Fred Keil  Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend
            Nr. 151                          Aachen Oktober 1981
                                             bis   November 1982
            Emil Fels (T)   gewidmet
            
            
            Dem Altbau gegenüber, in welchem ich meine Kindheit verbrachte,
            stand ein gelbes Fabrikgebäude aus der Gründerzeit. In der Mitte
            der Fassade war ein Ziergiebel angebracht, auf den Seitenflügeln
            thronten hohe, kunstvoll geschmiedete Blitzableiter. Der Sohn
            des Fabrikbesitzers hieß Tüppi und war genau so alt wie ich. Wir
            kannten uns aus der Zeit der ersten Schuljahre, waren aber nicht
            an einer gemeinsamen Schule. Tüppis Eltern hatten ein großes Haus
            neben der Fabrik. Ein Bau im Neoklassizismus der Gründerzeit mit
            einer phantastischen Rokkokoinnenausstattung. Die goldenen Stuk-
            ornamente versetzten mich in eine Märchenwelt, und ein wenig
            fühlte ich mich wie ein kleiner Prinz. Irgendwann, im Alter von
            acht Jahren, waren wir Freunde geworden, und Tüppi nahm mich mit
            ins Haus und in den großen Park, welcher dazu gehörte und etwas
            verwildert war. Ein leeres Zierwasserbecken stand dort inmitten
            der großen Rasenplätze, und der Zement bröckelte von den Schnör-
            keln des Beckenrandes ab. Eine hohe Steinmauer schloß das Gelände
            von der Hauptstraße ab, und so bestanden zwei getrennte Welten
            nebeneinander. Hier der Park mit der feudalen Atmosphäre, jen-
            seits die Hauptstraße mit ihren einfachen Häusern, Bürgervillen
            aus alter Zeit und der ärmlichen Vergangenheit meines Heimatortes
            Langerfeld. Der groBe Rasen im Park war von einer Allee hoher
            Kastanien eingefaßt. Am Ende, gegenüber dem Hause, stand ein
            kleiner Pavillion mit rostigen Gittern und von Efeu über und über
            bewachsenen und verwilderten Rosen. Auch hier bröckelte der
            Zement von den Pfeilern ab, sodaß eine wehmütige und zugleich
            süße Stimmung entstand, wenn ich gedankenverloren wor dem
            Pavillion stand. Halbwilde Katzen schlichen umher während wir
            zwei Indianer spielten.
            
            An einem dieser warmen Sommertage kamen wir auf die Idee, eine
            Hütte in der Erde zu bauen. Tüppi besorgte Schüppen, und bald
            hatten wir einen etwa einen Meter tiefen Trichter ausgehoben, in
            welchem wir Platz fanden. Aus alten Brettern und Teerpappresten
            bauten wir ein Dach, welches dann mit Erde bedeckt wurde, sodaß
            die Erdhütte von fern nicht zu sehen war. Begeistert hockten wir
            uns in das Loch, aber es fehlte noch die Innenausstattung. Ich
            kratzte Vertiefungen in die Wände, und Tüppi besorgte einige
            Dinge, die dort hinein gestellt wurden: Eine Taschenlampe, eine
            Hacke, ein alter Schuh. In dieser Zeit, etwa 1955, besaßen nur
            wenige Leute ein Fernsehgerät. Tüppis Eltern besaßen diese Sensat-
            ion. Mit lehmverkrusteten Schuhen und schmutzigen Händen gingen
            wir zwei am späten Nachmittag zum Haus zurück. Tüppi wollte mich
            zum Fernsehen einladen. Wir gingen durch den Park zu der breiten
            Freitreppe hin, welche an der Rückfront ins Haus hinein führte.
            Die große doppelflügelige Tür war geöffnet, und Tüppis Mutter saß
            dort vor dem Fernsehgerät. Sie war sehr schön. Ihre Haare fielen
            wellig lang und schwarz herab. Die dunkelroten vollen Lippen in
            der hellen Gesichtshaut erinnerten mich am das Märchenkind
            Schneewittchen. Ich war ohne es recht zu wissen in diese Frau
            verliebt. Manchmal kamen mich traurige süße Gefühle an, etwas
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            Trennendes lag zwischen ihr und mir; Sehnsüchte und unbestimm-
            bare Erregungen weckten ihr Antlitz, sodaß ich ungeschickt wurde,
            manchmal stolperte oder errötete, wenn sie sagte:" Gell', ihr
            werdet euch jetzt sauber machen und dann dürft ihr wiederkommen."
            Wir gingen dann in die Waschküche und wuschen den Lehm von
            Schuhen und Händen ab. Aber dennoch wurde es uns im Hause bald zu
            langweilig.
            Wir waren lebhafte und unternehmungslustige Kinder. Bei Regen
            zeigte Tüppi seltene Spielxeuge. So hatte er einen Vorführapparat
            für Trickfilme, in welchem Tiere vorgeführt wurden, die sich auf
            der Wand virklich bewegten. Aber sobald das Wetter es wieder zu
            ließ, liefen wir wieder in die Wildnis des Parks hinein. Wir
            suchten Reste von Waffen aus dem Krieg, weil Tüppi von seinem
            Kindermädchen gehört hatte, daß gegen Kriegsende einige Soldaten
            ihre Waffen im Park fortgeworfen hatten und sich verstecken
            wollten. Da fanden wir einmal eine Blechbüchse, die wie ein Ge-
            schoß aussah, ein andermal ein Eisenrohr.  Die unheimlichste
            Stelle im Gelände war ein steiler, etwa zwanzig Meter tiefer Fels-
            abhang, welcher einmal für die Eisenbahnlinie herausgesprengt
            worden war. Diese Schlucht reichte bis zu einem Tunnel, in welchem
            die Züge mit Pfeifen verschwanden. Tüppis Eltern hatten uns ver-
            boten dort zu spielen, aber wir waren viel zu mutig und gingen
            deshalb ab und zu dort hin, guckten mit Schauer auf die Gleise
            hinab und zogen uns rasch wieder zurück. Wenn am frühen Abend
            jeder von uns zurück ins Elternhaus mußte, brachte Tüppi mich vor
            das Tor, welches das Gelände von der Hauptstraße abschloß, und
            dort stand ich dann und war mit einem Schritt wieder heraus aus
            dieser Märchenwelt und Vergangenheit.
            
            In jenen Tagen fuhren nur wenige Autos durch unsere Straßen.
            Hinter dem dreistöckigen Mietshaus, in welchem ich aufwuchs, war
            eine Nebenstraße, deren Bürgersteige aus festgetretenem Lehm be-
            standen. Ein kleines Schieferhaus stand an "unserem Haus" ange-
            lehnt, dem folgte ein Park, welcher einem wohlhabenden Apotheker
            gehörte. Ein Zaun mit niedriger Mauer und Eckpfeilern schloß den
            Park von der Straße ab. Dem gegenüber war ein niedriger Bau, in
            welchem ein Kaplan wohnte. Davor gab es Rasenflächen, ein Zaun
            und ein Tor, welches immer geöffnet war. Dort anschließend waren
            kleine Gärten und ein altes Mietshaus, in welchem Herbie wohnte,
            der erste Kindfreund meines Bruders Friedhelm, der zwei Jahre
            jünger als ich ist. Ich erinnere mich sonniger Tage. Wir trugen
            kurze Hosen, der Bürgersteig war staubig. Wir spielten mit
            Heuern, so hießen bei uns die kleinen GLasmurmeln. Einer von uns
            ritzte mit einem Holzstück ein Dreieck in den Sand. An die Ecken
            legten wir jeder eine Murmel. Wer eine traf durfte sie alle be-
            halten. Ich stapfte mit den Füßen zornig auf den Boden, wenn ich
            alle meine Heuern verloren hatte. Und ich verlor oft, hatte kein
            Geld um neue Heuern zu kaufen. Da konnte ich meine Mutti bedräng-
            en, bitten, betteln, sie gab keinen Groschen,- sie hätte auch gar
            keinen geben können, denn es ging knapp zu bei uns zu Hause. Vati
            arbeitete bei Opa in der Schreinerei und fuhr mit einem drei-
            rädrigen Auto von Haus zu Haus, lieferte Möbelgestelle ab und
            transportierte für kleine Betriebe Waren zum Bahnhof. Vor
            "unserem Haus", in welchem wir zur Miete wohnten, wuchsen im
            Dreieck, wo die Haupt- und Nebenstraße zusammen trafen, niedrige
            Büsche. Eine dunkle Granitmauer, zu den Seiten niedrig, in der
            Mitte wie ein altes Grabmal hochgezogen, schloß das Fleckchen Erde
            von der Straße ab. Wir kletterten auf die Mauer und sahen auf die
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            Hauptstraße, die unter hohen Kastanienbäumen zur "Stadt" hin-
            führte, jenem Stadtteil Wuppertals, welcher ursprünglich, als
            "Barmen" eine selbständige Stadt gewesen war. Zur anderen Seite
            führte die Hauptstraße zum Mittelpunkt des Dorfes "Langerfeld",
            einem Marktplatz, uelcher schon lange kein Platz mehr war, an dem
            Markt gehalten wurde. Aber die Kirche stand da und einige sehr
            alte Fachwerkhäuser, die mit Schiefern beschlagen waren. Der
            innere Teil des Ortes zählte etwa 5 000 Einwohner, mit den Rand-
            siedlungen an den Berghängen waren es etwa 15 000.
            Unser Haus, die Kirche und der Hof waren die ersten Orte, in
            denen ich lebte. Der Hof war der aufregenste Ort meiner frühen
            Kindheit. Er maß nur drei mal fünf Meter, hatte eine Wäsche-
            stange und lag etwas tiefer als die Straße. Ich saß schon als
            Dreijähriger auf den Stufensteinea des Hofes und spielte mit
            kleinen Steinchen und Weinrebstöckchen, die herum lagen. Am
            Nachbarhaus wuchsen Weinreben, deren Blätter das erste Grün waren,
            welches ich als Kind kennenlernte. Dort fand ich auch eine dünne
            Glasstange. Ich wußte nicht, was das war, aber ich spielte damit,
            bis sie zerbrach und einen kleinen Schnitt in meinen linken Ring-
            finger ritzte. Das Blut tropfte heraus, ich lief aufgeregt ins
            Haus, durch den dunklen Hofflur, die Treppe zum 1. Stock hinauf,
            wo ich an der Etagentür stürmisch klingelte, bis Mutti aufmachte
            und meine kleine Verletzung behandelte. Sie nahm dererlei nicht
            tragisch, fast stets hielt sie meine Reaktionen auf Schmerzen
            für übertrieben, - sie war sicher keine übermäßig besorgte
            Mutter. Vielleicht steckte Vati dahinter, ein Mann von l,90 Meter
            Größe, tüchtiger Reiter und Schwimmer, der sich nicht schonte
            und deshalb auch bei uns Kindern keine Wehleidigkeiten duldete.
            Die kleine Verletzung von damals hat eine kleine Narbe hinter-
            lassen, die auch heute noch als Andenken geblieben ist.
            
            Vati lebte in einer aufregenden Welt. Ich war gerade fünf Jahre
            alt, als ich die Schreinerwerkstatt kennenlernte, in welcher Vati
            und Opa,- sein Vater war es, zusammen mit drei weiteren Gesellen
            Möbel herstellten. Die Schreinerei befand sich in einem flachen
            Schuppen, vor welchem das Trümmergrundstück eines im Kriege
            zerbombten Hauses lag. Der Werkraum war etwa zehn Meter breit
            und achtzehn Meter lang. Dort standen eine Bandsäge, eine Kreis-
            säge, eine hohe Schleifscheibe, eine Hobelbank mit einer Art
            Tunnel, durch welchen die Bretter gezogen wurden, eine Hobel-
            maschine mit offen laufender Messerwalze, eine Bohrmaschine,
            eine Horizontalbohrmaschine, vier Werkbänke und große Stapel von
            Holzbrettern, Haufen von Hobelspänen, die der Metzger für seine
            Räucherkammer wöchentlich abholte. Ich lief dort herum und
            spielte mit Hämmern, Holzplatten, Spänen. Vati hobelte einmal
            kleinere Bretter. Ich kletterte in den Sägespänehaufen hinter
            der Hobelmaschine und nahm die Bretter an, wenn sie aus der
            Maschine heraus geschoben wurden. Dann entdeckte ich Hammer und
            Stecheisen. Vati zeigte mir, wie das Stecheisen auf das Holz
            gesetzt wird und mit einem Hammerschlag eine Kerbe im Holz ent-
            steht. Ich lernte, aus den Kerben Linien zu machen, schließlich
            entstand auf einer glatten Holzplatte ein Bild aus Kerben: Sonne,
            Baum, Atompilz. Vati war geduldig. Wir gerieten nie ernsthaft
            aneinander. Wenn ich Werkzeug gebraucht hatte, dann mußte ich es
            wieder dort hin legen, wo es vorher gelegen hatte. Beim Holz
            mußte ich fragen, welche Stücke ich verwenden durfte. Das waren
            die einzigen Bedingungen, die mir gemacht wurden. Tageslicht
            fiel oben durch das Glasdach herein. Die Männer bauten Gestelle
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            für Sessel und Sofas. Wenn genug davon fertig waren, wurden diese
            hellen rohen Holzgestelle auf Vatis Dreirad geladen und zum Pol-
            sterer gefahren. Vor dem Arbeitsraum war eine winzige Wohnung mit
            zwei Zimmern. In einem davon stand eine alte Schreibmaschine, das
            Telefon und andere Dinge, die im Büro benötigt werden. Oma saß
            dort, schrieb Rechnungen aus und kochte neben dem Schreibtisch auf
            dem Kohleofen für die Gesellen und Untermieter. Es gab auch einen
            kleinen Prospekt, welchen Opa und Vati hatten drucken lassen. In
            ihm waren die Polstermöbel abgebildet, teils als rohe Holzge-
            stelle, teils mit Stoffen fertig hergestellt. Das Trümmergrund-
            stück zog uns an. Aber wir durften nicht in die freigelegten
            Kellerräume hineinklettern. Heimlich taten wir es doch. Alte
            verwitterte Rohre liefen dort her, teilweise war der Kellerboden
            freigelegt, teils mit Steinen zugeschüttet. Aus diesem Grundstück
            hatten Opa und Vati nach Kriegsende Steine geholt und den
            Schuppen aufgebaut, in welchem nun die Schreinerei und Omas und
            Opas winzige Wohnung war.
            
