausbub." Dann nahmen sie Platz, und mit ihnen etwa zehn Personen. 
         Ein sechsjähriges Mädchen reichte Peter eine Schale mit kleinen 
         knusprig gebratenen Fischen:" Die hab ich mitgefangen, mit Papa." 
         Peter nahm einen und aß ihn. Ein anderer Mann aus der Familie 
         spielte eine Ziehharmonica und sang dazu Lieder. Die Gesellschaft 
         sang mit, trank Wein und wurde ausgelassener. Ein junger Bursche 
         nahm eine der Frauen und tanzte mit ihr vor dem langen Tisch.
         Die späte Dämmerung kam, es wurde Nacht. Eine funzelige Glübirne 
         hing an der Hoftür und verbreitete so wenig Licht, daß die 
         hellsten Sterne über der Mauer zum Nachbarhof hin sichtbar wurden. 
         Sie hatten drei Stunden gesessen, als der Alte zu Peter sagte:
         " Komm, wir gehen ins Theater." Sie mußten eine kleine Gasse 
         zwischen den Häuschen hinaufgehen, dann über Geröll, eine magere 
         Wiese mit Gesträuch hinauf klettern und gelagten schließlich zu 
         einem Mäuerchen oberhalb der halbrunden Zuschauerreihen des 
         Theaters. Der Mond war hochgekommen, ohne ihn wäre nichts zu 
         sehen gewesen. Als sie ohne besondere Mühen das Mäuerchen 
         überwunden hatten, sahen sie vor sich das große Halbrund der 
         nach unten steil abfallenden Zuschauerreihen, die Fläche des
         Orchesters vor der Bühne, die Mauer mit ihren Bögen und die Figur 
         des Augustus, die dort stand. Peter erschien es so, als seien 
         die Römer nur zur Nachtruhe nach Hause gegangen um morgen wieder 
         hierin zurück zu kommen, und man schriebe das Jahr 20 und nicht 
         das zwanzigste Jahrhundert. Der Alte setzte sich auf die 
         Steinstufen, Peter setzte sich neben ihm. Nach einer Weile stand 
         der Alte auf und sagte zu Peter:" Bleiben Sie hier und sehen 
         Sie zu." Der Alte sprang flink wie ein junger Bursche die Stufen 
         hinab zur Arena, die hier ein Halbrund war, entsprechend dem 
         Grundriß des Theaters. Peter blieb wo er war. Unten sah er den 
         Alten im Mondlicht. Er gestikulierte, sprang zur linken Seite der 
         Bühne und sprach:" Diese Bühne, unser Leben: Eine immer wieder 
         gleiche Vorstellung, nichts Neues." Nun zeigte er auf die gegen-
         überliegende Seite der Fläche. Dort geschah etwas Merkwürdiges. 
         Figuren zogen auf, die durchscheinend waren wie Glas, Traum-
         schemen: Eine Hochzeitsgesellschaft, dahinter Totenträger und
         zuletzt Soldaten und Trompeter. Sie zogen seltsam starr wie große
         Bilder ohne eigene Bewegung durch die Arena. Dann standen sie 
         still, minutenlang. Schließlich schoben sie sich in einen Stein-
         bogen der Mauer in der Mitte der Bühne hinein, dort verschwanden 
         sie. Der Alte zeigte wiederum auf die gegenüberliegende Seite und 
         sprach:" Die Götter sind davongegangen. Sie haben sich nicht zu
         Tode gelacht und nicht an der Tafel überfressen. Vor Langeweile 
         sind sie gestorben. Das war nicht leicht, denn Götter sterben 
         nicht." Nun kamen Gestalten mit Maschinen aus dem Dunkel der 
         rechten Ecke vor der Bühne hervor. Es waren eine Raketenrampe, 
         Raketen, und eine unbekleidete Frauenpuppe aus Plastik ohne 
         Geschlechtsmerkmale außer Wölbungen, die man für Brüste halten 
         konnte. Es wurde still im Theater. Der Alte stand leblos wie eine 
         Statue. Nach einer Weile zeigte er auf diese Gruppe und rief:
         " Das täuscht uns nicht, die Künste, die Geburt des Neuen, das 
         Niedagewesene, die Fahrt zum Mond...." Nun trat oben auf der 
         hochgelegenen Bühne an der Mauer, gleich unterhalb der Kaiser-
         statue ein Mann hervor. Er war römisch gekleidet und sprach:
         " Ich habe das wohl gesehen, Eure Benühungen... Da ist doch etwas, 
         was ich niemals sah." Er zeigte auf die Raketenrampe, dann zum 
         Himmel und sprach:" Dort oben wollt Ihr hingelangen. Aber wir 
         sind nicht da." Nun senkte er den Kopf, schüttelte ihn etwas 
         und sprach weiter:" Uns zu suchen, das ist ein altes Spiel. Ich
         habe mich getäuscht, nichts hat sich verändert." Der Alte war vor-
         sichtig nähergekommen und sagte zu dem Mann gewandt:" Sie suchen 
         Dich nicht. Das ist schon etwas Ungeheuerliches, sie suchen 
         nichts." Der Mann auf der Bühne schritt zu dem Alten, der nun 
         genau unterhalb vor der Mauer der Bühne stand und sprach:" Sie 
         versuchen sich in neuen Künsten ?" Der Alte legte den Kopf in den 
         Nacken um den Anderen sehen zu können und erwiderte:" Es ist 
         etwas verrückt damit, sie sehen  sich nicht als Künstler, aber 
         sie sind es ohne Zweifel." Der Andere antwortete:" Sie sind sich 
         selbst ebenfalls Schein. Das ist großartig, Produkte aus Schein, 
         Leben aus Schein und ein Bewußtsein aus Schein." "Ja, es ist 
         alles irgendwie falsch", sprach der Alte. "Dann ist es richtig !" 
         entgegnete der Andere und ging in das Dunkel der Mauer zurück. 
         Die Figuren und Maschinen zogen zu der Mauer und verschwanden 
         darin. Peter hatte erstaunt zugesehen. Nun kam der Alte zurück, 
         setzte sich neben ihn und sprach:" So geht das schon einige Jahre 
         lang. Wir disputieren immer im gleichen Kreis." Peter fragte:
         " Wer war das ?" Der Alte antwortete:" Einer aus dieser Stadt. 
         Wenn ich hier bin, kommt er auch." "Und die Anderen ?"
         "Das sind Projektionen. Sehen Sie, dort hinten steht der Projektor.
