Fred Keil Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend Nr. 151 Aachen Oktober 1981 bis November 1982 Emil Fels (T) gewidmet
Dem Altbau gegenüber, in welchem ich meine Kindheit verbrachte, stand ein gelbes Fabrikgebäude aus der Gründerzeit. In der Mitte der Fassade war ein Ziergiebel angebracht, auf den Seitenflügeln thronten hohe, kunstvoll geschmiedete Blitzableiter. Der Sohn des Fabrikbesitzers hieß Tüppi und war genau so alt wie ich. Wir kannten uns aus der Zeit der ersten Schuljahre, waren aber nicht an einer gemeinsamen Schule. Tüppis Eltern hatten ein großes Haus neben der Fabrik. Ein Bau im Neoklassizismus der Gründerzeit mit einer phantastischen Rokkokoinnenausstattung. Die goldenen Stuk- ornamente versetzten mich in eine Märchenwelt, und ein wenig fühlte ich mich wie ein kleiner Prinz. Irgendwann, im Alter von acht Jahren, waren wir Freunde geworden, und Tüppi nahm mich mit ins Haus und in den großen Park, welcher dazu gehörte und etwas verwildert war. Ein leeres Zierwasserbecken stand dort inmitten der großen Rasenplätze, und der Zement bröckelte von den Schnör- keln des Beckenrandes ab. Eine hohe Steinmauer schloß das Gelände von der Hauptstraße ab, und so bestanden zwei getrennte Welten nebeneinander. Hier der Park mit der feudalen Atmosphäre, jen- seits die Hauptstraße mit ihren einfachen Häusern, Bürgervillen aus alter Zeit und der ärmlichen Vergangenheit meines Heimatortes Langerfeld. Der groBe Rasen im Park war von einer Allee hoher Kastanien eingefaßt. Am Ende, gegenüber dem Hause, stand ein kleiner Pavillion mit rostigen Gittern und von Efeu über und über bewachsenen und verwilderten Rosen. Auch hier bröckelte der Zement von den Pfeilern ab, sodaß eine wehmütige und zugleich süße Stimmung entstand, wenn ich gedankenverloren wor dem Pavillion stand. Halbwilde Katzen schlichen umher während wir zwei Indianer spielten.
An einem dieser warmen Sommertage kamen wir auf die Idee, eine Hütte in der Erde zu bauen. Tüppi besorgte Schüppen, und bald hatten wir einen etwa einen Meter tiefen Trichter ausgehoben, in welchem wir Platz fanden. Aus alten Brettern und Teerpappresten bauten wir ein Dach, welches dann mit Erde bedeckt wurde, sodaß die Erdhütte von fern nicht zu sehen war. Begeistert hockten wir uns in das Loch, aber es fehlte noch die Innenausstattung. Ich kratzte Vertiefungen in die Wände, und Tüppi besorgte einige Dinge, die dort hinein gestellt wurden: Eine Taschenlampe, eine Hacke, ein alter Schuh. In dieser Zeit, etwa 1955, besaßen nur wenige Leute ein Fernsehgerät. Tüppis Eltern besaßen diese Sensat- ion. Mit lehmverkrusteten Schuhen und schmutzigen Händen gingen wir zwei am späten Nachmittag zum Haus zurück. Tüppi wollte mich zum Fernsehen einladen. Wir gingen durch den Park zu der breiten Freitreppe hin, welche an der Rückfront ins Haus hinein führte. Die große doppelflügelige Tür war geöffnet, und Tüppis Mutter saß dort vor dem Fernsehgerät. Sie war sehr schön. Ihre Haare fielen wellig lang und schwarz herab. Die dunkelroten vollen Lippen in der hellen Gesichtshaut erinnerten mich am das Märchenkind Schneewittchen. Ich war ohne es recht zu wissen in diese Frau verliebt. Manchmal kamen mich traurige süße Gefühle an, etwas