            Der halbe Ort Langerfeld lag in meinen ersten Kindheitsjahren in
            Schutt und Asche. Man lief durch zerbombte Häuserreihen und
            gleich dahinter begannen Wiesen und Wälder. Unsere Abenteuerlust
            fand die phantastischsten Möglichkeiten sich auszutoben. Wir
            kletterten, trotz strenger Verbote durch die Erwachsenen, in
            morsche Keller, durch halb zerfallene Wände. Unkraut wuchs
            überall, ab und zu fanden wir Reste des ehemaligen Innenlebens
            der Häuser: Lampenschirme, Lumpen, Stoffbänder, rostige Töpfe.
            Unser Herz klopfte jedesmal sehr, wenn wir in ein noch unbe-
            kanntes Gemäuer stiegen. Zwischen hohen Resten der Häuserfassaden
            lagen geheimnisvolle Löcher, die in dunkle Kellerräume hinab
            führten. Duft von Unkraut, und modernden Sachen stieg herauf. In
            jener Zeit bekam der Zerfall für mich jenen melancholischen Glanz,
            der ihn auch heute noch für mich faszinierend macht.
            
            Wir bewohnten in den ersten Jahren zwei Zimmer im l.Stock des
            Altbaus, den ich schon erwähnt habe. Es war eine Etagenwohnung.
            Hinter der Haupttür lag ein langer Flur, und zu den Seiten waren
            die Türen der Zimmer. Am einen Ende des Flurs war der Spülstein
            für alle Etagenbewohner. Am anderen Ende wohnten wir: Vati,
            Mutti, Bruder Friedhelm und ich. Neben dem Spülstein war ein
            Fenster, welches den Flur nur zum Teil ausleuchtete. Auf der
            Etage wohnten eine alte Juffer, die Tante Klärchen, daneben eine
            alte verwitwete Schneiderin, die Tante Mimi genannt wurde. Neben
            unserer Wohnung wohnten Frau und Herr Hülsen mit zwei Kindern und
            daneben Tante Friedchen, eine Kriegerwitwe mit ihrem Sohn Jürgen,
            der acht Jahre älter war als ich. Wir Kinder waren bei allen
            gern gesehen. Mein Bruder war der Liebling von Tante Klärchen,
            ich war der Liebling von Tante Mimi. Es waren keine Bevorzugung-
            en, welche von den Erwachsenen aus gingen, sondern sie kamen von
            uns Kindern. Tante Mimi hatte des Morgens bevor wir zum Kinder-
            garten, später zur Schule gingen, immer ein Bonbon für uns. Da
            ging die Tür auf, wenn unsere Kinderschuhe tappten, und Tante Mimi
            fragte:" Wollt ihr ein Bonbon ?" 0ft fragten wir auch, ob ein
            Bonbon da wäre. Sie war übrigens katholisch, alle anderen sowie
            fast der ganze Ort waren evangelisch. Tante Mimi war die gute
            Fee im Hause. Wenn Vati und Mutti ausgehen wollten, paßte Tante
            Mimi auf uns auf. Sie kam ins Zimmer, wenn der Herbststurm uns
            ängstigte oder ein Gewitter hereinbrach. Schon früh wurde sie
            mein wichtigster Spielgefährte im Hause. Da sie in ihrer Wohnung
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            arbeitete, hatte sie oft am Nachmittag Zeit für uns Kinder. Sie
            war bereits Rentnerin und arbeitete nur noch gelegentlich. Wir
            spielten das Flohspiel oder "Hütchen", später "Halma" und "66".
            An der Wand tickte eine alte Pendeluhr, im Zimmer waren ein
            alter Emailleofen, Glastürenschrank von der Jahrhundertwende, ein
            ebenso alter Spiegelschrank, Tisch und Bett und ein Sofa mit
            Stühlen, eine alte Nähmaschine und ein kleiner Gasherd. Tante
            Mimi hatte Angst vor Gas und Feuer. Sie drehte nach dem Kochen
            sorgfältig den Gashahn am Hauptrohr ab, und ich übernahm ein Stück
            ihrer Angst vor dem Feuer und wollte Feuerwehrmann werden um die
            Tante Mimi zu beschützen. Opa, der Vater von Mutti, war bei der
            Werksfeuerwehr. Er war der ehrfurchtsgebietenste Mann für mich,
            überdies spielte er im Posaunencbor der Gemeinde und hatte sogar
            öffentliche Auftritte. Tante Mimi ihrerseits verwöhnte uns Kinder
            so gut es in der armen Zeit ging. Sie backte Äpfel im Backofen,
            kochte Pudding, Brotsuppe und allerlei andere Dinge. Ich
            interessierte mich damals für alles, so auch für Tante Mimis
            Nadeln, Häkelnadeln usw. Sie brachte mir mit der Zeit einfache
            Sachen bei: ich konnte eine Schnur häkeln, Knöpfe annähen, mit
            der Schere schnippeln. Bei allen meinen Versuchen ermunterte sie
            mich, und es gab kaum etwas, was sie nicht gelobt hätte, wenn
            ich damit fertig war.
            
            Im Stadtteil Wuppertal-Vohwinbel, der von Langerfeld 14 Kilo-
            meter entfernt ist, wohnten Onkel Heinz und Tante Hanni. Sie
            hatten einen Garten und Onkel Heinz züchtete Bienen. Er war ein
            großer Kinderfreund und selbst ein Lausebube geblieben. Tante
            Hanni war eine blonde schöne Frau, die schon früh eine starke
            sexuelle Anziehung auf mich ausübte. In jenen Tagen, da die
            folgende Situation geschah, war ich sechs Jahre alt, Friedhelm
            4 Jahre alt. Zu Weihnachten hatten wir jeder einen Ballonroller
            geschenkt bekommen. Es war ein unerhörtes Opfer für Vati und
            Mutti gewesen. Vati verdiente damals etwa 80.-DM wöchentlich,
            einer der Roller kostete 40.-DM. Der Frühling kam, Friedhelm und
            ich rollerten begeistert durch die Marbotstraße, jene, die ich
            als Nebenstraße hinter unserem Hause schon erwähnt habe. Wir
            fuhren ahnungslos über Verkehrsregeln auf der linken Straßen-
            seite, bis einmal ein Lieferauto uns an einer Ecke entgegenkam.
            Vor Schreck fielen wir beide um, der Wagen hielt vor uns und den
            Rollern, und dann gab es Schimpfe. Aber uns war nichts passiert.
            
            Irgend etwas weckte meine Abenteuerlust in jenen Tagen. Ich war
            gerade aus der Schule zurück, Friedhelm war aus dem Kindergarten
            eingetroffen, und das Gemüse war hastig aufgegessen worden. Wir
            liefen zu unseren Rollern im Hof, und ich schlug Friedhelm vor,
            mit nach Vohwinkel zu fahren und Tante Hanni und Onbel Heinz zu
            besuchen. Der Lockenkopf sah mich mit erstaunten Augen an,
            nickte, und wir fuhren los. Ich wußte, daß es im Tal eine große
            Straße gab, die in westlicher Richtung nach Vohwinkel führte.
            Die Entfernung war mir kein Begriff. Wir konnten uns nicht
            verirren, weil Wuppertal in einem Talkessel liegt und es nur
            eine Richtung gibt, welche von Bergen ungehindert verfolgt werden
            kann. Es war ein sonniger Frühsommertag. Unsere Roller fuhren den
            langen Berg von Langerfeld nach Oberbarmen hinab. Zwischen engen
            Straßen mit hohen alten Häusern und Straßenbahnschienen fuhren
            wir bis zur Anfangsstation der Schwebebahn, jener Seltenheit, die
            auf Stelzen über dem Flußbett der Wupper geführt wird und an
            Rädern hängend etwa 10 Meter über dem Wasserspiegel fährt. Eine
                                                    151/6
            Baustelle mit ratternden Preßlufthämmern erschreckte uns.
            Friedhelm wollte beinahe weinen. Wir stelltcn unsere Roller an
            einer Hauswand ab und ich tröstete ihn, sagte wir wären bald da,
            daß ein Junge und Indianer sowas aushält,- kurz, wir fuhren
            tapfer weiter. Zwischen den Stadtteilen Oberbarmen und Barmen
            sowie zwischen Barmen und Elberfeld gab es dünner besiedelte
            Strecken. Ich dachte, wir würden bereits aus der Stadt heraus
            gelangen und fragte Leute nach der Station Sonnborn, die Station
            in Vohwinkel, in deren Nähe Tante Hanni und Onkel Heinz wohnten.
            Die Leute waren verblüfft und sagten, gleich nachdem sie die
            Richtung gezeigt hatten, das wäre doch zu weit für uns, wir
            sollten wieder nach Hause fahren. Als wir Elberfeld durchquert
            hatten, waren wir bereits seit über 3 Stunden ohne große Pause
            unterwegs. Wir waren nahe dabei zu verzagen. Die Straße führte
            durch bewaldete Gebiete mit wenigen Häusern. Bang fragten wir
            uns, ob wir je heil in Vohwinkel anlangen würden. Dann kamen wir
            endlich zu jener Stelle, wo das Gerüst der Schwebebahn das Fluß-
            bett verläßt und über der Hauptstraße weitergeführt wird. Das
            erkannten wir von Besuchen in Vohwinkel wieder. Erleichtert
            rollerten wir schneller über die Bürgersteige. Schließlich sahen
            wir die Station Sonnborn auf Stelzen in 6 Metern Höhe über der
            Straße stehen. Kurz darauf fanden uir das Haus von Tante Hanni
            in der "Nietzschestraße". Sie war da. Erstaunt fragte sie, wo
            und wie wir gekommen wären. Ungläubig hörte sie unseren Bericht,
            sah die Roller, lachte, schlug die Hände über dem Kopf zusammen
            und gab unseren durstigen Mündern Tee zu trinken. Nachdem wir
            stolz erzählt hatten, was wir alles gesehen hatten, gab es Brote
            zu essen und wir mußten ihr versprechen, die Rückfahrt mit der
            Straßenbahn zu machen. Gegen Frühabend brachte sie uns zur
            Straßenbahn, half beim Einladen der Roller, ein Winken und
            fort waren wir wieder. Abends erzählten wir Vati von unserer
            Fahrt. Er hörte sich alles an und sagte streng, wir dürften
            nicht mit unseren Rollern in die Stadt hinunter fahren. Aber dann
            ließ er sich von unserer nicht zu unterbindenden Begeisterung
            einfangen und hörte unserem Erzählen zu. Es war etwas in ihm auch
            stolz auf seine Kinder. Anderntags erzählte er seinen Arbeits-
            kollegen von unserer Fahrt. Viel später, als ich im Alter von
            18 Jahren einen Ausbruch nach Frankreich unternahm, zeigte sich
            Vatis heimliche Fürsprache an solchen Aktionen auch wieder -
            doch davon später.
            