         Bei den Vorstellungen hier im Sommer, wird er benutzt."
         "Spielen Sie im Sommer auch eine Rolle bei den Aufführungen ?"
         Der Alte sah Peter an, grinste und antwortete:" O ja, ich spiele
         Voltaire, einen verrückten Voltaire allerdings. Peter sah den 
         Alten fragend an. Dieser stand auf und erwiderte:" Mein junger 
         Freund, wenn es so weit ist, dann kommen Sie zu uns und sehen 
         sich das Stück an." "Wann ist es so weit ?" "Von heute an in acht 
         Wochen." "Dann bin ich vielleicht schon in Spanien, schade", 
         antwortete Peter. "Dann kommen Sie in der nächsten Woche einmal 
         mit zur Probe, zu einer kleinen Spezialprobe." Wiederum sah 
         Peter den Alten irritiert an. Dieser ging zur Mauer hin um das 
         Theater zu verlassen. Während sie zum Haus der gastfreundlichen 
         Familie zurückgingen, erzählte der Alte:" Ich spreche in dem 
         Stück 'Voltaire und Savanarola in Florenz' den Dialog des 
         Voltaire. Sie hören schon am Titel, es ist ein phantastisches 
         Stück, völlig unrealistisch, aber amüsant. Während Savanarola 
         die Autorität der Kirche, einer radikalen reformierten Kirche 
         propagiert, spricht Voltaire über den Sieg der Vernunft." Nun 
         blieb der Alte auf der Straße stehen und begann: "Die Vernunft 
         geht hell wie ein Sonne über dem Abendland auf. Da stehen Sie mit 
         ihrem ewigen Leben inmitten einer Sonne der Vernunft. Und die 
         Leute sehen ihre Gräber, sie sehen, nichts ist geschehen. Bald 
         sind die Bauern auf dem Felde und die Arbeiter in den Manu-
         fakturen so schlau wie heute nur ein Kardinal." Der Alte hielt 
         inne, sah zu Peter und sprach weiter:" Der Andere, der den 
         Savanarola spielt, antwortet nun und spricht über die Tugend, 
         die Moral, die Zucht undsoweiter. Voltaire, also meine Rolle 
         fährt dann so fort: Sie werden nicht mehr fromm, aber sie werden 
         schlau werden. Auch in Ihrer gerechten Gottesrepublik werden 
         sie schlau werden und dem Verbrechen frönen. Freilich mit 
         büßendem Knie und ordentlicher Hochzeit. Das ist aber nur ein 
         Zwischenspiel. Wenn die Aufklärung weiter fortgeschritten ist, 
         wird jeder jede Rolle durchschauen und selbst spielen können. 
         Die Gleichheit macht aus jedem einen potentiellen Bischof. Sie 
         werden diesen Umweg nicht lange gehen wollen: Er spielt etwas 
         vor, jener spielt etwas zurück. Sie werden einfach vernünftig
         und sachlich werden. Ja, die Habgier, die Dummheit und die Laster
         werden manchen Umweg und einige Jahrzehnte kosten. Aber Sie 
         zweifeln doch nicht daran, daß jeder sieht wohin es führt ?! 
         Man wird den Reichtum vernünftig verteilen und verwalten, jeder 
         wird seinen besten Teil dazu beitragen, das Gemeinwohl zu fördern. 
         Alle werden völlig gleich und völlig vernünftig untergehn, 
         erschlaffen und dem vierten Jahrhundert sich zugesellen, den 
         Weiberkaisern Westroms." Peter war sehr beeindruckt, allerdings 
         auch irritiert. Der Alte schritt langsam weiter und sprach:" Das 
         ist nicht der Voltaire den Sie kennen sondern ein verrückter 
         Voltaire, vielleicht ein Rousseauscher Voltaire." Dabei kicherte 
         er vor sich hin. Peter frug sich, ob der Alte ihn nicht etwas 
         narren wollte mit diesen Darbietungen. Während er so nachgrübelte 
         langten sie wieder bei dem Haus des Bruders des Alten an.
         Nachdem der alte Mann und Peter wieder nach Avignon zurückgekehrt
         waren, sprach am anderen Morgen Peter zu dem Alten:" Es ist Zeit
         für mich weiter zu reisen. In einigen Tagen möchte ich in der 
         Camarque sein. Der Alte erwiderte:" Wenn Sie noch etwas Zeit 
         haben, können wir zusammen bis Arles fahren, ich muß dort etwas 
         hinbringen." "Wann wollen Sie fahren ?", frug Peter. "Wir können 
         gegen Mittag losfahren, am Besten gegen 12 Uhr, später wird es 
         sehr heiß werden." Sie fuhren also zusammen los. Der klapprige 
         alte Wagen fuhr die Straßen parallel der Rhone entlang Richtung 
         Süden. Peter wollte wissen, warum er auf Leute traf, die sich mit 
         Napoleon beschäftigten. Deshalb frug er den Alten:" Was bedeutet 
         Ihr Interesse für Napoleon. Denken Sie, es könnte ein neuer 
         Napoleon kommen ? Und was sollte er heute tun ?" Der Alte sah 
         Peter an, lächelte etwas, ein wenig verschmitzt und sprach:
         " Nun ja, die Zeiten sind vorbei. Ein Napoleon würde heute nicht 
         mehr aufsteigen können. Aber er ist ein Symbol für eine alte 
         Aufgabe. Sehen Sie, junger Mann, Napoleon und vor ihm Marc Aurel, 
         Alexander und andere Große. Sie scheiterten, weil die Menschen 
         ihre eigenen Länder noch nicht erobert haben. Sie sind noch unreif 
         und tragen in sich selbst lauter weiße Stellen, unerforschte 
         Gebiete sozusagen. Stellen Sie sich einen Mann vor, der so etwas 
         wie Napoleon und Buddha in einer Gestalt ist: Furchtlos, einsam, 
         wissend und groß. Stellen Sie sich vor, ein ganze Menschheit wird 
         von solchen Gestalten geprägt, eine Menschheit ohne Illusionen..." 
         Peter erwiderte:" Sie sprechen vom Sieg der Vernunft ?!" "Aber ja. 
         Nur wissen wir noch nicht in jedem Punkte, wie diese Vernunft 
         beschaffen ist. Wird man keine Kriege führen, weil es vernünftig 
         ist ? Wird man miteinander arbeiten können ohne ganze Völker an 
         den Abgrund ihrer Existenz zu drängen. Oder ist das alles eine 
         Art Vernunft der Natur, was wir heute besser vermeiden wollen ?!"