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Trennendes lag zwischen ihr und mir; Sehnsüchte und unbestimm- bare Erregungen weckten ihr Antlitz, sodaß ich ungeschickt wurde, manchmal stolperte oder errötete, wenn sie sagte:" Gell', ihr werdet euch jetzt sauber machen und dann dürft ihr wiederkommen." Wir gingen dann in die Waschküche und wuschen den Lehm von Schuhen und Händen ab. Aber dennoch wurde es uns im Hause bald zu langweilig. Wir waren lebhafte und unternehmungslustige Kinder. Bei Regen zeigte Tüppi seltene Spielxeuge. So hatte er einen Vorführapparat für Trickfilme, in welchem Tiere vorgeführt wurden, die sich auf der Wand virklich bewegten. Aber sobald das Wetter es wieder zu ließ, liefen wir wieder in die Wildnis des Parks hinein. Wir suchten Reste von Waffen aus dem Krieg, weil Tüppi von seinem Kindermädchen gehört hatte, daß gegen Kriegsende einige Soldaten ihre Waffen im Park fortgeworfen hatten und sich verstecken wollten. Da fanden wir einmal eine Blechbüchse, die wie ein Ge- schoß aussah, ein andermal ein Eisenrohr. Die unheimlichste Stelle im Gelände war ein steiler, etwa zwanzig Meter tiefer Fels- abhang, welcher einmal für die Eisenbahnlinie herausgesprengt worden war. Diese Schlucht reichte bis zu einem Tunnel, in welchem die Züge mit Pfeifen verschwanden. Tüppis Eltern hatten uns ver- boten dort zu spielen, aber wir waren viel zu mutig und gingen deshalb ab und zu dort hin, guckten mit Schauer auf die Gleise hinab und zogen uns rasch wieder zurück. Wenn am frühen Abend jeder von uns zurück ins Elternhaus mußte, brachte Tüppi mich vor das Tor, welches das Gelände von der Hauptstraße abschloß, und dort stand ich dann und war mit einem Schritt wieder heraus aus dieser Märchenwelt und Vergangenheit.
In jenen Tagen fuhren nur wenige Autos durch unsere Straßen. Hinter dem dreistöckigen Mietshaus, in welchem ich aufwuchs, war eine Nebenstraße, deren Bürgersteige aus festgetretenem Lehm be- standen. Ein kleines Schieferhaus stand an "unserem Haus" ange- lehnt, dem folgte ein Park, welcher einem wohlhabenden Apotheker gehörte. Ein Zaun mit niedriger Mauer und Eckpfeilern schloß den Park von der Straße ab. Dem gegenüber war ein niedriger Bau, in welchem ein Kaplan wohnte. Davor gab es Rasenflächen, ein Zaun und ein Tor, welches immer geöffnet war. Dort anschließend waren kleine Gärten und ein altes Mietshaus, in welchem Herbie wohnte, der erste Kindfreund meines Bruders Friedhelm, der zwei Jahre jünger als ich ist. Ich erinnere mich sonniger Tage. Wir trugen kurze Hosen, der Bürgersteig war staubig. Wir spielten mit Heuern, so hießen bei uns die kleinen GLasmurmeln. Einer von uns ritzte mit einem Holzstück ein Dreieck in den Sand. An die Ecken legten wir jeder eine Murmel. Wer eine traf durfte sie alle be- halten. Ich stapfte mit den Füßen zornig auf den Boden, wenn ich alle meine Heuern verloren hatte. Und ich verlor oft, hatte kein Geld um neue Heuern zu kaufen. Da konnte ich meine Mutti bedräng- en, bitten, betteln, sie gab keinen Groschen,- sie hätte auch gar keinen geben können, denn es ging knapp zu bei uns zu Hause. Vati arbeitete bei Opa in der Schreinerei und fuhr mit einem drei- rädrigen Auto von Haus zu Haus, lieferte Möbelgestelle ab und transportierte für kleine Betriebe Waren zum Bahnhof. Vor "unserem Haus", in welchem wir zur Miete wohnten, wuchsen im Dreieck, wo die Haupt- und Nebenstraße zusammen trafen, niedrige Büsche. Eine dunkle Granitmauer, zu den Seiten niedrig, in der Mitte wie ein altes Grabmal hochgezogen, schloß das Fleckchen Erde von der Straße ab. Wir kletterten auf die Mauer und sahen auf die