            Ich entsinne mich einer frühen eindringlichen Begegnung mit der
            Einsamkeit und dem Gefühl der Verlassenheit. Mit meinem Fahrrad
            war ich an einem recht milden Septembertag im Jahre 1962, als ich
            15 Jahre alt war, aus Wuppertal hinaus gefahren. Es war ein
            Nachmittag, welcher auf die Berufschulstunden des Morgens folgte
            und daher arbeitsfrei war. Ich fuhr den Berg hinauf und gelangte
            in das leicht bergige Gelände im Norden der Stadt. Baumalleen
            hatte ich bereits hinter mir gelassen und kam nun in ländliches
            Gebiet mit Äckern und Waldstreifen. Die ausgefransten Städte des
            Ruhrgebietes mit ihren Kleinfabriken und dörflichen Vororten
            reichen weit ins Bergische Land hinein. Es wurde allmählich
            Abend. Ich war etwa 30 Kilometer gefahren und war auf der Land-
            straße ziemlich alleine. Die ersten Fördertürme des Ruhrgebietes
            tauchten auf. Es wurde Dämmerung. Mir war traurig und wehmütig
            zumute, aber es war eine ziellose, beinahe grundlose Einsamkeit.
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            Ich redete seit Stunden still in Gedanken nur mit mir selbst. Die
            Schönheit und das bizarr Fremde, dieser mir neuen Gegenden war
            leer und nichtssagend geworden. Ich sah keinen Zusammenhang
            zwischen mir, der Landschaft und meinem Zuhause. Mir schien, als
            hätte ich gar kein Zuhause. Ich hatte nicht das Gefühl, nur auf
            einige Stunden vom elterlichen Wohnort entfernt zu sein. Ich war
            wirklich entwurzelt, die Brücken hinter mir schienen abgebrochen.
            Der vernünftige Gedanke, daß ich bald nach Hause fahren würde,
            hatte gegenüber dem Gefühl grenzenloser Einsamkeit gar kein
            Gewicht. Eine leere Landstraße mit abweisenden einzelnen Häusern
            und umgeben von Feldern, rohen Äckern und dunkel werdenden
            Büschen sog mich in ein Nichts hinein. Mir schien dieser Zustand
            so trostlos, daß ich gar nicht mehr da sein wollte. Aber ich
            fühlte auch eine tiefe Echtheit in mir: Diese Leere war ich
            selbst, und nur aus mir heraus könnte etwas geschehen, was einen
            anderen Zustand bringen würde. Dies alles war mir nicht so sehr
            in Gedanken klar, als im Gefühl meines Körpers. Ich vermißte die
            Körperwärme und Geborgenheit eines Menschen, der mich liebte und
            den ich lieben konnte. Aber ich wußte von diesem Mangel gar
            nichts. Alles war zersplittert in sinnlose Bildchen. Ich hatte
            etwas Geilheit in mir, etwas Angst, etwas Neugier, etwas Zutraun,
            etwas Sehnsucht, aber ich war noch nicht ein geschlossenes Wesen,
            welches einheitlich Glück oder Unglück empfindet. Ich radelte in
            der späten Dämmerung nach Hause zurück. Ich fühlte, daß eine
            Geborgenheit dort auf mich wartete, die mich als Kind befriedig-
            te, aber nun, stehend zwischen Kind und Mann, mich nicht mehr
            wirklich aufnehmen bonnte. Ich fühlte, daß ich zu Hause wieder
            den starken Drang in mir haben würde, welcher mich zu dieser
            Radtour getrieben hatte. Ich wußte, daß ich zwischen Suche und
            Heimwehr weiterhin irren würde und sah nirgends einen Ausweg.
            Ich wurde darüber zum Philosoph.
            
            Einen starken Hang zum meditativen Anschauen hatte ich schon als
            Kleinkind im Kindergarten. Eines Tages machte die Betreuerin mit
            uns Kindern einen Ausflug in den nahen Wald. Eine steile, zum
            Berg hinauf gehende Straße führte in den lichten Laubwald, der 
            zum großen Teil neu angepflanzt worden war. Vereinzelt standen
            hohe alte Eichen und Kastanien auf kleinen freien Plätzen. Einer
            der Plätze, der Kaiserplatz, maß etwa 50 Meter Durchmesser. Die
            eine Seite uar begrenzt von einer Böschung, die den Berg hinauf
            führte, die andere Seite endete mit einem Abhang, welcher ins
            Tal hinabfiel. Ringsum standen am Rande junge Laubbäume, deren
            Blätterdach weit auf den Platz hinausragte, beinah bis zur
            großen Laubkrone einer uralten mächtigen Eiche, die in der Mitte
            des Platzes stand. Die Sonne warf tanzende Schatten durch das
            Geäst auf den Sandboden. Wir liefen springend und hüpfend auf
            den Platz, tummelten uns im Gras der Böschung; einige Kinder
            spielten Jagen. Ich fand manches interessante Blatt auf dem
            Boden und im Unterholz am Platzrand, hockte mich nieder und sah
            mit Erstaunen grüne Eichenblätter mit feinen samtbraunen Rändern
            und die handförmigen Blätter der Kastanie. Auch die Ameisen
            beschäftigten mich lange. Wie war es möglich, daß etwas so
            Winziges wie eine Ameise laufen konnte ? wie war es möglich, daß
            sie sogar einen eigenen Willen hatte ? Das waren mir unbegreif-
            liche Rätsel. Ein im Zickzack verlaufender Weg führte von dem
            Platz hinab in ein schmales Tal, in welchem ein Bach floß. Wir
            hockten am Ufer und ich starrte in die flimmernden kleinen
            Wasserbewegungen, welche das Sonnenlicht wie unzählbare blinken-
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            de Nadeln reflektierten. Es gab Käfer, die über das Wasser
            liefen, eine neue unerhörte Sache, denn sie gingen nicht unter.
            Die aktiveren Kinder bauten aus Steinen einen Damm, der das
            Wasser staute. Ich war auch dabei, aber doch immer wieder ab-
            gelenkt durch die vielen interessanten Dinge am Boden. Brenn
            nesseln, die nicht brannten lernte ich kennen. Sie hatten weiße
            Blüten unter den Blättern. Grün-metallisch schimmernde Fliegen
            saßen auf den echten, also den brennenden Brennesseln. Die
            watteartigen Geflechte von Blattparasiten in den Rotdornhecken
            waren ein neues Fragezeichen. Unterdessen schien die Sommersonne
            wärmer auf die spielende Kinderschar. Wir suchten uns einen
            Schatten. Da standen hohe Schilfgewächse mit großen Kronen auf
            hohen Stielen, kleine gelbe Blumen im Gras und Frösche, kleine
            flinke Laubfrösche, die uns immer wieder davon liefen, wenn wir
            nach ihnen griffen. Heute, wenn ich diese Bilder mir zurüchrufe,
            kommt etwas Bitteres in mir hoch: Längst läuft eine Autobahn
            durch das kleine Tal, und kastenförmige Wohnblocks stehen nahe
            am Bach. So zeigen die Veränderungen meiner kindlichen Erlebnis-
            welt immer einen Abschied.
            
            Sehr früh hatte ich dieses Abschiednehmen, besser: ein Genommen-
            werden, am Verlust meines liebsten Spielplatzes kennengelernt.
            Die Marbotstraße, die unser Haus zur Rückseite begrenzte, führte
            auf die Leibuschstraße, die Anfang der fünfziger Jahre noch  
            voller Ruinen ausgebombter Häuser war. Diese Straße führte rechts
            und links an der Einmündung der Marbotstraße einen Berg hinab.
            Beide Wege führten, wenn man eine Biegung nach links oder rechts
            machte, über einen Weg zu einem kleinen Tal, in welchem eine
            Sportanlage war, an welche sich Schrebergärten anschlossen. Der
            zweite Weltkrieg hatte den Sportplatz zerwühlt, die Schreber-
            gärten in eine Wildnis verwandelt. Im Halbkreis endete der Platz
            an einem Berghang, welcher oben in leicht geneigten Wiesenflächen
            endete. Der Hang war nur etwa acht Meter hoch und mit wildwachsen-
            den Büschen bedeckt. Durch das hohe Gras, Büsche und Brennesseln,
            Disteln und Schilfplanzen führte ein schmaler Pfad. Das war unser
            Urwald. 0ft liefen wir durch die Gräser, spielten Verstecken im
            Gestrüpp und kletterten in den jungen Bäumen und Büschen am Hang.
            Zwei Bunkereingänge, halb verschüttet waren ebenfalls am Hang.
            Die dunklen Höhlen waren furchteinflößend. Ältere Kinder erzähl-
            ten von abenteuerlichen Erkundungen innerhalb des Bunkers unter
            dem Berg. Wenn die Sonne schien, flatterten viele weiße Schmetter-
            linge über den Gräsern. Ich versuchte sie zu fangen. Manchmal
            gelang es einen sitzenden Falter zu erfassen. Meist ließ ich ihn
            wieder los und er flog weiter. Seltener varen gelbe und rotbraune
            Schmetterlinge. Sie ließen sich auch nie von mir erwischen. Am
            Rande des Hanges war ein Schuttabladeplatz, welcher zu einer
            Fabrik gehörte. Dort wuchsen hohe Schilfpflanzen mit rötlichen
            Stielen, aus welchen wir Pusterohre machten, da sie innen hohl
            waren. Grüne Holunderbeeren pusteten wir damit gegen alles mög-
            liche. Ich war vielleicht fünf Jahre alt, als eines Tages eine
            Planierraupe kam und die ganze Wildnis plattwalzte. Auf dem Platz
            entstand ein Kinderspielplatz und ein Fußballfeld. Der Spielplatz
            bestand aus einer glatten Rasenfläche, zwei Sandkästen und einem
            eisernen Turngerüst. Wir Kinder waren von diesem Wandel betroffen,
            und der langweilige neu angelegte Spielplatz sah uns fast nie.
            Oben auf dem Berg, wo die Wiesen waren, gab es dunkle Büsche,
            Himbeersträucher, Dornengestrüppe, also eine weitere Wildnis, die
            von den Aufräumarbeiten verschont geblieben war. Dort hatte ich
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            einige spannende Erlebnisse. Eines davon begann mit Eddy, einem
            Klassenkameraden aus der Schule. Wir waren 12 Jahre alt und hatten
            die uns verbotenen Zigaretten gekauft. Wir kletterten den Hang
            hinauf und suchten oben in der Wildnis einen Bombentrichter, der
            uns vor den Blicken anderer schützte. Ich hatte wahnsinniges Herz-
            klopfen. Wie Diebe schlichen wir uns schließlich, nach einigen
            hastigen Zügen aus den Zigaretten aus dem Trichter heraus. Etwa
            im gleichen Sommer hatten wir die dicke Gerda hoch in unsere
            Wildnis mitgenommen. Sie hatte für ihre 14 Jahre riesige ausge-
            wachsene Brüste. Zuerst waren wir zu mehreren Mädchen und Jungen.
            Irgendwann, ich weiß nicht ob es nur Zufall war, blieb ich allein
            mit Gerda zurück. Sie wollte mir etwas zeigen. Mit aufgeregtem
            Herzklopfen stand ich vor ihr. Sie öffnete ihre Bluse und sagtze:
            " Guck mal !" Ich sah weißschimmernde Halbkugeln und errötete.
            Sie war erfahrener und älter als ich, und sagte dann:" Faß' mal
            an !" "Darf ich ?", fragte ich, schaute mich ängstlich um, aber
            hier im Gebüsch waren wir vor allen Blicken von Anderen geschützt.
            "Du kannst alles machen", antwortete sie. Ich aber bekam vor
            lauter Aufregung heine Bewegung mehr zustande und verzog mich
            verlegen mit der Ausrede, ich müßte nach Hause gehen.
            Solche Arten der Feigheit wurden von uns Kindern großzügig
            übergangen, denn Mädchen waren nichts, an dem ein Junge seinen
            Mut zeigen konnte. Das hatte, wie wir heute wissen, allerlei
            Gründe.- Nun, es gab auch Beziehungen die unkompliziert waren.
            Eine von ihnen war die Beziehung zum Wasser. Vati war Vereins-
            schwimmer mit mäßigem Ehrgeiz, der ihn bei Wettkämpfen der
            Vereine untereinander ab und zu gewinnen ließ. Friedhelm und
            ich sollten natürlich wenigstens sichere Schwimmer werden. Der
            Schwimmunterricht mißlang jedoch gründlich. Vati schimpfte, wenn
            ich ängstlich ins Nichtschwimmerteil des Beckens floh. Beim Kopf-
            sprung hielt er mir die Füße fest und ich platschte dennoch auf
            dem Bauch ins Wasser. Endlich sah er eines Tages ein, daß aller
            Sympathie zum Trotz, die ich für ihn hegte, er in der Badeanstalt
            für mich eine beängstigende Figur geworden war. Ich war etwa
            11 Jahre alt und konnte noch immer nicht schwimmen. Er übergab
            mich einem Bademeister, der mir kurzerhand einen Strick um den
            Bauch band und mich ins tiefe Wasser warf. Ich schluckte,
            prustete und schwamm. Von da an verbesserte sich mein Verhältnis
            zum Wasser,- es war in der frühen Kindheit ohnedies gut gewesen.
            Neugier und Übermut verführte mich dazu, allerlei auszuprobieren.
            Als wir zu mebreren Jungens mit unseren Fahrrädern zur Brucher-
            Talsperre fuhren, durchschwamm ich sie der Breite und halben
            Länge nach. Ein Jahr vorher hatte ich eine Stunde Dauerschwimmen
            geschafft, den sogenannten Totenkopfschwimmer. Die andere Seite
            meiner Liebe zum Wasser war träumerischer Art. Ich saß oft an der
            Wupper, dem Fluß der nahe unserem Ortsteil durch Wuppertal fließt.
            Damals war er noch sauber und voller Fische. Dort machte ich
            kleine Tauchversuche mit einer Taucherbrille. Es war eine schwe-
            bende Märchenwelt, die ich dort sah. Nachts schwamm ich auf der
            spiegelglatten Fläche des Mittelmeeres unter hellem Vollmondlicht.
            Bei einer Sturmbö sprang ich, sehr zum Ärger der Aufsicht, in
            meterhohe Wellen und ließ mich hochtragen und hinabwerfen. Wenn
            mir das Auf und Ab zuviel wurde, hielt ich die Luft an und schwamm
            tief in die Wellenwand hinein und tauchte im nächsten wellental
            wieder auf.
            Ich war zwanzig Jahre alt geworden, als ich mit meinem
            Freund Jürgen zum Urlaub in die Bucht von Arcarchon fuhr, die vor
            Bordeaux liegt. In der Nähe unseres Zeltes unter Kiefern stand das
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            Zelt einer Französin mit ihrer Tochter. Diese war dunkelhaarig,
            achtzehn Jahre alt, eine Frau von Figur und vie wir doch noch fast
            ein Kind. Meine Annäherungsversuche fanden Gegenliebe, wir ver-
            liebten uns, ich führte sie im frühabendlichen Dunkel in die Dünen,
            griff in ihre weiche nasse Vagina, sie stöhnte:" Nein Fred !" Ich,
            froh einen Grund zu haben, den Rückzug beginnen zu können, ließ
            von ihr ab. Ich hätte sie nicht umarmen können, dazu fehlte mir
            alles. Sie war letztlich enttäuscht und zeigte am anderen Tage
            kaum noch Interesse für mich. Da lockte mich das Meer; und in
            einer Mischung aus Weltschmerz, gekränkter Eitelkeit, Abenteuer-
            lust und Übermut sprang ich ins Wasser und schwamm auf die andere
            Seite der Bucht von Arcarchon zu, wo sie am Schmalsten ist. Die
            Wellen waren etwa einen Meter hoch. Ich hoffte zu ertrinken und
            tat alles um heil ans Ufer zu gelangen. Nach etwa zwei Stunden
            langte ich auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht an. Ein
            junger Franzose sah mich im Sand liegen und war verblüfft zu er-
            fahren, daß ich vom anderen Ufer der Bucht gekomman war. Er fuhr
            mich mit einem Motorboot zurück. Da das Boot aber nicht ganz an
            den Strand heran fahren konnte, es wäre aufgelaufen, sprang ich
            vorher ins Wasser und tauchte dann inmitten besorgter Campingbe-
            wohner wieder heil aus dem Wasser auf. Die Küstenwache hatte mich
            gesucht, aber nun war ja alles wieder gut. Meine angebetete Schöne
            aber hatte sich ebenfalls sehr um mich gesorgt. Nun war sie wieder
            für mich da und ihre Mama kochte uns allen ein Menu.
            