         Peter sah den Alten fragend und nachdenklich an. Dieser sprach
         weiter:" Sehen Sie, ein neuer Napoleon wird nicht so deutlich 
         sichtbar sein. Immerhin haben wir in Europa erst nach zweitausend 
         Jahren von Buddha erfahren." "Aber Buddha war doch völlig in sich 
         gekehrt; hingegen Napoleon...". "Sie sind nicht so sehr ver-
         schieden, wie es aussieht. Die Länder Europas sollten erobert 
         werden um die Zivilisation auszubreiten, letztlich um den Geist 
         hinaufzuheben. Buddha wollte die Menschheit von oben ordnen, ein 
         Geist, der die Länder ebenfalls erobert hat." Nun stockte der 
         Alte, Peter sah ihn an. Dann sprach jener weiter, als ob er 
         Peters Gedanken erraten hätte und darauf antworten würde:" Sie 
         können sagen, beide sind nicht ganz zu ihren Zielen gekommen,- 
         das mag sein. Irgendetwas ist nicht zuende gedacht. Oder, gesetzt 
         es lag alles an den Menschen, die nicht mitgehen konnten wohin 
         die Großen vorangegangen waren. So fehlten also wichtige 
         Entwicklungsschritte. Die Erziehung der Menschen ist noch nicht 
         weit genug vorangebracht." Peter hatte einen Einfall." War der 
         geheime Motor in Rousseau vielleicht die Absicht, die Menschheit 
         zu erziehen, alle, nicht nur die Kinder ?" Der Alte lachte und 
         sprach:" Aber gewiß ! - Wir wissen es nicht ganz genau, aber ich 
         denke, es war so." Er blickte Peter an, so gut es der Verkehr 
         erlaubte von der Straße wegzusehen und sprach weiter:" Sie haben 
         gute Chancen voranzukommen bei der Eroberung dieser Länder." 
         Damit zeigte er auf seinen Kopf. Nun kamen sie in einige kleine 
         Ortschaften, sodaß der Verkehr zunahm und der Alte sich mehr 
         darauf konzenztrieren mußte.
         Nachdem sie in Arles angekommen waren, trennten sie sich,
         Peter und der Alte. Bis in die späte Nacht hinein saß Peter in
         den Bistros der Stadt. Dann aber zog es ihn hinaus. Er ging in der
         lauen Nachtluft die Straße in Richtung Süden aus der Stadt hinaus.
         Zigallen und andere Insekten girrten, Sterne kamen herauf, dann
         der abnehmende Mond. In einer seltsamen Empfindung vermeinte
         Peter, die Silhouetten der Nacht würden von ihm eingesogen oder
         er selbst würde sich ausbreiten und die Landschaft überdachen, ein
         Geist der den Äther überschritt, selbst Äther war und über-
         wölbender Sternenraum. Er sah sich, in sich den Raum der Sterne, 
         ringsumher die unzähligen kleinen atomaren Feuer der Sonnen und 
         an einer Stelle die große Sonne selbst, blendend, aber eine klare 
         Scheibe inmitten eines schwarzen Sees. So fühlte er sich selbst 
         entzündet, wie große Sonnen geboren werden. Von diesem 
         Augenblick an entsteht eine neue Welt. Weil aber die Sonne nichts 
         weiß von dem, was vor ihrer Geburt gewesen wäre, so war nichts,- 
         und so fühlte sich in dieser nächtlichen Kugel Peter selbst. 
         Nun war er da, nun begann überhaupt für ihn alles.
         Er war irgendwo am Straßengraben eingeschlafen. Das Erwachen war
         fröstelig und mühsam. Sein rechter Arm war taub und einge-
         schlafen, der linke Füßknöchel gezerrt. Er rappelte sich hoch 
         und fühlte sich verkatert, - der Rausch war vorrüber. Wie er an 
         der erwachenden Landstraße so entlangschwankte, erinnerte er sich 
         an ein frühes Erlebnis in der Schreinerei seines Vaters. Er war 
         etwa acht Jahre alt und schon geschickt im Umgang mit Stecheisen 
         und sogar der gefährlichen Bandkreissäge. Aber an einem dieser 
         Tage griff er unglücklich in die große Schleifscheibe der 
         Schleifmaschine und riß sich dabei den Nagel des linken Ring-
         fingers von der Fingerkuppe herunter. Und das obwohl die Maschine 
         stand. Er hatte sich zu sicher gefühlt, seine frühen Fertigkeiten 
         waren noch nicht wirklich sein Eigentum geworden. So auch 
         erschien ihm im Licht dieses Morgens das Empfinden der 
         vergangenen Nacht. Worauf, so dachte er, vermochte er wohl 
         zurückblicken, wenn er sich so besah. Alles war doch ungeklärt. 
         Also begab er sich wiederum auf Suche, nachdem er doch schon 
         beinah alles gehabt hatte.
     
         Als die ersten Autos die Straße belebten, hielt der den Daumen 
         heraus und wurde kurz darauf von einer Frau mittleren Alters in 
         ihrem Peugeot mitgenommen. Gegen Mittag kam er nach St. Remy.
         Er verabschiedete sich, sprang aus dem Wagen und setzte sich auf 
         einem Platz in der Ortsmitte auf einen Stuhl eines Bistros. Die 
         Sonne schien, es wurde warm, der kleine kugelige Wirt kam, nahm 
         die Bestellung auf und brachte einen Kaffee. Nach einer Weile kam 
         ein junges Paar hinzu und setzte sich an den Nebentisch. Schon 
         nach wenigen Minuten begann ein freundliches Wortgeplänkel. Die 
         junge Frau, immerhin gemessen an Peters jungenhaftem Alter eine 
         richtige Frau, studierte an der Universität von Nanterre 
         Philosophie. Ihr Begleiter hielt sich sehr zurück, lächelte 
         freundlich und hörte einfach nur zu. Was er tat und war, kam 
         nicht zur Sprache. Die junge Frau sagte nun:" Sie befassen sich 
         mit philosophischen Fragen, das ist sehr interessant. Die 
         verflossene Zeit beschäftigt Sie, habe ich das so richtig ver-
         standen ?". Peter erwiderte:" Es ist genau genommen die 
         Erinnerung, die mich beschäftigt. Ich denke, daß ich außer meiner
         Erinnerung nichts besitze von der verflossenen Zeit. Aber was ist 
         das, was ich mir erinnere ? Ist das so eine authentische 
         Wiederholung des Gewesenen ? Ist das eine Art Film, 
         Dokumentarfilm ?" Die Frau entgegnete nach einer Pause des 
         Nachsinnens:" Das ist die Frage,- wenn wir das wüßten, wäre 
         manches der großen Rätsel unseres Lebens gelöst. Sehen Sie das 
         auch so?" "Ich habe das Gefühl, daß sich eine wichtige Sache 
         dahinter verbirgt. Manchmal ist mir das Erinnerte sehr lebendig. 