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Hauptstraße, die unter hohen Kastanienbäumen zur "Stadt" hin- führte, jenem Stadtteil Wuppertals, welcher ursprünglich, als "Barmen" eine selbständige Stadt gewesen war. Zur anderen Seite führte die Hauptstraße zum Mittelpunkt des Dorfes "Langerfeld", einem Marktplatz, uelcher schon lange kein Platz mehr war, an dem Markt gehalten wurde. Aber die Kirche stand da und einige sehr alte Fachwerkhäuser, die mit Schiefern beschlagen waren. Der innere Teil des Ortes zählte etwa 5 000 Einwohner, mit den Rand- siedlungen an den Berghängen waren es etwa 15 000. Unser Haus, die Kirche und der Hof waren die ersten Orte, in denen ich lebte. Der Hof war der aufregenste Ort meiner frühen Kindheit. Er maß nur drei mal fünf Meter, hatte eine Wäsche- stange und lag etwas tiefer als die Straße. Ich saß schon als Dreijähriger auf den Stufensteinea des Hofes und spielte mit kleinen Steinchen und Weinrebstöckchen, die herum lagen. Am Nachbarhaus wuchsen Weinreben, deren Blätter das erste Grün waren, welches ich als Kind kennenlernte. Dort fand ich auch eine dünne Glasstange. Ich wußte nicht, was das war, aber ich spielte damit, bis sie zerbrach und einen kleinen Schnitt in meinen linken Ring- finger ritzte. Das Blut tropfte heraus, ich lief aufgeregt ins Haus, durch den dunklen Hofflur, die Treppe zum 1. Stock hinauf, wo ich an der Etagentür stürmisch klingelte, bis Mutti aufmachte und meine kleine Verletzung behandelte. Sie nahm dererlei nicht tragisch, fast stets hielt sie meine Reaktionen auf Schmerzen für übertrieben, - sie war sicher keine übermäßig besorgte Mutter. Vielleicht steckte Vati dahinter, ein Mann von l,90 Meter Größe, tüchtiger Reiter und Schwimmer, der sich nicht schonte und deshalb auch bei uns Kindern keine Wehleidigkeiten duldete. Die kleine Verletzung von damals hat eine kleine Narbe hinter- lassen, die auch heute noch als Andenken geblieben ist.
Vati lebte in einer aufregenden Welt. Ich war gerade fünf Jahre alt, als ich die Schreinerwerkstatt kennenlernte, in welcher Vati und Opa,- sein Vater war es, zusammen mit drei weiteren Gesellen Möbel herstellten. Die Schreinerei befand sich in einem flachen Schuppen, vor welchem das Trümmergrundstück eines im Kriege zerbombten Hauses lag. Der Werkraum war etwa zehn Meter breit und achtzehn Meter lang. Dort standen eine Bandsäge, eine Kreis- säge, eine hohe Schleifscheibe, eine Hobelbank mit einer Art Tunnel, durch welchen die Bretter gezogen wurden, eine Hobel- maschine mit offen laufender Messerwalze, eine Bohrmaschine, eine Horizontalbohrmaschine, vier Werkbänke und große Stapel von Holzbrettern, Haufen von Hobelspänen, die der Metzger für seine Räucherkammer wöchentlich abholte. Ich lief dort herum und spielte mit Hämmern, Holzplatten, Spänen. Vati hobelte einmal kleinere Bretter. Ich kletterte in den Sägespänehaufen hinter der Hobelmaschine und nahm die Bretter an, wenn sie aus der Maschine heraus geschoben wurden. Dann entdeckte ich Hammer und Stecheisen. Vati zeigte mir, wie das Stecheisen auf das Holz gesetzt