            Jahre früher, ich war fünf Jahre alt, fuhr unsere Familie mit zwei
            befreundeten Familien zum Urlaub an den Rhein. Damals, man schrieb
            das Jahr 1952, konnte man im Rhein noch schwimmen und Fische
            fangen. Mit dem Dreirad meines Vaters, Campinggepäck auf der Lade-
            fläche, fuhren wir los: Sechs Erwachsene und vier Kinder. Mein
            Bruder Friedhelm und Dietger und die Tochter eines Paares
            schliefen auf der Ladefläche des Dreirades auf Matrazen. Mutti und
            Frau Andre schliefen bei uns. Die anderen schliefen in einem Zelt.
            Hohes Schilf wuchs inmitten von Wiesen. Unser Lager war bei Zons
            südlich von Düsseldorf. Die Männer bauten uns Kindern eine Burg
            aus dem Flußsand, trugen uns Kinder auf dem Rücken, spielten Pferd,
            jagten Kaninchen, die ihnen stets entwischten, spielten Gespenst,
            welches aus dem Schilf hervorbrach, sckwammen über den Rhein und
            ängstigten ibre Ehefrauen. Vati verkleidete sich als Frau am
            Lagerfeuer, kurzum: sie waren ebanso verspielte Kinder wie wir.
            Ich fing in einem Glas mit einem Netz von Onkel Heinz Fische und
            brachte sie stolz ins Lager. Wir liefen durch Stoppelfelder, und
            die Sonne schien warm aber mild auf unseren Lagerplatz. In den
            drei oder vier Jahren darauf wiederholte sich der Urlaub am Rhein;
            dann wurden die Kontakte der Familien untereinander spärlicher
            und wir fuhren nicht mehr zum Rhein. Unterdessen war das Jabr 1956
            gekommen und Großvater, der Vater von Vati, schloß die Schreinerei.
            Für Vati begann eine harte Zeit. Er fuhr mit dem Dreirad fortan
            Kleintransporte. Die Möbel lud er meist allein auf den Wagen,
            schleppte sie treppauf, treppab. Wir Kinder wollten später auch
            einmal mit Vati rausfahren. Ich war 12 Jahre alt, Friedhelm 10
            Jahre alt geworden.
            Wir fuhren mit Vati einen Möbeltransport, den Umzug einer alten
            Frau. Vati schleppte die Kohleöfen allein, wir Kinder trugen
            Schrankteile die Treppen hinauf. Es war der 2. Stock. Vati
            schimpfte, wenn wir im Treppenhaus aneckten. Als die alte Frau
            bezahlen sollte, sagte Vati im Treppenhaus zu mir: "Ich müßte
            80.- DM berechnen, aber die Frau hat eine ganz kleine Rente, ich
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            berechne ihr nur 60.- DM. Am Abend wurden wir auch von ihm be-
            zahlt, gegen unseren Protest, denn wir wußten, daß er wenig ver-
            diente und wollten ihm freiwillig helfen. Aber er bestand darauf
            und gab jedem von uns 20.- DM, eine hohe Summe für unsere Verhält-
            nisse und die Zeit in der es geschah. Vati hat uns nie aufge-
            fordert mit ihm zu fahren, denn er wollte nicht sein wie sein
            Vater, der ihn für wenig Geld hatte schuften lassen. Vati fand in
            seinem Vater in vielen Fragen ein negatives Vorbild: er wollte
            anders als sein Vater werden. Und ähnlich wurden mir auch später
            manche Erwachsenen zu solchen negativen Vorbildern, deren Fehler
            ich nicht wiederholen wollte.
            
            An sonnigen warmen Sommertagen denke ich manchmal an die Sonntage
            meiner frühen Kindheit. Sie waren für uns Kinder nicht sehr
            erfreulich. Wir mußten in den Kindergottesdienst gehen, sicher
            eine Methode, Kinder zu Atheisten zu erziehen. Mittags nach dem
            Essen mußten wir beim Spülen helfen und durften nicht raus zum
            Spielen. Dennoch gab es einige Erlebnisse, deren ich mich gerne
            erinnere. Vor der Stadt, wo Wiesen und Felder lagen, alle anderen
            Seiten waren von Wäldern umschlossen, wurden Gasballone gestartet.
            Vati nahm uns Jungs mit. Vor dem klaren blauen Himmel standen
            riesige kugelige graue Ballone, die durch Seile am Boden fest-
            gehalten wurden. Aus Gasflaschen wurden sie gefüllt. Die Hülle,
            die sonst unscheinbar am Boden lag, füllte sich langsam zur Halb-
            kugel, zur Kugel und stieg dann auf. Sie stand frei über dem
            Boden, und die Gondel saß noch im Gras auf. Nun stiegen einige
            Leute in den Korb und endlich wurden die Seile gelöst, - der
            Ballon stieg auf. Die zahlreichen Zuschauer klatschten Beifall.
            Die vielen Sandsäckchen an der Gondel waren uns Kindern unver-
            ständlich, aber sie sahen interessant aus. Die Ballonfahrer
            winkten, und bald war der Ballon nur noch wie eine Mondscheibe
            groß hoch im Himmel. So hoch ging es in den Himmel hinauf,- wir
            staunten.
            Später, als ich etwa 16 Jabre alt war, ging Vati ab und zu mit
            uns Jungens zum Frühschoppen in die Eckkneipe "Schmitz". Die
            Sonne schien durch die Butzenscheiben, die Straßen waren dörflich
            friedlich. Wir hatten Sonntagsanzüge an und tranken Bier. Das war
            ein erhebendes Gefühl mit Vati Bier zu trinken und über seine
            oder meine Arbeit zu reden. Bruder Friedhelm staunte über die ihm
            fremden Dinge, die ich von meiner Lehrstelle berichtete. Ich
            sollte Dekorateur werden. Aber Vati ging selten mit uns in die
            Kneipe.
            Als wir noch kleiner waren, etwa 8-11 Jahre, machten wir bei
            schönem Sommerwetter oft lange Spaziergänge vor die Stadt. Wir
            gingen durch den nahen Wald, der auf steilem Berg begann, ein
            schmales Tal hinab und über einen langen Berghang hinauf zu hoch-
            gelegenen Feldern, wo zwischen verschlafenen Feldwegen und einzel-
            nen Bauernhäusern ein Ausflugslokal war. Die Leute saßen auf
            einer großen Wiese, Tische und Stühle standen im Gras. Viele Obst-
            bäume gaben milden Schatten und alles mögliche Kleintier flog,
            summte und krabbelte herum, auf Haaren, Tischtüchern, Armen und
            Schuhen. Vati trank ein Bier, Mutti einen Kaffee, Friedhelm und
            ich bekamen Limonade. Wenn auch die langen Wanderungen oft über
            13 Kilometer und das ruhige Verhalten am Lokaltisch uns schwer
            fielen, dennoch habe ich eine bestimmte friedlich süße Stimmung
            davon in der Erinnerung behalten. 
            
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            Der Sommer hatte viele Gesichter. Es gab milde frühsommerliche
            Momente in unserem Wald. Mitten darinnen gab es den Kaiserplatz,
            wo in der Mitte des Kreises eine uralte Eiche stand mit mächtiger
            Baumkrone. Der Platz war umgeben von jungen Bäumen. Einige Meter
            weiter den Waldweg hinein stand ein kleines Häuschen aus Holz mit
            grünem vermoosten Dach inmitten von jungen Fichten, die wild wie
            Gestrüpp die Hütte einschlossen. Die zwei kleinen Fenster waren
            durch grüne Holzläden stets geschlossen. Um alles herum war ein
            hoher Zaun. Irgendwer, vielleicht wir Kinder oder einer der Er-
            wachsenen brachte das Gerücht auf, es wäre ein Hexenhaus. Wir
            glaubten lange daran. Etwas furchtsam und doch erregt betrach-
            teten wir das Häuschen, wenn wir durch den Wald liefen. Quer
            gings oft zwischen den Stämmen hindurch. Die Füße drückten sich
            weich in den duftenden Waldboden. Alle möglichen Lichter brachen
            durch Blätter und Zweige hindurch und verzauberten alles. Ich
            verlor mich oft an solchen Sommertagen im Wald in diese Zauber-
            eien. Etwas weiter zum Ehrenberg hinaus führte der Waldweg zu
            einem kleineren Platz, wo eine Regen- und Wetterhütte stand, die
            überall offen und kreisrund war. Dort stand eine amerikanische
            Eiche, die im Herbst viele, fast runde rotbackige Eicheln abwarf.
            Der Hochsommer war im Wald, aber auch in den Altbau-Treppenhäusern
            und schattigen Obstgärten wohltuend. Von der Straßenhitze aus zu
            einem solchen kühlen Platz gewechselt, war das wie vom Sonnenbad
            am Strand ins kühle Meer. Lange staubige Straßen, die vielleicht
            nur für die Kinderbeinchen wirklich lang waren, tauchen aus der
            Erinnerung auf. Flimmernde Hitze in der Luft, einzelne Häuser,
            weite Wiesen, einige hohe Bäume, sattgrün vor hellem Himmelsblau, 
            - und wie übermütige Gaukler standen an den Gartenhecken die
            bunten Blüten von Ackerwinden und anderen glockenförmigen Blüten;
            ich nannte sie Sonnenblumen. Die Zeit stand still, der Sommer war
            eine ganze Welt für sich. Ich lebte in ihr wie ein anderes
            Wesen. - 
            Dann, zum ersten Male die bewußte Erfahrung eines Überganges in
            den Herbst. Die Eichen im Wald, besonders die jungen amerikan-
            ischen, bekamen weinrote und sattgelbe Blätter. Der Wald wurde
            unwirklich schillernd. Ich spürte einen Aufbruch, eine Sehnsucht,
            - und hatte doch noch keinen Begriff vom Herbst und seiner
            Melancholie.
            
            Abends, wenn ich als achtjäbriger Junge die Augen schloß, sah ich
            manchmal im Schwarz unter den Lidern farbige Muster. Ab und zu
            drehten sie sich oder wurden kleiner oder größer... Ich wurde mir
            bewußt, daß ich ein Wesen bin, welches mit sich selbst alleine
            ist,- immer dann ganz alleine ist, wenn es Ruhe findet die bunte
            Welt einzeln, als Blatt oder Glätte des Betttuchs oder Abendwolke
            oder Tapetenmuster auf sich einwirken zu lassen. Eine Sehnsucht
            entstand manchesmal daraus; - aber eine unbestimmbare Sehnsucht
            war das. Sie trieb mich zu den sonderbarsten Experimenten, Reisen,
            Abenteuern und Träumen. Ich träumte von einer jungen Frau. Ihr
            Gesicht war über mir, blond, gelockt, weicher Mund und unglaub-
            lich warme Augen. Als sie mich ansah, fühlte ich ein heißes Gefühl
            durch meinen Körper wandern. Doch solche Momente, in denen die
            Sehnsucht gestillt erschien, waren selten. Ich ging oft, als 14,
            15, 16 jähriger allein durch den Wald spazieren. Gerne ging ich
            zur Dämmerungszeit bis die Nacht begann. Die Sterne und das unend-
            liche Weltall zogen mich mit der gleichen Sehnsucht an, wie sie
            in den Träumen war, zogen ins Ungewisse. Ich begann darüber nach-
            zudenken wie groß das Universum sei, wo es herkommt und was einmal
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            aus ihm werden wird. Andere Spaziergänge mit meinem Schulfreund
            Kurt über die Höhenzüge am Rande Wuppertals zeigten uns die Stadt
            wie ein Lichtermeer auf einem anderen Stern. Etwas Unwirkliches
            lag in diesen Augenblicken; ich wandelte einher als Gestalt
            meines eigenen Traums. Manchmal warf mich meine Sehnsucht heftig
            auf mich selbst zurück, und ich war dann bis zum Verzweifeln mit
            mir allein. Oft erschien es mir, daß die Familie, die Leute der
            Etage, die Freunde, alles nur eine laute Oberfläche war, die mich
            davon ablenkt zu spüren wie allein ich bin. Aber es gab auch
            entgegengesetzte flüchtige Momente einer tiefen Geborgenheit.
            Wenn ich im Bett lag und das Radio aus dem Nebenzimmer hörte, war
            ich als kleiner Junge völlig beruhigt und zufrieden. Ebenso gab
            es den Frieden mit meiner Einsamkeit, wenn ein Blatt sich für
            mich so zeigte, wie ein Wesen mit einer Seele, die mir völlig
            nahe ist. Oder ein Nachfühlen, wenn an warmen Sommertagen eine
            schillernde Libelle am Ufer des Baches in unserem Wald dahinflog.
            Manche kindliche Fragen, nach dem Mond und den Sternen, schufen
            eine Brücke zwischen Fragendem und dem Gefragten, die eine
            völlige Nähe war. -
            Als ich eines Sommertags, ich war etwa sechs Jahre alt, mit Tante
            Mimi zum Friedhof gegangen war, kamen wir an eine Brücke, welche
            über eine Eisenbahnlinie führte. Genau unter uns verliefen die
            Schienen völlig geradeaus, bis sie im Nebel des Horizontes ver-
            schwanden. Tante Mimi sagte:" Die Züge fahren weit, - bis nach
            Siegen." "Warst Du schon einmal in Siegen ?", fragte ich. Sie
            antwortete:" In Siegen wohnt eine Cousine von mir. Früher hab'
            ich sie manchesmal besucht." " Fährst Du wieder nach Siegen ?"
            "Vielleicht fahre ich später noch einmal. Aber ich bin schon zu
            alt für so lange Bahnfahrten." - Es war eine eigenartige Doppel-
            heit extremer Gefühle in diesem Augenblick, Geborgenheit und Sehn-
            sucht. Die Schienen gingen für mich ins Unendliche, ins Abenteuer,
            so aufregend wie die Höhlen der frühesten Kindheit, die voller
            Drachen waren.
            