         Ich denke, so ist es gewesen, genau so. Aber es gibt auch
         Bilder und Erinnerungen, die sind bestimmt verklärt, verfärbt.."
         "Vielleicht sogar gefälscht ?", warf die Frau ein. Peter stutzte 
         und frug:" Wie meinen Sie das gefälscht ?" Sie erwiderte:" Ich 
         habe manches Häßliche vergessen und umgewandelt in meiner 
         Erinnerung. Es gibt schreckliche Bilder, die mich verrückt machen 
         würden, wenn sie noch genau so in mir erinnert würden, wie ich 
         sie erlebte." "Aber kann man das feststellen, daß sich die 
         Erinnerung zu etwas Anderem verwandelt hat als das, was wirklich 
         geschah ?" Noch bevor eine Antwort kam, sprach er wie zu sich 
         selbst gewandt weiter:" Doch, das gibt es. Ich hatte ein Mädchen 
         getroffen, als ich vierzehn war, wir saßen beieinander, in einer 
         kleinen Waldhütte. Wir trennten uns dann... Es war nicht so groß 
         und schön, wie ich es mir später so zurecht gemacht habe..." 
         Der Wirt brachte die Getränke für das freundliche Paar. Der 
         Begleiter der jungen Frau richtete nun eine Frage an sie, die 
         ihre weiteren Pläne für diesen Tag betraf, sodaß das Gespräch 
         eine andere Richtung nahm. Als Peter diese persönliche Wendung 
         zwischen den Beiden als doch endgültig aufgenommen und 
         interpretiert hatte, dachte er, es sei gut weiterzuziehen.
         Gegen Nachmittag stand Peter wieder auf der Straße und hielt
         die Hand heraus um mitgenommen zu werden. Da erschien der
         Renault des alten Mannes aus Avignon und hielt an. "Nun mein 
         Freund, Frankreich ist nicht so groß, wie man denkt. Wohin soll 
         es diesmal gehen?" "Zu den kleinen Bergen, ich glaube Alpilles 
         heißen sie." Der Alte meinte:" Da gerade muß ich nicht hin, aber 
         wie wäre es mit der Camarque?" "Das wäre prima, ich könnte 
         einfach zuerst in die Camarque fahren und später in die Berge." 
         So fuhren sie also los. Da der Alte kein Mann der großen Eile war,
         hielt er kurz darauf in einem kleinen Ort an und ging mit Peter
         in einen Bistrot. Dort saßen sie in der Spätnachmittagssonne bei
         einem Espresso. "Das ist ja ein Zufall", meinte Peter, "daß
         wir uns hier so schnell wiedersehen." "Na ja", meinte der Alte, 
         "so ganz zufällig ist das nicht. Sie haben mir ja gesagt, sie
         wollen in die Camarque." "Sind sie nachsehen gefahren, wo ich 
         bin ?", frug Peter. "Ich hatte eine Menge Zeit, das Wetter ist 
         schön.. In der Camarque kenne ich einige Leute, gute Freunde. 
         Kommen Sie einfach mit !" Bald darauf fuhren sie weiter. Gegen 
         Abend wurde die Landschaft flacher, die ersten Schilfflächen 
         kamen in Sicht. "Nun sind wir bald da. Sie sehen die typischen 
         Ausläufer des Deltas. Bald gibt es nur noch Schilf und magere 
         Steppenlandschaft." Nun überlegte der Alte und frug dann Peter:
         " Sie suchen nach einer Lösung der Lebensrätsel,-das steckt hinter 
         ihrer Reise." Peter erwiderte:" Ich habe schon einmal gedacht, es 
         sei alles ganz einfach. Ich sah überall einen gleichen 
         Mechanismus: Produktion eines Produzenten innerhalb seiner Welt, 
         Gleichsetzung von leicht veschiedenen aber doch ähnlichen 
         Elementen, dann Erzeugung von etwas Neuem." "Also keine Wirklich-
         keit... aber in Ihrem Land ist doch das Sein, die Wahrheit... das
         sind sehr deutsche Kategorien", warf der Alte ein. Peter sagte 
         darauf:" Es ist alles nicht das, was es ist..." Der Alte war 
         erstaunt:" So denken Sie, in ihrem Alter. Entschuldigen Sie, ich 
         wundere mich sehr." "Ich habe es gelesen, aber es erschien mir 
         zwingend." Der Alte blickte suchend aus dem Wagen, dann sagte 
         er:" Dort ist es, wir sind da."
         Am späten Abend ging Peter allein in die Landschaft hinaus.
         Inmitten der Ebene sah er im Mondlicht eine Gruppe hoher Palmen.
         Er ging dorthin und kam an einen Teich. Schilf wuchs an einigen
         Stellen. Das Graugrün der Palmenblätter wurde vom Blaugrau der
         Nacht durchbrochen. Er sah den Mond, gleißend hell. Es zog hinauf.
         Er wünschte sich Flügel zu haben,- aber er setzte sich in das
         Gras am Fuße einer Palme. Der Wind war stetig und mild, irgendwo
         standen Flamingos...