wird und mit einem Hammerschlag eine Kerbe im Holz ent- steht. Ich lernte, aus den Kerben Linien zu machen, schließlich entstand auf einer glatten Holzplatte ein Bild aus Kerben: Sonne, Baum, Atompilz. Vati war geduldig. Wir gerieten nie ernsthaft aneinander. Wenn ich Werkzeug gebraucht hatte, dann mußte ich es wieder dort hin legen, wo es vorher gelegen hatte. Beim Holz mußte ich fragen, welche Stücke ich verwenden durfte. Das waren die einzigen Bedingungen, die mir gemacht wurden. Tageslicht fiel oben durch das Glasdach herein. Die Männer bauten Gestelle
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für Sessel und Sofas. Wenn genug davon fertig waren, wurden diese hellen rohen Holzgestelle auf Vatis Dreirad geladen und zum Pol- sterer gefahren. Vor dem Arbeitsraum war eine winzige Wohnung mit zwei Zimmern. In einem davon stand eine alte Schreibmaschine, das Telefon und andere Dinge, die im Büro benötigt werden. Oma saß dort, schrieb Rechnungen aus und kochte neben dem Schreibtisch auf dem Kohleofen für die Gesellen und Untermieter. Es gab auch einen kleinen Prospekt, welchen Opa und Vati hatten drucken lassen. In ihm waren die Polstermöbel abgebildet, teils als rohe Holzge- stelle, teils mit Stoffen fertig hergestellt. Das Trümmergrund- stück zog uns an. Aber wir durften nicht in die freigelegten Kellerräume hineinklettern. Heimlich taten wir es doch. Alte verwitterte Rohre liefen dort her, teilweise war der Kellerboden freigelegt, teils mit Steinen zugeschüttet. Aus diesem Grundstück hatten Opa und Vati nach Kriegsende Steine geholt und den Schuppen aufgebaut, in welchem nun die Schreinerei und Omas und Opas winzige Wohnung war.
Der halbe Ort Langerfeld lag in meinen ersten Kindheitsjahren in Schutt und Asche. Man lief durch zerbombte Häuserreihen und gleich dahinter begannen Wiesen und Wälder. Unsere Abenteuerlust fand die phantastischsten Möglichkeiten sich auszutoben. Wir kletterten, trotz strenger Verbote durch die Erwachsenen, in morsche Keller, durch halb zerfallene Wände. Unkraut wuchs überall, ab und zu fanden wir Reste des ehemaligen Innenlebens der Häuser: Lampenschirme, Lumpen, Stoffbänder, rostige Töpfe. Unser Herz klopfte jedesmal sehr, wenn wir in ein noch unbe- kanntes Gemäuer stiegen. Zwischen hohen Resten der Häuserfassaden lagen geheimnisvolle Löcher, die in dunkle Kellerräume hinab führten. Duft von Unkraut, und modernden Sachen stieg herauf. In jener Zeit bekam der Zerfall für mich jenen melancholischen Glanz, der ihn auch heute noch für mich faszinierend macht.
Wir bewohnten in den ersten Jahren zwei Zimmer im l.Stock des Altbaus, den ich schon erwähnt habe. Es war eine Etagenwohnung. Hinter der Haupttür lag ein langer Flur, und zu den Seiten waren die Türen der Zimmer. Am einen Ende des Flurs war der Spülstein für alle Etagenbewohner. Am anderen Ende wohnten wir: Vati, Mutti, Bruder Friedhelm und ich. Neben dem Spülstein war ein Fenster, welches den Flur nur zum Teil ausleuchtete. Auf der Etage wohnten eine alte Juffer, die Tante Klärchen, daneben eine alte verwitwete Schneiderin, die Tante Mimi genannt wurde. Neben unserer Wohnung wohnten Frau und Herr Hülsen mit zwei Kindern und daneben Tante Friedchen, eine Kriegerwitwe mit ihrem Sohn Jürgen, der acht Jahre älter war als ich. Wir Kinder waren bei allen gern gesehen. Mein Bruder war der Liebling von Tante Klärchen, ich war der Liebling von Tante Mimi. Es waren keine Bevorzugung- en, welche von den Erwachsenen aus gingen, sondern sie kamen von uns Kindern. Tante Mimi hatte des Morgens bevor wir zum Kinder- garten, später zur Schule gingen, immer ein Bonbon für uns. Da ging die Tür auf, wenn unsere Kinderschuhe tappten, und Tante Mimi fragte:" Wollt ihr ein Bonbon ?" 