            Als wir etwa 3 und 5 Jahre alt waren, mein Bruder Friedhelm und
            ich, hatten wir Angst vor Gewittern. Besonders der Donner machte
            mir Angst. Eines Abends waren die Eltern ausgegangen und ein
            Gewitter ging los. Es blitzte, donnerte, wir weinten. Doch bald
            kam Tante Mimi herein, - sie hatte sich schon gedacht, daß wir
            Angst haben würden. "Der Donner tut nichts", tröstete sie uns.
            Bald beruhigten wir uns wieder und warteten bis Vati und Mutti
            wieder herein kamen. Ich sehe noch den blonden Lockenhopf von
            Friedhelm, wie er über dem Gitter des Kinderbettes hochkommt und
            dann im Bettchen steht und fragt:" Hast du auch Angst ?" "Ein
            bißchen", log ich, denn ich hatte auch große Angst. -
            Später, ich war 15 Jahre alt geworden, hatte ich noch einmal Angst
            vor dem Gewitter. Ich war mit Kurt auf unserer ersten Reise, die
            wir ganz alleine machten. Wir waren per Anhalter bis Koblenz ge-
            kommen. Ein sonniger heiterer Tag war es gewesen. Die Weinberge,
            Ritterburgen am Rhein, die alten Häuser am Ufer bei Koblenz,- all
            das hatte uns mit Einbrücken gefüllt. Am Abend hatten wir in den
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            weinseeligen Gartenlokalen gesessen, etwas getrunken, und waren
            dann mit Gitarre und Rucksäcken vor die Stadt gegangen un im
            Freien zu schlafen, denn die Jugendherberge war seit 22 Uhr
            geschlossen. Gegen Mitternacht überraschte uns ein Wolkenbruch.
            Wir stellten uns unter eine hohe Brücke, welche an dieser Stelle
            in 20 Metern Höhe den Rhein überspannte. Ein zwielicht aussehen-
            der Mann trat zu uns. Und während die Blitze und Donner zuckten
            und entsetzlich krachten, erzählte der Mann von Freunden, die mit
            ihm im Freien übernachtet hatten und von Blitzen erschlagen
            worden waren. Dann verschwand der Mann, und die Blitze schlugen
            nun mit ohrenbetäubendem Donner direkt in unserer Nähe neben der
            Brücke im Grase ein. Wir waren steif vor Angst. Das Gewitter
            dauerte bis zum Morgengrauen. Wir standen am Brückenpfeiler und
            wagten es kaum uns zu bewegen. Als es gegen 4 Uhr morgens heller
            wurde und auch der Regen nachließ, stieg Nebel von den Wiesen auf.
            Da stand am Pfeiler nahe des Ufers eine unheimliche, mit alten
            Decken bedeckte Kiste. Voller Furcht verließen wir die Brücke
            und gingen in die Stadt hinein. Alles war ruhig in den Straßen,
            der Regen wurde wieder heftiger. Wir stellten uns in einem alten
            Pavillion unter, der aus der wilhelminischen Ära übrig geblieben
            war. Wilde Rosen wuchsen neben dichten Büschen. Später schlüpften
            wir in eine nüchterne Telefonzelle, weil wir durchnäßt waren und
            froren. Aber die Enge war nicht auszuhalten. Endlich begann das
            Leben auf den Straßen und ein Sommertag am Rhein.
            
            Heute, die Zeit, da ich diese Zeilen schreibe, erlebe ich durch
            meine Kinder Marie und Charlotte, die beide fast 7 Jahre alt sind,
            viele Eindrücke meiner Kindheit noch einmal, gleichsam als
            Beobachter auf einer höheren Perspektive. Zugleich werden Er-
            innerungen damit geweckt. Die folgende verbindet sich irgendwie
            mit meinen Töchtern. Denn ich war bereits 14 Jahre alt geworden
            und hatte eine Dekorateuerlehre begonnen. Langerfeld besaß einen
            winzigen Zugbahnhof. Er befand sich genau über einem Straßen-
            tunnel. Man mußte eine etwa 12 Meter hohe schmale dunkle Treppe
            zwischen den Tunnelseitenstücken hoch gehen und gelangte vom
            Schwarzgrau des Tunnelgewölbes mit einem Schlag ins helle Tages-
            licht. Ich ging morgens gegen 8 Uhr zum Bahnhof und fuhr mit dem
            "Bummelzug", so hieß er, weil er an allen Bahnhöfen anhielt, nach
            Elberfeld, wo ich meine Lehrstelle hatte. Es gab Eisenbahnwagen,
            die vorne und hinten offene Stehflächen hatten. Die Verbindungen
            zwischen den Wagen wurden durch ebenfalls zu allen Seiten offene
            Eisenbrücken geschaffen. Ich stand in dem Morgenlicht und ließ
            mir den Fahrtwind durchs Haar fahren. Der Zug fuhr durch Felder,
            zwischen Hügelketten hindurch, in einen Tunnel hinein, wieder
            hinaus nachdem alles nachtdunkel geworden war und dann zum Ufer
            der Wupper und zur Schwebebahn. Vorn war eine Dampflokomotive. Es
            ging alles recht gemächlich. Wir konnten noch einsteigen, wenn der
            Zug schon angefahren war. Ich frage mich heute, wo der Fort-
            schritt liegt, wenn es alles blitzschnell geht und anonyme Auto-
            maten die Fahrkarten verteilen. Ich sehe keinen Fortschritt darin.
            Doch zurück: Der Bummelzug fuhr durchs Tal der Wupper, fast durch
            die Hinterhöfe der vielen Kleinbetriebe, an denen die Stadt reich
            war. Parallel dazu fuhr oft die Schwebebahn mit. Ihr Gerüst ragt
            etwa 8 Meter über die Oberfläche der Wupper hinauf, aber der
            Fahrdamm der Eisenbahn liegt oft höher, sodaß die Hängebahn
            scheinbar neben den Gleisen des Zuges fuhr, bewegt wie auf einem
            Geisterteppich. Ein bestimmtes Himmelblau verbindet die ver-
            schiedensten Erinnerungen meiner Kindheit miteinander. Die Bahn-
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            fahrt gehört ebenso dazu wie das Drachensteigen mit meinem
            selbstgebauten Dreiecksdrachen. Diese Windvögel ließen wir auf
            dem Spielplatz steigen, welcher früher einmal mein Kinderurwald
            geuesen war. Vati hatte einmal mitgeholfen. Der Windvogel war
            1,20 Meter hoch. Vati hatte die Leisten besorgt, Mutti die Pell-
            kartoffel gestiftet, womit das blaue Papier des Windvogels fest-
            geklebt wurde. Vati hielt hoch, ich lief, der Vogel bekam Schlag-
            seite beim Anstieg und ging im Sturzflug zu Boden. Der Schwanz
            war zu leicht. Wir banden Grasbüschel dazu. Neuer Versuch. Der
            Vogel stieg an, stieg weiter, ich ließ Leine, aber er wackelte
            und trudelte mit großen Überschlägen zu Boden. Neuer Versuch, er
            stieg, ich ließ Leine und er blieb tatsächlich oben. Dort stand
            er nun, klein geworden durch die Entfernung vom Boden. Ich setzte
            mich ins Gras, andere Kinder gratulierten zum Erfolg, und ich
            dachte mir, ich möchte gern einmal ein Windvogel sein.
            
            Vor einigen Wochen war ich mit Marie und Charlotte an einem
            Baggersee vor Aachen. Ich schwamm mit schnellen Zügen hindurch,
            und die Kleinen standen mit staunenden Augen und sahen zu. Später
            redeten sie immer wieder davon: "Papa schwimmt." Eine ähnliche
            Situation erlebte ich am Rhein, als dort unsere Familie Urlaub
            machte. Ich war etwa sieben Jahre alt. Vati und seine Freunde
            schwammen durch den Rhein. Mutti und die Ehefrauen der Freunde
            hatten Angst, denn der Rhein wurde von Schiffen stark befahren,
            deren Sog für Schwimmer gefährlich ist. Dazu kommt die Strömung.
            Auf einmal waren die Männer den Blicken entschwunden, doch sie
            kehrten alle heil zurück. Das blendende Sonnenlicht hatte uns
            einen AugenbIick die Sicht behindert. Unterdessen hatte die
            Strömung die Männer flußabwärts getrieben, sodaß wir sie an
            einer Stelle sehen wollten, wo sie nicht mehr waren. Solche Er-
            lebnisse hatten ihre Wirkung auf mich. Meine Mutproben in Tal-
            sperren und Meereswellen wurden dadurch angeregt.
            
            Ich erinnere mich an meine abenteuerlichste Reise, die eigentlich
            an das Ende meiner Erinnerungen an die Kindheit gehört. Ich war
            achtzehn Jahre alt und freiwillig in den Bundesgrenzschutz ein-
            getreten. Zur gleichen Zeit gab es eine Familientragödie, an der
            Mutti und mein Freund Werner beteiligt gewesen waren. Doch hier-
            von später. Meine Reise begann in meinen Kindheitsträumen gedank-
            liche Gestalt anzunehmen. Ich wollte Paris sehen und die afrikan-
            ische Wüste. Mit Paris verband ich die Erwartung von romantischen
            Liebesgeschichten, Halbweltpersonen und die Faszination der
            Kunstwerke, wie ich sie im Wuppertaler Gemäldemusuem früh kennen-
            gelernt hatte. Afrika war für mich die Welt der Großwildjagd, des
            orientalischen Prunks und geheimnisvoller Frauen, Wüste und
            Einsamkeit. Als ich meine ersten Wochen beim Bundesgrenzschutz
            in Lüneburg hinter mich gebracht hatte, und ebenfalls Abenteuer
            erwartete, wurde mir doch klar, daß diese Welt zu eng für mich
            war. Ich kündigte daher den Dienst, ließ mir von Mutti einen
            Reisepaß begorgen und begann die Reise. Meinen Eltern verriet ich
            von alledem nichts. Den Reisepaß brauchte ich angeblich für eine
            Reise mit Kameraden in die Tschechei. Ich fuhr per Anhalter von
            Lüneburg los, kam gegen Mittag auf der Autobahn in Sichtweite an
            unserem Haus vorbei, welches etwa 1 km von der Autobahn Dortmund
            -Wuppertal-Köln entfernt war. Melancholisch nahm ich Abschied.    
   