         " Aber sind sie nicht unendlich traurig ?", sprach eine Stimme zu
         Peter. Der guckte verwundert in die Richtung, von der er sie 
         gehört hatte und sah einen Soldaten mit einem römischen Helm auf 
         dem Kopf, auf diesem Heln ein Federbusch. Peter dachte an die
         Theaterkulisse von Orange und vermutete einen der Darsteller in
         dieser Erscheinung. Er begrüßte den Fremden und frug:" Wer ist 
         denn traurig ?" Der Fremde erwiderte:" Sehen Sie die Mauern von 
         Tarascon, den Stadtbogen von Orange, diese Palme. Sehen Sie alle 
         diese gelungenen Bilder einer schon beendeten Bewegung." Peter 
         vermochte nicht ganz zu verstehen. Deshalb sagte er:" Ich kann 
         selbst schon traurig sein und in den Gebäuden etwas von mir 
         wiederfinden. Ist es das ?" Der Soldat erwiderte:" Es sind immer 
         wieder die Produkte unseres Tuns, sie werden vollendet, ab-
         geschlossen, entgleiten uns. Nicht nur die Länder, kaum daß sie 
         kultiviert wurden, zerfallen sie wieder. Es widerfährt auch den 
         Gebäuden. Ich stand am Fuße der Pyramiden. Drei Jahrtausende 
         blickten auf uns hinab. In dieser Distanz erscheint der Zerfall 
         wie ein Ascheflug. Sie sehen zu dem Mond.. Wir hatten auch 
         unseren Mond, unseren ganz besonderen Mond. Kaum war er erreicht, 
         so entglitt er uns." "Sie meinen Europa?", frug Peter, dem der 
         Gedanke gekommen war, der Soldat spräche von den Feldzügen 
         Napoleons. Der Fremde sprach: " Nicht nur Europa. Damals war 
         Europa noch die ganze Welt. Sie werden den Mond ebenfalls 
         ereichen, ganz konkret werden Sie ihn betreten, eine Flagee dort 
         aufstellen,- und dann wird es vorbei sein. "Peter glaubte zu 
         wissen, was der Soldat meinte. Dieser sprach weiter: "Unter den 
         produktiven Menschen gibt es zwei Grundtypen, der eine erschafft, 
         greift zu und hält niemals an. Würde er sich besinnen, der 
         Schauder würfe ihn aus der Bahn,- oder vielleicht würde er nur 
         zögernd.- Auch dann wäre er verloren. Der andere Typus blickt
         überall hin, er ist selbst ein dauerndes Anhalten und Betrachten.
         Kaum hat er den Schlüssel der großen Lösung der Weltenrätsel
         gesehen, erkennt er doch wieder nur sein eigenes geistiges Produkt.
         Es endet jedesmal in der gleichen Weise: Wir erreichen und
         vollenden und verlieren. Deshalb sind die Gebäude und die
         anderen Spuren der Geschichte traurig."
         Peter dachte, der Soldat wolle auch sagen, daß der Betrachter und
         seine Objekte dasselbe seien. Denn nur dann konnte er sich
         nachvollziehen, daß Gebäude traurig wären. Deshalb frug er:" Täter
         und Tat und Produkt sind eins ?" Der Soldat erwiderte:" Ja!"
         Damit wandte er sich seitwärts und verließ den Platz.
         Der nächste Tag war hell und heiß. Bereits beim Frühstück auf
         einem Gartenstuhl vor einem alten verfallenen Hotel am Nordrand 
         der kargen Chamarqueebene stach die Sonne und die Luft flimmerte.
         Peters Nase war gerötet und brannte. Deshalb machte er sich aus 
         einem Stück Pappe und einem Gummiband einen Nasenschutz. Einen 
         alten Strohhut hatte er an der Straße gefunden, den er jetzt 
         aufsetzte. Derart geschützt bekam er Lust durch den Tag zu gehen 
         und der Hitze eine gewisse Gleichgültigkeit entgegenzubringen. 
         Er ging über die Feldwege, zwischen Gärten und bebauten Feldern 
         hindurch bis er in die trockene Savannenlandschaft kam, die 
         trotz der nahen Rhone ausgedorrt war. Streckenweise verflog der 
         klebrige Schweiß unter seinem Hemd durch den Wind. Dann war es 
         angenehm. Andere Strecken waren voll stehender Gluthitze. 
         Leichter Schwindel überkam ihn für Augenblicke, aber er ging 
         weiter. Auf eine ihm nicht bisher bekannte Art wurden die 
         Gedanken unspürbar. So zwischen Halbbewußtheit und indifferenten 
         Tagtraumbildern wandelnd, schien er zeitlos und wunschlos zu sein.
         Ziemlich ermattet ging er am Abend am Nordrand der Chamarque
         zurück in das kleine Hotel, es ähnelte den Pensionen in den
         Einfamilienhäusern des Bergischen Landes. Dort war er zugleich
         schon wie ein Mitglied der Familie. Dennoch achteten die Leute auf
         Distanz, jene Achtung vor der persönlichen Freiheit, die 
         vielleicht ein Resultat der Aufklärung war. Peter hatte es einmal 
         irgendwo gelesen, daß dieses Volk von Philosophen erzogen worden 
         war. Er fühlte sich wohl, aber auch existenziell allein, eine 
         befreiende Art der Einsamkeit inmitten freundlicher Menschen. 
         Am anderen Tag ging er in nördlicher Richtung davon. Die Luft war
         angenehm frisch. Er hielt die Hand heraus, bald hielt ein Wagen 
         und nahm ihn mit. Der Fahrer war ein feiner Herr, das Auto ein 
         ganz großer, sanft dahinschwebender Luxuswagen. Bald entwickelte 
         sich ein Gespräch. Der Herr sagte:" Wohin wollen Sie gehen ?" 
         Peter erwiderte:" Ich würde gerne zum Gard, eigentlich auch zu 
         der alten römischen Wasserleitung." "Ah, sie meinen den Pont du 
         Gard. Da kann ich Ihnen behilflich sein. Wenn ich einen kleinen 
         Bogen fahre, kommen wir dort vorbei." "Das ist prima", entfuhr 
         es Peter. Der Herr sprach weiter:" Ich bin selbst beinah ein 
         Tourist in meiner Heimat geworden. Seit über zwölf Jahren lebe 
         ich in Paris. Bei Nimes wohnte mein Vater. Dort steht seine alte 
         Mühle. Ich fahre ein-, zweimal imJahr dorthin. Weiter nördlich 
         im Zentral-Massiv steht noch ein sehr altes und sehr instabiles 
         Haus meines Großvaters, des Vaters meiner Mutter." "Warum ist das 
         Haus instabil ?" " Wenn Sie noch nicht dort gewesen waren,- nun, 
         die armen Bauern dort bauten ihre Häuser aus kleinem  Felsgeröll,- 
         es sind selten große Steine dabei. Da sie arm waren, schichteten 
         sie das Geröll kunstvoll zu Mauern aufeinander, ohne Verwendung 
         von Zement, oder unter Verwendung von sehr wenig Zement. Es ist 
         nicht selten, daß Häuser dort zusammenfallen." Peter war sehr
         interessiert. Deshalb frug er:" Leben Sie auch ab und zu dort ?"
         "Nein, ich besuche das Dorf manchmal. Es ist ein sterbendes Dorf.