0ft fragten wir auch, ob ein Bonbon da wäre. Sie war übrigens katholisch, alle anderen sowie fast der ganze Ort waren evangelisch. Tante Mimi war die gute Fee im Hause. Wenn Vati und Mutti ausgehen wollten, paßte Tante Mimi auf uns auf. Sie kam ins Zimmer, wenn der Herbststurm uns ängstigte oder ein Gewitter hereinbrach. Schon früh wurde sie mein wichtigster Spielgefährte im Hause. Da sie in ihrer Wohnung
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arbeitete, hatte sie oft am Nachmittag Zeit für uns Kinder. Sie war bereits Rentnerin und arbeitete nur noch gelegentlich. Wir spielten das Flohspiel oder "Hütchen", später "Halma" und "66". An der Wand tickte eine alte Pendeluhr, im Zimmer waren ein alter Emailleofen, Glastürenschrank von der Jahrhundertwende, ein ebenso alter Spiegelschrank, Tisch und Bett und ein Sofa mit Stühlen, eine alte Nähmaschine und ein kleiner Gasherd. Tante Mimi hatte Angst vor Gas und Feuer. Sie drehte nach dem Kochen sorgfältig den Gashahn am Hauptrohr ab, und ich übernahm ein Stück ihrer Angst vor dem Feuer und wollte Feuerwehrmann werden um die Tante Mimi zu beschützen. Opa, der Vater von Mutti, war bei der Werksfeuerwehr. Er war der ehrfurchtsgebietenste Mann für mich, überdies spielte er im Posaunencbor der Gemeinde und hatte sogar öffentliche Auftritte. Tante Mimi ihrerseits verwöhnte uns Kinder so gut es in der armen Zeit ging. Sie backte Äpfel im Backofen, kochte Pudding, Brotsuppe und allerlei andere Dinge. Ich interessierte mich damals für alles, so auch für Tante Mimis Nadeln, Häkelnadeln usw. Sie brachte mir mit der Zeit einfache Sachen bei: ich konnte eine Schnur häkeln, Knöpfe annähen, mit der Schere schnippeln. Bei allen meinen Versuchen ermunterte sie mich, und es gab kaum etwas, was sie nicht gelobt hätte, wenn ich damit fertig war.
Im Stadtteil Wuppertal-Vohwinbel, der von Langerfeld 14 Kilo- meter entfernt ist, wohnten Onkel Heinz und Tante Hanni. Sie hatten einen Garten und Onkel Heinz züchtete Bienen. Er war ein großer Kinderfreund und selbst ein Lausebube geblieben. Tante Hanni war eine blonde schöne Frau, die schon früh eine starke sexuelle Anziehung auf mich ausübte. In jenen Tagen, da die folgende Situation geschah, war ich sechs Jahre alt, Friedhelm 4 Jahre alt. Zu Weihnachten hatten wir jeder einen Ballonroller geschenkt bekommen. Es war ein unerhörtes Opfer für Vati und Mutti gewesen. Vati verdiente damals etwa 80.-DM wöchentlich, einer der Roller kostete 40.-DM. Der Frühling kam, Friedhelm und ich rollerten begeistert durch die Marbotstraße, jene, die ich als Nebenstraße hinter unserem Hause schon erwähnt habe. Wir fuhren ahnungslos über Verkehrsregeln auf der linken Straßen- seite, bis einmal ein Lieferauto uns an einer Ecke entgegenkam. Vor Schreck fielen wir beide um, der Wagen hielt vor uns und den Rollern, und dann gab es Schimpfe. Aber uns war nichts passiert.