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            Die Nacht verbrachte ich in einer Jugendherberge, ich weiß nicht
            mehr genau wo, ich denke in Köln. Am anderen Morgen gelangte ich
            nach Aachen, wo ich mir beim Gesundheitsamt die Impfungen verab-
            reichen ließ, die ich für Afrika benötigte. Am Nachmittag des
            gleichen Tages langte ich vor Paris an. Es war ein warmer Julitag.
            Ich trug einen Rucksack und marschierte in den Vorort Le Bourget.
            Da der Rucbsack drückte und mir in der Stadt wohl hinderlich sein
            würde, klingelte ich an einem beliebigen kleinen Arbeiterhaus in
            einer Nebenstraße. Ein Mann, um 45 Jahre alt öffnete. Ich
            stotterte mein bon jour und etwas von Bagage. Mehr französische
            Worte kannte ich kaum. Der Mann aber sprach gebrochenes Deutsch.
            Kurzum, wir waren einander sympathisch, ich ließ meinen Rucksack
            bei dieser Familie und spazierte in die Innenstadt von Paris. Es
            war Dämmerung, hohe Bogenlampen säumten die breite Straße von
            Le Bourget zur Pt.d.la Vilette. Ich war am Ziel und den Glück-
            stränen nahe. Nach einem etwa 6 Kilometer langen Marsch kam ich
            in Paris an: Gare du Nord, Stalingrad, Metro, Araberviertel,
            Pigalle, Montmartre. Wieder weiter zum Louvre, zum Eiffelturm,
            zur Notre Dame. Ich lief die ganze Nacht hindurch. Viele
            Clouchards lagen ärmlich auf Pappstücken und Zeitungen auf den
            Bänken, an der Metro, in der Metro. Man hatte Paris zu dieser
            Zeit, 1965 noch nicht aufgeräumt. Es war noch etwas vom alten
            Paris, wenn man die Beschreibungen eines Henry Millers zum Bei-
            spiel vergleicht. Die Läden waren am anderen Morgen alle bunt,
            wie mit hunderten von Wimpeln behangen. Die Stadt wirkte unglaub-
            lich heiter. Zehn Jabre danach war übrigens alles verschwunden.
            Anstelle der bunten Markisen und Werbebänder waren glatte Glas- 
            und Plastikschilder angebracht, die Clouchards waren bis auf
            wenige verschwunden, ein Seineufer war in eine Autostraße ver-
            wandelt, kurz: das alte Paris war verstorben. Doch zurück zu
            jenem Julimorgen 1965. Gegen 11 Uhr fuhr ich mit dem Bus nach
            Le Bourget zurück. Ich klingelte an dem Haus, wo ich am Vorabend
            meinen Rucksack gelassen hatte. Ein Junge in etwa meinem Alter,
            er war 17 Jahre, öffnete. Er sprach kein Deutsch, aber mit viel
            Gestik verstanden wir uns dennoch. Er lud mich zum Essen ein.
            Also war ich Gast bei einer Arbeiterfamilie. Am Abend kam der
            Hausherr von der Arbeit zurück. Den Nachmittag hatte mir mein
            neuer Freund Cloude den Flughafen direkt vor dem Hause gezeigt.
            Ich sollte über Nacht bleiben, ich blieb, und der Hausher brachte
            mich am anderen Morgen zu einer günstigen Ausfallstraße nach
            Orleans. Ich sollte länger bleiben, baten sie mich. Cloude hatte
            mir sein Bett zur Verfügung gestellt, während er auf dem Speicher
            geschlafen hatte. Aber ich wollte weiter. Merkwürdigerweise habe
            ich Cloude nie wiedergeseben, obwohl ich noch einmal bei der
            Familie wohnte, im Herbst l965 und lange Jahre Briefverkehr mit
            ihm hatte. Er war ein lebendiger dunkelhaariger Franzose, spontan
            in in seiner Zuneigung und stürmisch wie ein Italiener. Aber er
            war auch still und nachdenklich ....
            Bald kam ich per Anhalter nach Orleans. Vor der Stadt angelangt,
            hielt eine "Ente"' Citroen 2 CV an, und drei Leute nahmen mich
            mit. Es waren Franzosen, im Alter von 22 und 26 Jahren die zwei
            Frauen und ein Mann von 24 Jahren. Sie wollten in zwei Tagen nach
            Figeac nördlich des Zentral-Massivs fahren, also durch halb Frank-
            reich. lch war begeistert. Da ich einige philosophische Aufsätze
            mit mir trug, fand ich zum ersten Male eine Resonanz. Eine der
            Frauen las sie und war davon angetan. Abends langten wir in
            Chartereaux an. Die Landschaft ist üppig grün und fruchtbar, das
            Wetter war warm und mild. Ich wollte in einer Jugendherberge über-

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            nachten, aber es gab keine. Wir standen auf dem Parkplatz eines
            Hotels, und die drei redeten mit dem alten weißhaarigen Hotel-
            besitzer. Er frug, wer ich sei, fand mich sympathisch und nach
            vielem Übersetzen kam heraus, daß er mir kostenlos ein Zimmer zur
            Verfügung stellte. Etwas später saßen wir beim Abendessen. Es war
            mein erstes Essen nach französischer Sitte. Es gab verschiedene
            Gänge: Salate, Geflügel, Braten, Gemüse, Käse, Eis, Kaffee, Wein;
            es war wie im Schlaraffenland. Die Drei hatten mich in ihr Herz
            geschlossen und ich sie ebenso. Spät am Abend tranken wir Wein in
            einem Bistrot und tanzten dann durch die kleinen Straßen. Leider
            sind viele der Erinnerungen verblaßt, aber ich weiß, daß ich unbe-
            schreiblich glücklich war. Am anderen Tag langten wir in Figeac
            an. Zuvor hatten wir bei einem Onkel einer der beiden Frauen
            Pause gemacht. Er hatte eine Obstplantage mit einem herrschaft-
            lichen Haus. Auch dort wurde ich liebenswürdig empfangen. Es gab
            Erdbeeren, die so groß wie Pflaumen waren, Walnüsse von ähnlicher
            Größe, Äpfel, Käseplatten - alles im Überfluß. Aber am Abend in
            Figeac hieß es Abschied nehmen. Bald war ich mit mir allein.
            Mit einigen schnellen Wagen langte ich bei Perpignan nahe den
            Pyrenäen an. Aber wo wollte ich schlafen? Im Vertrauen auf die
            Sympathie, die mir bisher entgegen gebracht worden war, ging ich
            zu einer Landpolizeiwache und fragte nach einer Jugendherberge,
            es gab keine. Wo ich denn schlafen könne. Es war den Herren
            schnell klar, daß ich kein Geld für ein Hotel erübrigen konnte.
            Daher brachten sie mich zu einem verwilderten Garten neben dem
            Polizeigebäude, in welchem ein kleines Steinhäuschen stand,
            welches früher einmal eine Zelle gewesen war. Dort durfte ich
            schlafen. Es war ein einziger dunkler Raum, ein Eisenbettgestell,
            viel herunter gefallener Schutt, ein alter schwarzer Kamin. Die
            Wände waren bekritzelt. Es waren die Zeichen von eingesperrten
            Fremdenlegionären, die hier versucht hatten noch vor ihrer Ein-
            schiffung nach Marseille nach Spanien zu flüchten aber erwischt
            worden waren. Untergehende Sonne mit drei Kreuzen, Flüche auf
            die Legion d'Etrangere usw. Es war eine gruslige Nacht. Der
            nächste Tag wurde glühend heiß. Ich begab mich zum Mittelmeer und
            badete in recht hohen Wellen, was mir Ärger mit der Strandwache
            einbrachte. Aber es war schön, in die meterhohen Wellenberge ein-
            zutauchen, sie zu durchstechen und im nächsten Wellental wieder
            aufzutauchen. Ich weiß nicht mehr genau wo ich die Nacht danach
            verbrachte, ich glaube in einer Jugendherberge oder einem alten
            Hotel bei Toulouse. Die alten Hotels, die längst verschwunden
            sind, wie die Clouchards, waren oft Holzhäuser mit hohen schmalen
            Fenstern, Terassen, Balkonen und uralten Frauen, die sie bewirt-
            schafteten. Oft war ich der einzige Gast. Die nächste Erinnerung
            ist ein einsamer Gang am Fuße der Pyrenäen entlang, oft einige
            hundert Meter hinauf. Die Sonne brannte heiß, das Meer lag wie
            ein blauer Spiegel. Das kärgliche Gewächs bot keinen Schatten,
            trug aber Unmengen von Ungeziefer. Bei einem einsamen Haus bat
            ich um Wasser. Eine uralte Frau gab mir etwas und ich ging weiter,
            stundenlang. Irgendwann hielt ein Wagen und ich gelangte am Abend
            nach Barcelona. Ich besaß kein Geld mehr. Die letzten 25
            holländischen Centimes wurden von einer häßlichen Bäckersfrau
            nicht als Geld erkannt, ich erhielt nichts. Eine lauwarme Blut-
            wurstkonserve hatte ich als letztes gegessen. Naiverweise fragte
            ich bei der Polizei, wo ich schlafen könne. Der Beamte wurde
            sauer, meinte dann, ich könne ins Gebüsch gehen, sollte mich aber
            nirgendwo öffentlich erwischen lassen. Dieses Erlebnis, im Verein
            mit den selten haltenden Autofahrern, dazu die Leute selbst,
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            brachten mich auf den Gedanken, schnellstens wieder nach Frank-
            reich zurück zu kehren. Übrigens war der Massentourismus damals
            noch nicht auf vollen Touren. Ich schlief auf der Rampe eines
            Güterbahnhofs auf Pappkartons. Alle paar Sekunden schreckte mich
            etwas auf. Andern Tags war ich zerschlagen. Aber schon des Mittags
            war ich wieder bei Montpellier in meinem geliebten Frankreich.
            Dort nahm mich ein junger Lehrer mit, durch ganz Frankreich bis
            Dijon. Am ersten Abend unserer Fahrt, er fuhr eine Ente, gab es
            in Lyon Ärger. Er glaubte, sein Geld sei in der Kneipe, in der wir
            gegessen hatten, gestohlen worden. Wir hatten ordentlich Wein ge-
            trunken, beinahe kam es zur Prügelei. Ich zog ihn von den Leuten
            fort zum Auto, und da lag das Portemonaie auf dem Fahrersitz. Mit
            französischem Temperament wankte er zur Kneipe zurück und gab
            große Runden Wein aus, sodaß sein Geld danach auf recht ein-
            sichtige Weise dennoch ausgegeben war. Ich sollte seine "Ente"
            zum Zeltplatz fahren, aber ich wußte nicht wie das ging. Während
            mein besoffener Lehrer aus dem Beifahrerfenster auf die Straße
            kotzte, ruckelte ich die Ente von Ampel zu Ampel. Nun wurde,
            vielleicht vor Schreck, mein Freund wieder nüchtern und fuhr
            selbst weiter. Irgendwann wurde alles dunkel, und wir erwachten
            neben dem Auto liegend im Gras neben der Straße, und der Wagen
            stand halb im Wasser des Flusses. Aber es ging doch mühelos
            weiter. Beim Braten von Fleisch im Freien fiel das Fleisch in den
            Sand, aber mit Rotwein abgewaschen war es wieder genießbar. In
            Dijon, genauer mitten in der weiten Landschaft bei Dijon, war das
            Ziel meines Freundes. Ein älterer Bauer war sein Onkel. Dort
            wollte er Ferien machen. Der Onkel gab mir 100 Prancs, als er
            hörte, daß ich kein Geld hatte. Ich lehnte ab, aber er bestand mit
            väterlichem Nachdruck darauf. Einige Nächte und Tage meiner Reise
            kann ich nicht erinnern. Ich langte nach ungefäbr 2 Wochen wieder
            zu Hause an. Doch davon an anderer Stelle.
            
            Einige der Sommerferien meiner Schulzeit verbrachte ich mit
            Friedhelm in den Ferientageslagern. Das sah so aus: Morgens gegen
            8 Uhr fuhr ein Bus in der Nähe nach Beyenburg ab. Wir Kinder
            wurden damit zu einem Gemeindehaus gefahren und verbrachten den
            Tag bis etwa 17 Ubr dort und in der Landschaft um Beyenburg. An-
            schließend brachte uns der Bus wieder nach Hause. Das ging von
            Montags bis Freitags, vier Wochen lang. Es waren herrliche Tage
            in Beyenburg. Das ist ein Dorf, etwa 6 km von Langerfeld entfernt.
            Ringsum das waldige Bergische Land und ein etwa 1.5 km langer   
            Stausee im Lauf der Wupper angelegt. Alte Fachwerkhäuschen bilden
            in einem engen Tal direkt am Flußlauf den Ortskern. Auf einem
            Hügel nahe dabei steht ein altes Klostergebäude. Der Fluß ober-
            halb des Stausees ist überspannt von alten kleinen Brücken und
            hat verwilderte Uferböschungen. Teils wird er von Kornfeldern und
            Wiesen eingerahmt. Unterhalb der steinernen Staumauer fließt die
            Wupper durch ein schmales Tal, welches voller Wiesen ist. Dort
            steht ein steiler, etwa 100 Meter hoher Berg, der einen Aus-
            sichtsplatz trägt, von wo aus der ganze Ort übersehen werden kann.
            Der Fluß ist hier vor dem Berg nur fußknöcheltief, voller Algen,
            Kieselsteinen und den kleinen Fischen, den Stichlingen. Unsere
            Kindergruppe vom Ferienlager spielte oft dort. Eines Tages fing
            ich einen Stichling mit einer Konservenbüchse. Ich war 11 Jahre
            alt. Früher, bei den Ferien am Rhein hatte ich auch einmal mit
            einem Fischnetz am Stiel Fische gefangen und sie stolz im Ein-
            machglas zum Lager getragen. Nun aber sollte der Fisch mein neuer
            Freund werden. Mir gelang es, ihn mit nach Hause zu nehmen. Mutti
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            war entsetzt und verwundert, aber ich erhielt, ich denke mit
            Hilfe von Jürgen, dem 19 jährigen Sohn von Tante Friedchen, eine
            Emailleschüssel und dann ein kleines Vollglasaquarium. Am
            anderen Tag, als ich aus der Schule kam, hatte Mutti sich mit
            dem Fisch angefreundet. Als ich meinte, er sei doch so allein,
            stiftete sie spontan 1,25 Mark für einen Goldfisch, den ich beim
            Tierhändler zwei Häuser nebenan sofort einkaufte. Nun lebten
            beide, der Goldfisch und der Stichling über ein Jahr miteinander,
            bis der Stichling starb.
            Die Ferientageslager brachten uns Kinder in eine große Nähe zu
            der Landschaft, welche Wuppertal im Süden umsäumt. Wir fanden
            alles, was da möglich ist: dichte niedrige Fichtenwälder, hohe
            Eichen- und Buchenhaine, Wiesen am Fluß und an steilen Berg-
            hängen, hohe dunkle Tannenwälder, struppige Gebüsche, Brombeer-
            sträucher, Schieferwände, die steil abfielen, Blumen, staubige
            Wege, kleine kühle Bäche, Vögel und Sonne, heitere milde Sommer-
            sonne. Bei dem letzten Ferienaufenthalt in einem Tageslager
            während des letzten Schuljahres, verliebte ich mich in die etwa
            17 jährige "Tante", also die Aufsichtsperson. Immer wollte ich in
            der Nähe ihre glatten blonden Haare und ihres großen Busens sein.
            Einmal fuhren wir mit dem Bus in einen anderen kleinen Ort im
            Bergischen Land. Ich stand im Mittelgang und meine Jungenhand
            hielt sich direkt neben der ihren am Haltegriff der Sitzlehne
            fest, hinter der sie Platz genommen hatte. Ich schnippte mit dem
            Zeigefinger über die Fingerkuppe ihres Zeigefingers. Sie lächelte
            und schnippte ebenso mit ihrem Zeigefinger über meinen Zeige-
            finger. Ich wieder schnippte zurück, und so ging es im Wechsel
            immer schneller. Da fragte eine andere "Tante", also die zweite
            Aufsichtsperson, was wir da für Spielchen machen würden. Wir
            hörten sofort auf, ich verlegen, und meine geheime Freundin
            lächelte sehr vieldeutig, bevor sie sagte:" Nur so." - Wie mir
            dieses Lächeln und ihre Stimme einging, mir wurde schwindelig.
            