         Die jungen Leute bleiben nicht dort, sie gehen in die größeren 
         Städte, nach Toulouse und in andere. In Toulouse wird sehr viel 
         Industrie angesiedelt, dort gibt es Arbeit.- Wissen Sie was, wenn 
         Sie wollen, begleiten Sie mich dorthin." Peter zögerte nicht und 
         antwortete:" Gern, es interessiert mich sehr."
         Peter saß im Sand an der Atlantikküste bei Arcachon. Er ritzte
         Figuren mit einem Stock in den Sand, sprang hoch, lief ins Wasser,
         warf sich in die Wellenkämme hoch hinein, ließ sich aufwärts 
         tragen, fiel mit den Schaumkronen hinab, tauchte unter den 
         Wellenbergen hindurch, in einem Wellental wieder auf. Dann wieder 
         hoch, hinauf, hinab. Schließlich war er im seichten Wasser, lag 
         im Sand, stand auf und ging wieder zu seinem Stock und den 
         eingeritzten Figuren zurück. Der nette Herr stand bei ihm und 
         sprach: "Dieser Abstecher an die Küste paßt genau zur Jahreszeit. 
         Aber wir werden doch morgen ins Zentral-Massiv fahren. Er sah 
         Peters Zeichnung, betrachtete den nassen Körper und erzählte:
         " Gewiß ist genau so einmal in vorgeschichtlicher Zeit die 
         Ästhetik in die Menschheit eingetreten. Heute haben wir die Kunst. 
         Wir hatten große Werke, Sprache, Bild, Musik..." Peter frug:
         " Wie meinen Sie das: die Ästhetik hat genau so angefangen ?" 
         "Wie Sie!" "Wie ich ?", frug Peter und staunte. Der Herr sprach 
         weiter:"Das war die Lebensfreude, der spontane Akt, wie Ihr 
         Wellenspiel und diese Figuren im Sand. Später hat man die Kunst 
         in Werke eingeschlossen. Das war auch eine Errungenschaft, aber 
         doch nur möglich, weil unterdessen Künstler hervorgebracht worden 
         waren neben den gewöhnlichen Sterblichen." "Sie meinen die 
         Arbeitsteilung ?" Der Herr erwiderte:" Es mag Zeiten gegeben 
         haben, wo das Werk alles überstieg: Beethoven in seiner 
         3.Synphonie, daneben stand Napoleon. Aber auf Dauer wird nicht 
         ohne Folgen Kunst produziert für triviale Menschen." Peter sah 
         nachdenklich zu Boden. Der Herr sprach weiter: "Ihr Friedrich hat 
         einmal geschrieben, das Dasein sei nur als ästhetisches gerecht-
         fertigt. Das war ein treuer deutscher Satz. Was sollte je 
         gerechtfertigt werden müsssen oder sollen ?.. Aber besser ist es 
         nicht zu sagen. Der eruptive Akt des Hierseins ist nicht zu 
         überschreiten... Nun, es gibt auch ganz andere Auffassungen. Wir 
         wollen nicht "Recht" behalten." Peter sagte spontan:" Das ist es 
         vielleicht, - das habe ich so gefühlt, konnte es aber gar nicht 
         sagen." Nun gingen die Beiden zum Auto zurück. Peter zog seine 
         Jeanshose und ein dünnes Hemd über seine nasse Badehose. Dann 
         fuhren sie los. Nach einigen Kilometern bog der Fahrer von der 
         Straße ab und fuhr auf einen schmalen Weg, der in einen Kiefern-
         wald hineinführte. Dabei erklärte er:" Wir gelangen gleich auf 
         einen Hügel, direkt am Meer. Bevor wir ins Gebirge fahren, möchte 
         ich Ihnen  etwas zeigen." Kurz darauf hielt der Herr an und ging 
         mit Peter auf die Hügelkuppe. Dort standen keine Bäume und unten 
         war das Meer zu sehen. Der Herr sah auf die Uhr und sagte:" Wir 
         sind richtig, achten Sie auf diese kleine Einbuchtung, dort unten 
         sehen Sie gleich etwas, das wie ein großer Fisch aussieht." Peter 
         sah an die genannte Stelle, sah aber noch nichts. Dann auf einmal
         schwamm unter der Wasseroberfläche ein langer schmaler Schatten
         hervor. Er kam von irgendwo am Küstensaum, aber die Stelle,
         von der der Schatten kam, war nicht einzusehen. Peter frug:
         " Ist das ein Fisch, ein Walfisch oder so etweas ?". Der Herr
         sprach:" Sehen Sie einmal oben." Nun sah Peter eine längliche 
         Ausbuchtung in der Mitte, die nach oben ragte. "Es ist ein U-boot,
         entfuhr es ihm". "Ja, es ist ein Atom-U-Boot, eines der modernsten
         der Welt. Es trägt mehrere Atomraketen, den potentiellen Tod
         ganzer Länder." Peter erschauerte bei diesen Worten. Der Herr
         sprach weiter:" Es wissen nur Eingeweihte, daß hier die U-Boote
         ausfahren." Damit wandte er sich zurück um zum Wagen zu gehen. 
         Peter ging mit und dann fuhren sie weiter.
     

         Während der Fahrt zum Zentralmassiv gingen Peter einige
         Merkwürdigkeiten durch den Kopf. Wieso wußte der freundliche
         feine Herr von der Stelle an der Küste, wo die Atom-Uboote hinaus-
         fuhren, obschon es nur Eingweihte wissen konnten. War er selbst
         ein Eingweihter ? Wenn er einer war, wieso und was tat er eigent-
         lich. Nach einigen Stunden gelangten sie an die Serpentinen, die
         ins Gebirge hinaufführten. Peter gab sich einen Ruck und fragte
         geradeheraus:" Wieso wußten Sie, daß die Atom-Uboote dort 
         ausfuhren ?" Der Herr lächelte etwas und erwiderte:" Nun, es ist 
         mein Beruf, das zu wissen". Peter guckte ihn fragend an. Der Herr 
         sprach weiter:" Wenn Sie nicht aus Deutschland wären sondern ein 
         junger Mann aus Paris, wüßten Sie, daß ich der Verteidigungs-
         minister der Französischen Republik bin." Peter war sprachlos. 
         Er wandte sich zum Fenster weg um nicht mit offenem Mund den 
         Herrn anzustarren. Dieser sprach weiter:" Es hat mir gefallen, 
         daß Sie mich nicht erkannt haben. Ich bin gewissermaßen 
         vorschriftswidrig unterwegs. Ich habe den ganzen Bewachertross 
         in Perpignan gelassen. Man wird mich ganz schön zurechtweisen, 
         wenn ich wieder zurück bin." Nach einigen weiteren Stunden 
         gelangten sie in ein kleines sehr einsam gelegenes Dorf auf 
         einer Art Hochebene. Es gab ringsumher einige sehr magere kleine 
         Felder, die mit Geröllmäuerchen umrahmt waren. Peter frug:
         " Warum haben die Leute diese Mauern um die kleinen Felder 
         aufgeschichtet ?" Der Herr antwortete: "Sie würden es lieber 
         nicht machen müssen. Aber der Boden besteht fast ausschließlich 
         aus diesem Felsgeröll. Es gibt nur eine sehr magere Erdkrume, 
         die erst frei wird, wenn einige Zentimeter Geröll abgetragen 
         sind." "Aber das ist ja eine schlimme Arbeit ?", entfuhr es Peter. 
         Der Herr antwortete:" Das ist es, und bestimmt ist dieser Umstand 
         auch einer der Gründe, warum die Dörfer aussterben." Nun waren 
         sie an einem Häuschen angelangt. Eine alte Frau kam heraus und 
         begrüßte die Beiden. Es wurde vereinbart, daß Peter über Nacht 
         in einem der Häuschen schliefe, während der Herr in einem weiter 
         unterhalb gelegenen kleinen Ort ein Hotelzimmer nehmen würde. 
         Am anderen Tag wollten sie dann wieder zurückfahren.
         Ein Freund des Herrn kam ebenfalls aus der Tür und nahm die 
         beiden Fremden mit ins Haus hinein. Dort stellte sich die Familie 
         vor. Es waren nur noch drei Alte von ihr übrig geblieben: der 
         Mann, seine Frau, beide über sechszig Jahre alt und die Schwester 
         des Mannes, etwa im selben Alter. 
         Die beiden Gäste erhielten Salat, Brot, Käse, Wein und Gemüse.
         Dann verabschiedete sich der Herr und ließ Peter bei den Alten
         zurück. Das Gespräch, welches sich nun entwickelte, hatte 
         besonders Peters Heimatstadt zum Gegenstand. Der alte Mann war 
         als Kriegsgefangener in Düsseldorf gewesen. Er sprach davon ohne 
         Verbitterung, meinte aber, es wären nicht alle Gefangenen in 
         Deutschland in einer so relativ guten Lage gewesen wie er selbst.
         Schließlich wurde Peter zu einem Haus gebracht, welches leer stand
         und ihm als Nachtplatz zugedacht war. Als er dann allein in dem
         großen dunklen Raum stand, aus den das Haus im Erdgeschoß bestand,
         erschrak er sehr. Der Raum war übersäät von den Kotkötteln der
         Ratten. Es mochten Dutzende dort irgendwo hausen. Der Raum war
         praktisch leer. Eine der Wände hatte den eingebauten Kamin. Es gab
         einen alten leeren Schrank, einen Stuhl und ein Drahtgestell,
         welches einmal als Liege gedacht war. Peter ging in das einzige 
         Stockwerk hinauf. Dort waren drei kleinere Zimmer, alle im 
         gleichen schlimmen Zustand wie der Raum unten.
         Da er aber sehr müde war, legte er sich in seiner Decke auf das
         Drahtgestell und versuchte zu schlafen. Er döste so vor sich hin,-
         dann raschelte es, dann raschelte es lauter, knackte und scharrte.
         Ohne Zweifwel waren die Ratten  unterwegs. Peter schrak hoch, 
         blieb minutenlang aufgestützt sitzen. Aber die Müdigkeit war 
         stärker. Er legte sich wieder hin. Kaum lag er, wurde das Rascheln 
         und Knacken wieder lauter. Wiederum schrak er hoch, die Geräusche 
         erstarben. Er legte sich nochmals hin um bald darauf wieder 
         hochzuschrecken. So ging das einige Male, bis er doch noch für 
         eine längere Weile einschlief. Der große Raum wurde heller, da 
         der Vollmond mehr und mehr in das Fenster zum Süden hineinschien. 
         Peter wurde wach, konnte nicht mehr schlafen, und zog sich an. 
         Er ging aus dem Haus hinaus. Das Dorf lag im Mondlicht ohne 
         jegliches Lampenlicht wie schon seit Jahren ausgestorben. Die 
         Hochebene mit ihren Geröllmauern und Felshügeln war ruhig und 
         ohne Leben.- scheinbar. Peter hatte eine Weile so gestanden, als 
         er einen Lichtschein am Horizont wahrnahm, der kam und ging, aber 
         allmählich, nicht wie die Scheinwerfer von Autos etwa. Peter ging 
         in die Richtung. Obgleich er sich fürchtete und sein Herz deutlich 
         klopfen spürte, ging er in die Richtung des Lichtes. Es war ein 
         weiter Weg. Nach etwa einer halben Stunde glaubte er, noch immer 
         nicht näher an das auf und abschwellende Licht herangekommen zu 
         sein. Er ging weiter. Schließlich kam er an einen hohen Zaun. 
         Schilder wiesen auf etwas hin. Er konnte sie nicht lesen, denn 
         das Mondlicht stand nicht auf den Vorderseiten der Schilder. 
         Peter dachte aber, es sei hier ein Sperrgebiet. Er hatte einmal 
         davon gehört, daß im Zentralmassiv die großen französischen 
         Atomraketen stationiert sind. Nun glaubte er den Grund zu 
         erkennen, warum der Herr, der ihn  mitgenommen hatte und 
         Verteidigungsminister war, hierhin gefahren war. Er dachte, 
         vielleicht war er gar nicht zum Vergnügen hier, sondern aus 
         dienstlichen Gründen. Peter erkannte nun einige flache Gebäude 
         weit hinter dem Zaun. Es öffnete sich eine Tür, eine Gestalt kam, 
         nein torkelte heraus und stürzte zu Boden. Eine weitere Gestalt 
         kam heraus und stürzte ebenfalls zu Boden. Peter dachte, es sei 
         dort etwas Schlimmes vorgefallen. Er kletterte über den Zaun, 
         sah die elektrischen Drähte, aber er hatte sie schon berührt. Es 
         geschah ihm aber nichts, es war keine Spannung da. Als er den 
         Zaun überwunden hatte und sich dem Gebäude näherte, sah er neben 
         einigen Lastwagen auch ein Auto, welches jenem glich, daß der 
         Verteidigungsminister gefahren hatte. Peter ging zu der offenen  
         Tür des Hauses, sah hinein und sah eine Wand voller beleuchteter 
         Schalttafeln und Bildschirme. Auf einem der Schirme war ein Teil 
         des Mondes abgebildet. Ein anderer Schirm zeigte eine Karte mit 
         markierten Punkten. Nun sah er auf einem Sessel vor den Schalt-
         tafeln eine eingesunkene Gestalt. Peter ging näher und erschrak 
         sehr. Dort saß der Verteidigungsminister und kämpfte mit der 
         Ohnmacht. Aber er hatte Peter gesehen. "Mein Freund", sprach er 
         ihn mit schwerer Stimme an: "Gas, es war Gas..." Dann sackte er 
         zusammen.  Peter suchte Wasser. Er fand aber nur eine halbvolle 
         Weinflasche. Um den Bewußtlosen wiederzubeleben, schüttete er 
         ihm etwas Wein ins Gesicht. Der Mann kam noch einmal zu sich und 
         sprach:" Sehen Sie den Schlüssel unter dem roten Hebel dort.." 