            In den ersten Schuljahren hatte ich meine erste Begegnung mit
            der Liebe. Sie hieß Waltraud und wohnte in "unserem Hause" eine
            Etage höher als wir. Ich weiß nicht, wann wir begannen Hand in
            Hand zur Schule zu gehen. Vielleicht mit acht oder neun Jahren.
            Sie kam einmal des Mittags über die Marbotstraße gegangen und
            lächelte mich an. Ich spürte ein aufregendes Gefühl in der Magen-
            grube, ich meinte ich müßte platzen. Seltsamerweise war ich nicht
            sexuell erregt, was ich damals schon kannte. Ich fühlte mich bei
            ihrem Lächeln in eine strahlende Kugel eingetaucht. Hingabe, Sehn-
            sucht, Freude, das war alles ein einziges Gefühl von Licht.
            Später, als wir im Schullandheim waren, saß ich mit ihr in der
            Dämmerung auf einer Bank. Ich glaube in einem Garten, der zu dem
            Gebäude gehörte. Kurz vorher, als sie von den spielenden Kindern
            auf der Wiese abließ um mir zur Bank zu folgen, war das starke
            Gefühl im Magen wieder da. Als wir dann auf der Bank saßen, ver-
            schwand es und sexuelle Erregung vermischte sich mit dem Gefühl.
            
            Mir schien, das Licht konnte auch ohne eine Freundin entstehen.
            Schon im Kindergarten hatte ich eines Sommertags beim Spielen im
            hohen Gras ein solches lichtvolles Schweben erfahren. Ich genoß
            das damals und wußte doch nicht was das war. Als wir ins 5. Schul-
            jahr kamen, ging Waltraud zum Gymnasium, ich blieb in der Volks-
            schule. Die Familie zog aus dem Hause aus und wir verloren uns
            aus den Augen. In vielen Nächten meiner Kindheit aber auch später
            gelegentlich, sah ich Waltraud, ihr wahnsinnig liebes Lächeln,
            wie sie als Achtjäbrige auf mich zukam.
            
            
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            Etwa mit meinem 12.Lebensjahr beginnend, habe ich Erinnerungen an
            zuusammen hängende Entwicklungen. Ich hatte in diesem Alter einen
            Goldfisch und einen Stichling. Als diese starben, war mein Vati
            bereits durch mich und seinen ehemaligen Jugendfreund so weit für
            Aquarien erwärmt, daß er von diesem ein komplettes Warmwasser-
            Aquarium kaufte. Nun begann eine aufregende Zeit technischer und
            biologischer Erfabrungen. Mit aufgekrempelten Hemdsärmeln setzte
            Vati das Thermometer und die Filterrohre ins Becken. Eine Neon-
            röhre kam oben auf. Mutti meinte ab und zu irritiert: "Paßt nur
            mit dem Strom auf !" - Dann wurden die Fische gekauft: Guppys,
            Skalare, Keilfleckbarben, Mollys und wie sie alle hießen. 0ft
            saßen wir, Vati mit mir, seltener war Friedhelm dabei, vor den
            Fischen und staunten. Als die Guppys Junge bekamen, war ich in der
            Schule völlig abgelenkt und dachte nur an die kleinen Fische, die
            meinen Schutz brauchten, ich fühlte mich wie eine Mutter, so kam
            es mir vor. Die jungen Fische mußten in der Tat vor den Großen
            geschützt werden. Sie kamen deshalb in eine durchlöcherte Plexi-
            dose, die im Wasser hing.
            Vati war sehr zurückhaltend, wenn ich etwas ausprobierte. Er
            wollte meine Ideen nicht lähmen sondern fördern. Später mit 17
            Jahren baute ich selbst mein erstes Aquarium. Mein Onkel Gerd
            machte aus Winkeleisen einen Rahmen, meine Lehrstelle stiftete
            alte Schaufensterscheibenreste, und ich kittete die vom Glaser
            zurechtgeschnittenen Scheiben in den Rahmen. Dann waren 90 Liter
            Wasser im Becken, Fische kamen hinzu und die Apparate, mit denen
            das tropische Klimat im Wasser aufrecht erhalten wird. Vati war
            stolz auf mich, und er saß oft vor den Fischen, wenn ich in mein
            Zimmer kam, welches auch Friedhelm bewohnte. - Vati war ein
            Kamerad, er half ohne sich aufzudrängen und ermunterte uns durch
            seine spröde wortkarge Art, die wir als eine sehr beeindruckende
            Achtung vor unseren Produkten empfanden. Als ich einmal Märchen
            schrieb, auch etwa mit 12 Jahren, meinten Vati und Tante Mimi,
            ich solle doch weiter schreiben und die Märchen an die Märchen-
            tante im Rundfunk senden. Ich tat das, jedoch meinte die Rundfunk-
            tante, meine Märchen wären am Ende immer zu traurig, sie könnten
            deshalb nicht im Rundfunk vorgelesen werden. Mit 17 Jahren baute
            ich in einer Werbstatt, in der auch Vati seit kurzem arbeiten
            mußte, da sein Augenlicht so schlecht geworden war, daß er nicht
            mehr Auto fahren konnte, eine Gitarre aus vielen zweifarbigen
            Hölzern, die ähnlich wie Parkett aneinander geleimt waren. Es war
            eine Elektrogitarre ohne Resonanzkörper. Vati half bei den
            Maschinenarbeiten, z.B Hobeln der verleimten Bretter. Am Ende
            hatte ich zwei Wochen meiner Ferien mit Vati in der Werkstatt ver-
            bracht und die Gitarre war fertig. Vati arbeitete an den Pro-
            jekten der Werkstatt, ich an dem meinen. 
            
            Im Februar 1961 wurde ich 14 Jahre alt. Einige Monate später hatte
            ich mich schon in meiner Lehrstelle eingelebt. Spätar werde ich
            vielleicht auf diese Zeit zurück kommen, die mit der Gehilfen-
            prüfung 1964 zum Schaufenstergestalter endete. Ein Jahr lang
            dekorierte ich, nunmehr als Geselle, Schaufenster und Ladenräume
            eines Riesenkaufhauses in Gevelsberg.
            Wirklich interessant wurde das Berufsleben für mich, nachdem ich
            meinen Beruf aufgegeben hatte und im Herbst 1965 eine Arbeiter-
            stelle in einer Kleinmaschinenfabrik in Langerfeld neben meinem
            Geburtshaus nahm. Dort wurden kleine Verpackungsmaschinen herge-
            stellt. Ich hatte zuerst die grobe Arbeit zu machen: Schleifen
            von kleinen Werkstücken am Schleifstein. Beim Schleifen lief eine
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            Öl-Wassermischung über Werkstück und Finger, sodaß ich oft ab-
            rutschte und Gefahr lief, mit den Fingern in den Schleifstein zu
            geraten. Der Meister des Betriebes war ein etwa 50 jähriger großer
            Mann mit einer riesigen Säufernase, obschon er im Betrieb nie
            trank, und einer ewig rauchenden Pfeife im Mund. Ein gemütlicher
            Kerl, der mich bald ins Herz geschlossen hatte. So war auch meine
            Arbeit am Schleifstein bald beendet. Sie mußte von einem 2 Meter-
            kerl gemacht werden, mit übergroßen Wurstfingern. Das Gesicht
            glich einem freundlichen Baby. Er war gutmütig, las seine Bild-
            zeitung, klopfte die üblichen Sprüche und war so etwas wie ein
            guter Kumpel. Er weihte mich in Tricks ein, wie und was "so lief"
            im Betrieb. Er kam aus der Obdachlosen und Armeleute- Siedlung von
            Langerfeld. Einmal ermahnte er mich, nicht so schnell zu arbeiten,
            ich würde den Jungs die "Tarife versauen". Ich war aber nicht 
            besonders eifrig sondern nur zu geschickt, sodaß mir alles beinah
            automatisch von der Hand ging und ich ohne Absicht die doppelte
            Menge produzierte wie die übliche. Also belehrt dachte ich mir,
            ich könnte die Zeit, die mir zuviel war, zu eigenen Produkten be-
            nutzen. Ich entwarf zwei Pistolen. Die erste war ein rechteckiger
            Eisenblock, etwa feuerzeuggroß. Ich bohrte einen 6 mm Lauf hin-
            ein, erfand einen Abzugsmechanismus mit Hahn und Sperre und baute
            eine Patronensperrklappe, damit beim Schuß die Patrone nicht nach
            hinten ausweichen konnte. Mein Interesse für Waffen war ein Über-
            bleibsel jener drei Monate 1965, wo ich beim Bundesgrenzschutz in
            Lüneburg eine militärische Grundausbildung gemacht hatte. Davon
            jedoch später. Die erste kleine Pistole machte ich also zwischen
            meiner regulären Arbeit und schoß damit draußen 6 mm Gewehr-
            patronen. Die zweite Pistole war für 9 mm Schrotkugeln gebaut.
            Den Lauf bonnte ich nicht selbst drehen. Also ging ich zu einem
            der Dreher in der Werkstatt und erzählte ihm, ich würde den 9 mm
            Lauf als Druckrohr für meine Dampfmaschine gebrauchen. Mein
            Freund Kurt hatte eigens 125 er Stahl besorgt. Der Dreher drehte
            den Lauf, ermunterte mich zu meiner Bastelei und lehnte eine
            Zigarettenpackung ab, denn unter Kumpels ist ja so eine Hilfe
            Ehrensache. Die Schrotpistole wurde fertig: Schlitten, getrennter
            Bolzen und Hammer, abklappbarer Lauf, alles funktionierte, doch
            sie tat nur einen Schuß. Bei allen weiteren Versuchen zündeten
            die Patronen nicht. Ich hatte die Abzugfeder zu schwach und den
            Abzugshahn zu leicht gebaut. Noch ehe ich aber meine Konstruktion
            verbessern konnte, fand Vati die beiden Pistolen und nahm sie mir
            ab. Ich sah sie nie wieder. Er war sauer, weil er Waffen nicht
            mochte. Paradox war das, weil Vati meinen freiwilligen Eintritt
            in den BGS sehr begrüßt hatte und selbst vor Kriegsbeginn 1939
            bei der Polizei gewesen war, in etwa meinem Alter. Aber Vati war
            nie in der NSDAP, nie in der SA oder Hitlerjugend; ein sicherer
            Instinkt hielt ihn von jenen fragwürdigen Gesellen fern.
                                                      151/23
                        
            Je länger ich darüber nachdenke, mich erinnere, wird mir mehr und
            mehr erstaunlich, wer dieser Mann, mein Stiefvater Emil Fels
            gewesen war. Mein leiblicher Vater verstarb als ich 6 Monate alt
            war. Mein Stiefvater heiratete meine Mutter als ich 1 1/2 Jahre
            alt war. In den Kindheitsjahren war er der Vati, so wie er es bei
            leiblichen Vätern für deren Kinder auch ist. Mit 12 oder 13 Jahren
            begriff ich, daß ich noch einen anderen leiblichen Vater gehabt
            hatte. Aber das Wort Stiefvater hat mir nie gefallen. Vati war
            nie ein Stief-vater. Eher hatte ich das Gefühl, daß er mich be-
            sonders gern mochte, manchmal sogar mehr als seine leiblichen
            Kinder. Heute werden mir einige Dinge klarer. Zum Beispiel war
            Vati wortkarg, wirkte nach außen wie ein einfacher, wenig nach-
            denklicher Mensch. Aber er handelte immer sehr klug und gutmütig.
            Sein Gesicht war in jungen Jahren ernst und tief. Er hatte etwas
            beängstigend Energievolles. Er war etwa 1,90 Meter groß, schlank,
            blond, blauäugig, ein Westfale, wie sie in der Gegend meiner
            Heimatstadt häufig vorkommen. Sein Leben war einfach. Als Sohn
            eines kleinen selbständigen Schreiners mußte er früh im Eltern-
            betrieb hart arbeiten. In den Nachkriegsjahren baute er aus den
            Trümmern ein flaches Haus auf mit einer Werkstatt, in welcher die
            Schreinerei untergebracht wurde. Später, als die Schreinerei ein-
            ging, arbeitete er mit einem kleinen Dreirad als Kleintransporteur
            für alles. Er hatte einige alte Freunde, Handwerker aus Schwelm.
            Sie machten Kegelabende, gingen aus, fuhren in frühen Jahren zum
            Rhein in Urlaub. Das alles verlief unkompliziert und unbeschwert,
            von kleinen Eifersuchtsszenen abgesehen, welche Vati inszenierte,
            wenn Mutti kurz vorher im Tanzlokal mit anderen geflirtet hatte.
            Mir schien, Vati trat nie bei der Erziehung in Erscheinung, mit
            Ausnahme bei schweren Delikten, die wir Kinder begingen; dann
            gab's Schläge auf den Po, aber selten. Heute sehe ich seine
            Methode besser: Er wollte uns Jungen nicht einengen und bedrücken.
            Er liebte so sehr die Selbständigkeit, daß er sie bei uns Kindern
            auch gerne sah. Als ich nach meiner ersten Auslandstour mit 18
            Jahren nach Hause zurück kam, war er stolz auf mich und bedauerte
            sogar ein wenig, daß meine Tour so kurz gewesen war, Vor allem war
            Vati ein Ritter. Als Mutti mit meinem Freund Werner ausbrach, und
            ich die beiden unterstützt hatte und dabei Vati hinterging, hatte
            er doch Verständnis für meine Lage und es gab keine Feindschaft
            zwischen uns als Mutti wieder zu ihm zurückgekehrt war. Während
            meiner Lehrzeit wollte ich die Lehre mehrmals abbrechen, aber Vati
            zwang mich weiterzumachen. Es war mein Glück gewesen. Nicht wegen
            des Berufes sondern weil mir Wege geöffnet wurden mit dem Ge-
            hilfenbrief, sodaß ich später auch Zugang zum Hochschulstudium
            fand. Nachdem die Lehre beendet war, hat Vati sich aus meinem
            wechselvollen Berufsleben heraus gehalten. Muttis Ehrgeiz trieb
            mich zweimal von der Fabrik ins Angestelltenverhältnis, weil das
            in ihren Augen "besser" war, aber in beiden Fällen bedauerte ich
            den Wechsel und es dauerte auch nur kurz. Vati meinte gelegentlich
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            zu solchen Streitfragen: "Der Fredi fällt immer auf die Füße und
            steht immer wieder auf, um den mache ich mir keine Sorgen,- aber
            der Friedhelm." Friedhelm wurde mit etwa 15 Jahren zum Sorgenkind
            - doch davon später.
            Nun sehe ich vor Augen, die letzte Szene mit Vati, bevor er 1974
            starb. Es war ein halbes Jahr vor seinem Tode. Vati kämpfte seit
            Monaten einen aussichtslosen Endkampf gegen den Lungenkrebs. Ich
            war 27 Jahre alt und steckte in der letzten Phase meines Pädago-
            gikstudiums. Ich besuchte Vati mit meiner Ehefrau im Krankenhaus.
            Ums Bett herum saßen zwei seiner alten Jugendfreunde nit Ehe
            frauen. Sie unterhielten sich, als ob sie im Lokal beim Bier
            wären. Ich zeigte Vati einen Brief, in welchem ich von einem
            Hochschullehrer eingeladen war, einen Vortrag über Psychologie zu
            halten. Beabsichtigt war wohl, mich nach Abschluß meiner Diplom-
            prüfung zu einem Assistenten zu machen. Vati las den Brief und
            zeigte ihn dann strahlend seinem besten Freund:" Hier, sieh' mal,
            hat der Fredi von der Hochschule bekommen."
            
            Die elterliche Schreinerei, Mitarbeit an einer Industriemesse, die
            Lehre, eigene Basteleien,- das hatte mir viele handwerkliche
            Fähigkeiten vermittelt, die zu meiner glühenden Phantasie als
            17 jähriger genau paßten, sodaß ich auch alles realisieren konnte,
            was mir in den Sinn kam. Nachdem ich meine Elektrogitarre gebaut
            hatte und einige Gitarrengriffe beherrschte, gründete ich mit
            meinem Freund Kurt eine Band. Kurt wollte Schlagzeug spielen, aber
            er hatte kein Geld um Trommeln zu kaufen. Also baute ich ihm aus
            Holzreifen und Elefantenpapier Trommeln. Dann kam unser Auftritt
            beim Klassentreffen unserer alten Volksschulklasse. Ich spielte
            Gitarre und sang. Die Welt um mich her glitzerte, ich sprühte und
            fühlte mich stolz als Fontäne, - ein Rausch, eine Extase. Die
            alten Klassenkameraden klatschten und tanzten. Aber nach einigen
            Übungsmonaten ging uns die Luft aus. Ich hatte jedoch den Geruch
            des Ruhms nicht vergessen, den ich bei meiner Darstellung gespürt
            hatte. Als ich mit 20 Jahren nach Frankreich trampte, brach eine
            alte Lust nach Applaus und extatischer Exibition wieder durch.
            Einige Kilometer vor Trier nahmen mich swei Soldaten mit. Sie
            gingen am späten Abend mit mir in eine Trierer Nachtbar. Dort
            spielte eine Musikkapelle mit dem Elan von Altrentnern. Ich ging
            zum Barbesitzer, einem über 50 jährigen und erzählte ihm, ich sei
            ein Sänger auf der Durchreise zu großen Auftritten am Montmartre
            in Paris. Ich würde gerne ein Stück für die Leute singen. Der Herr
            war begeistert. Ich sprang mit Jeanshosen und Rollkragenpullover
            auf die Bühne und bat die Kapelle in C Dur das Lied:" Das alte
            Haus in New Orleans" zu spielen. Ich sang, steigerte mich in
            dramatische Stimmlagen und das Publikum war begeistert. Sie hätten
            noch mebr hören wollen, aber ich beherrschte nur dies eine Lied.
            Der Barmann gratulierte theatralisch und lud mich ein, auf der
            Rücbreise von Paris wieder bei ihm zu singen.
            Überhaupt liebte ich in jenen Jahren die Helden. Ich meldete mich
            beim Bundesgrenzschutz als Freiwilliger, weil ich gehört hatte,
            daß dort die echten alten Soldaten wären und ein "ganz anderer
            Schliff" dort herrschen würde als bei der "schlappen" Bundeswehr.
            Sicher hatte ich auch Angst vor dem Soldatenleben. Aber ich neigte
            zum Draufzugehen, wenn mir etwas Angst machte. Ich wollte die
            Angst in mir ausrotten. Die Vereidigung beim BGS kam. Wir standen
            in Uniform und traditionellem Wehrmachtsstahlhelm in Lüneburg auf
            einem Platz. Ein verwitterter, wie pulvergeschwärzter Veteran und
            General redete uns an:" Männer ! Kameraden..." Das war der Höhe-
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            punkt meines schwärmerischen Jungenlebens, der wohl bald vom
            Dienstalltag überdeckt wurde, aber die Suche nach Abenteuern in
            mir bestärkte. An den Wochenenden, wenn ich dienstfrei hatte, fuhr
            ich ab und zu nicht nach Hause sondern trampte durch Norddeutsch-
            land. Ich trug einen Dolch bei mir, der zuerst von einem Schlosser
            des BGS repariert werden mußte. Der Mann war ebenso verrückt wie
            ich. Voll Begeisterung lötete er den zerbrochenen Griffstahl zu-
            sammen, und ich machte einen Holzgriff dazu. Auf dem Dolch stand:
            " Alles für Deutschland". Das irritierte mich damals nicht sondern
            hatte den Reiz des Verbotenen, der mit allen Erinnerungen an die
            NS Zeit zusammenhing. Es gab Schleifermethoden: " Sprung auf,
            marsch marsch, Deckung ! - Sprung auf marsch marsch !" usw. wenn
            wir nicht schnell genug beim Pfiff auf den Kasernenhof rasten.
            Die Männer waren aber alle gute Freunde von uns. Beim Streifen-
            gang an der Grenze zur DDR, danals noch "Zonengrenze" genannt,
            sahen wir die Wachttürme und Zäune derer von "Drüben'. Als ich
            meine Kündigung nach 2 1/2 Monaten einreichte, war dahinter
            wieder die Suche nach Abenteuern. Ein netter Werkstattmeister
            meinte:" Warum bleibst Du nicht bei uns. Hier hast Du doch Deinen
            ruhigen Dienst." Aber ich wollte ja das Gegenteil. So kam es, daß
            ich von Lüneburg aus meine erste Auslandstour begann. Vati stand
            in jener Zeit einmal in der Wohnungstür und sagte, als er mich
            in Uniform kommen sah:" Junge, ich bin stolz auf Dich." Dabei
            hatte er Tränen in den Augen. Als ich dann, ohne meinen Eltern
            Nachricht zu geben, den Dienst kündigte und später von Frankreich
            aus nach Hause kam, war es auch Vati der stolz auf meine eigen-
            willige Reise war. Es gab für ihn einen Begriff von Freiheit und
            freier Tat, die mich wesentlich unterstützte bei meinen Versuchen
            aktiv die Welt zu verstehen. Er wollte selbst als 13 jähriger
            einmal in die Fremde ziehen, aber es wurde nichts draus. Daneben,
            gleichsam im Stillen meines Ichs, gab es einen nachdenklichen,
            meditativen Teil, dar sich in einsamen Waldspaziergängen mit der
            Welt aLs Ganzes beschäftigte. Als ich 15 Jahre alt war und an
            einem sternenklaren frühen Abend im Wald spazieren ging, hatte
            ich den Gedanken, daß das Absolute, das vollkommene Sein anders
            sein müßte als das sternenbesetzte Universum. Der Himmel erschien
            mir zu klein um selber Absolutes zu sein. Ich dachte, es müßte
            zwei Welten geben. Eine davon wäre die bekannte Welt, und eine
            andere uns unbekannte Welt wäre das negative Spiegelbild unserer
            Welt. Beide, die positive und die negative Welt würden zusammen
            zum Nichts sich auflösen, - und nur dieses könnte das vollkommene
            Sein ergeben. In dieser Stunde war eigentlich mein späteres Leben
            als freier Geist begonnen. Ich verlor noch oft in den Jahren
            danach den Faden meiner großen Gedanken, aber ich fand doch immer
            wieder einen Anschluß an das einmal Gedachte. Manche Nacht saß ich
            allein in unserer Küche und schrieb meine Gedanben auf. Ab und zu
            kam Mutti vom Gang zur Toilette herein und meinte, ich müßte doch
            ins Bett um Morgens ausgeschlafen zu sein. Vati hingegen sagte
            selten etwas in dieser Art. Es kam sogar vor, daß er zu Mutti
            meinte, sie solle mich doch machen lassen, wenn es mir Spaß machen
            würde. So konnte ich, trotzt einer Familie, die meine Schreiberei
            in jenen Jahren merkwürdig fand, meine Gedanken entwickeln.
            
            In den Jahren zwischen 17 und 20 Jahren tranken wir, meine Freunde
            Kurt, Gerd und Jürgen und andere große Mengen Bier und Schnaps.
            Die alten verwitterten Kneipengänger in unseren Dorfkneipen waren
            begeistert, wie wir uns "mannhaft" mit dem Alkohol herumschlugen.
            Dabei wurden wir fröhlich, sangen und gröhlten in den nächtlichen

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            Straßen, und ich erlebte mich oft aus der Perspektive eines Be-
            trachters, der den Fred ansah, der aus dem Kind Fredi geworden
            war. Doch ich war viel zu gesund und lebensfroh um Alkoholiker zu
            werden. Als ich 19 Jabre alt war, gab es zu Hause Krach wegen des
            Geldes, welches ich abgeben sollte. Das war der Anlaß für mich,
            während die Eltern in Urlaub waren, meine längst fällige Ent-
            nabelung vom Elternhaus zu vollziehen. Ich zog aus und nahm ein
            Zimmer in der Nähe. Nach einigen Wochen des Schmollens seitens der
            Eltern wurde meine Lebensweise akzeptiert. Von da an wurde das
            Verständnis wieder so, wie es in der Kindheit meist gewesen war.
            Die Weichen aber waren gestellt. Ich arbeitete in einer Fabrik als
            Elektrohelfer, traf einen versponnenen Abendgymnasiasten mit dem
            ich in dunklen Winkeln der Riesenfabrikanlage über die Welt dis-
            kutierte. Er zeigte mir Lao Tse und Nietzsche, und ich begann ein
            Jahr der nächtlichen Abenteuer des Geistes. Bei Kerzenschein und
            Beethovens Symphonien kletterte ich in die dunklen Gänge der
            Nietzeschen Dämonenwelt. Die Arbeit in den Fabriken wurde mehr und
            mehr zum notwendigen Übel des Lebensunterhalts. Mädchen lernte ich
            kennen, verliebte mich in sie, fand aber nicht den Mut sie zu
            ficken, und hatte auch keinen Zugang zur Welt der Frauen. Derge-
            stalt abgeschirmt, und nur vom Suff mit Freunden unterbrochen,
            lebte ich in der Welt des Zarathustras und des Lao Tse. Ich
            spürte, daß draußen, in den Bahnen der Sterne und innen, in den
            Gängen der Gedanken, das große faszinierende Leben erst dabei war,
            für mich zu entstehen.
                                  
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