         Peter sah vor dem Stuhl am Schaltpult ein Schloß, in welchem ein 
         Schlüssel steckte. Darüber war ein roter Hebel angebracht, der 
         sich nach unten umstellen ließ. Der Herr kam wieder etwas zu 
         sich und sagte:" Dort auf dem Mond sind gefährliche Dinge 
         passiert. Etwas ist dort niedergegangen, - ein unbekannter 
         Körper voller Viren. Unsere Astronauten sind sofort gestorben, 
         als sie die Viren abbekamen. Eine unserer Großraketen soll 
         dieses Gebiet auf dem Mond sterilisieren. Heute soll die 
         Rakete gezündet werden, deshalb bin ich hier." Damit sackte er
         vom Stuhl herunter. Peter hielt ihn so gut er konnte und milderte 
         den Sturz. Der Mann lag nun auf dem Boden. Peter rief:" Wachen 
         Sie auf, wachen Sie auf.." Der Herr wurde noch einmal wach. Er 
         sah Peter an und sprach:" Es ist keiner mehr wach von der 
         Station. Die Rakete muß starten. Der Körper auf dem Mond bewegt 
         sich innerhalb des Gebietes. Möglicherweise kommt er zur Erde 
         hinab. Sehen Sie den Schlüssel. Die Startzeit ist 4 Uhr 10 
         gewesen. Es kann noch möglich sein, das Gebiet auf dem  Mond zu 
         treffen. Drehen sie den Schlüssel einmal herum und ziehen Sie 
         dann den Hebel nach unten !" Peter tat, wie ihm gesagt worden war. 
         Er drehte den Schlüssel herum. Sogleich sprang irgendwo eine 
         Turbine an. Sie jaulte ohrenbetäubend. Dann riß er den Hebel nach 
         unten. Die Turbine schien unter der Last langsamer zu laufen, 
         dann schaltete sie ab. Auf einem der Bildschirme war ein 
         leuchtender Punkt zu sehen. Eine Linie wurde projeziert, die auf 
         dem Schirm mit der Mondabbildung wieder auftauchte und in einem 
         bestimmten Winkel in ein Gebiet zielte, welches voller kleinerer 
         Krater war. Möglichweise ein Gebiet auf einer Mondhochebene. Der 
         Herr war noch einmal bewußtlos geworden. Peter schüttelte ihn und 
         sagte:" Der Schlüssel ist umgedreht und der Hebel ist nach unten 
         gestellt." Der Herr sprach unter größter Anstrengung:" Gut, dann 
         wird es noch gelingen..." Damit kippte er von der Seite auf den 
         Rücken, Peter dachte, er wäre tot. In Panik sprang er auf und 
         rannte auf den Zaun zu, kletterte darüber und lief über die 
         Geröllebene zum Dorf zurück. Von Osten kamen die ersten 
         Lichtstreifen, mit denen sich die Dämmerung ankündigte.
         Peter erwachte auf der kargen Wiese liegend vor dem Haus, in dem 
         er vergeblich versucht hatte einzuschlafen. Er stand auf und ging 
         zum Haus der Alten zurück. Dort stand der Wagen des Herrn, der
         ihn hierher mitgenommen hatte. Kurz darauf kam auch er selbst aus
         dem Haus heraus. Er sprach:" Sie wundern sich, daß wir hier schon
         alle versammelt sind. Aber wir müssen heute früh wieder weiter-
         fahren. Kommen Sie mit ?" "Gern", erwiderte Peter. Als sie bald 
         darauf zusammen im Auto saßen, erzählte Peter von seinem Traum. 
         Der Herr hörte sich alles interessiert an und sprach:" So 
         unrealistisch war ihr Traum gar nicht, nur der Mond,- 
         dort wird alles so sein wie bisher."
     
         Peter war müde, bald vermischte sich sein Wachtraum mit dem Schlaf
         und wieder sah er sich in der Nacht vor dem Haus, in welchem er
         vergeblich versucht hatte einzuschlafen. In der Dämmerung vor dem
         kleinen Hügel am Haus stand ein alter Turm, nicht sehr hoch. 
         Es war der Überrest eines Festungsbaus. Peter ging dort hin. 
         Es war, als zöge ihn etwas in den Eingang hinein. Der Turm 
         war oben aufgebrochen, das Dämmerlicht des Himmels fiel herein. 
         Das alte Gemäuer war leer, aber in einer unscheinbaren 
         Mulde gegenüber des Eingangs saß eine Gestalt. 
         Peter erkannte an dem spitzen altindischen Hut die Sitharspielerin. 
         Sie saß dort, sah ihn nicht und zupfte an den Saiten 
         ihres Instruments. Peter blieb stehen. Verzaubert sah er sie an. 
         Er wollte sich ihr nähern, aber er wagte es nicht auch nur 
         zu atmen. Sie nahm ihn gar nicht wahr. Ihre braune kupferne Haut
         glänzte matt im Dämmerlicht. Ihr Busen hob sich leicht beim Atmen. 
         Sie wiegte ihren Kopf etwas, legte ihn zur Seite, sah etwas am 
         Hals ihrer Sithar nach. Peter vibrierte in einer Spannung aus
         Nähebedürfnis, Erregung und Hochstimmung. Er spürte, daß dieses
         wenig reale Ereignis keine Reaktion mehr würde benötigen. Die 
         Situation war vollkommen wie je nur eine Kugel sein kann. Also 
         blieb er stehen, rührte sich nicht und wünschte gar nichts mehr.
                              
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