Irgend etwas weckte meine Abenteuerlust in jenen Tagen. Ich war gerade aus der Schule zurück, Friedhelm war aus dem Kindergarten eingetroffen, und das Gemüse war hastig aufgegessen worden. Wir liefen zu unseren Rollern im Hof, und ich schlug Friedhelm vor, mit nach Vohwinkel zu fahren und Tante Hanni und Onbel Heinz zu besuchen. Der Lockenkopf sah mich mit erstaunten Augen an, nickte, und wir fuhren los. Ich wußte, daß es im Tal eine große Straße gab, die in westlicher Richtung nach Vohwinkel führte. Die Entfernung war mir kein Begriff. Wir konnten uns nicht verirren, weil Wuppertal in einem Talkessel liegt und es nur eine Richtung gibt, welche von Bergen ungehindert verfolgt werden kann. Es war ein sonniger Frühsommertag. Unsere Roller fuhren den langen Berg von Langerfeld nach Oberbarmen hinab. Zwischen engen Straßen mit hohen alten Häusern und Straßenbahnschienen fuhren wir bis zur Anfangsstation der Schwebebahn, jener Seltenheit, die auf Stelzen über dem Flußbett der Wupper geführt wird und an Rädern hängend etwa 10 Meter über dem Wasserspiegel fährt. Eine
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Baustelle mit ratternden Preßlufthämmern erschreckte uns. Friedhelm wollte beinahe weinen. Wir stelltcn unsere Roller an einer Hauswand ab und ich tröstete ihn, sagte wir wären bald da, daß ein Junge und Indianer sowas aushält,- kurz, wir fuhren tapfer weiter. Zwischen den Stadtteilen Oberbarmen und Barmen sowie zwischen Barmen und Elberfeld gab es dünner besiedelte Strecken. Ich dachte, wir würden bereits aus der Stadt heraus gelangen und fragte Leute nach der Station Sonnborn, die Station in Vohwinkel, in deren Nähe Tante Hanni und Onkel Heinz wohnten. Die Leute waren verblüfft und sagten, gleich nachdem sie die Richtung gezeigt hatten, das wäre doch zu weit für uns, wir sollten wieder nach Hause fahren. Als wir Elberfeld durchquert hatten, waren wir bereits seit über 3 Stunden ohne große Pause unterwegs. Wir waren nahe dabei zu verzagen. Die Straße führte durch bewaldete Gebiete mit wenigen Häusern. Bang fragten wir uns, ob wir je heil in Vohwinkel anlangen würden. Dann kamen wir endlich zu jener Stelle, wo das Gerüst der Schwebebahn das Fluß- bett verläßt und über der Hauptstraße weitergeführt wird. Das erkannten wir von Besuchen in Vohwinkel wieder. Erleichtert rollerten wir schneller über die Bürgersteige. Schließlich sahen wir die Station Sonnborn auf Stelzen in 6 Metern Höhe über der Straße stehen. Kurz darauf fanden uir das Haus von Tante Hanni in der "Nietzschestraße". Sie war da. Erstaunt fragte sie, wo und wie wir gekommen wären. Ungläubig hörte sie unseren Bericht, sah die Roller, lachte, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und gab unseren durstigen Mündern Tee zu trinken. Nachdem wir stolz erzählt hatten, was wir alles gesehen hatten, gab es Brote zu essen und wir mußten ihr versprechen, die Rückfahrt mit der Straßenbahn zu machen. Gegen Frühabend brachte sie uns zur Straßenbahn, half beim Einladen der Roller, ein Winken und fort waren wir wieder. Abends erzählten wir Vati von unserer Fahrt. Er hörte sich alles an und sagte streng, wir dürften nicht mit unseren Rollern in die Stadt hinunter fahren. Aber dann ließ er sich von unserer nicht zu unterbindenden Begeisterung einfangen und hörte unserem Erzählen zu. Es war etwas in ihm auch stolz auf seine Kinder. Anderntags erzählte er seinen Arbeits- kollegen von unserer Fahrt. Viel später, als ich im Alter von 18 Jahren einen Ausbruch nach Frankreich unternahm, zeigte sich Vatis heimliche Fürsprache an solchen Aktionen auch wieder - doch davon später.
Ich entsinne mich einer frühen eindringlichen Begegnung mit der Einsamkeit und dem Gefühl der Verlassenheit. Mit meinem Fahrrad war ich an einem recht milden Septembertag im Jahre 1962, als ich 15 Jahre alt war, aus Wuppertal hinaus gefahren. Es war ein Nachmittag, welcher auf die Berufschulstunden des Morgens folgte und daher arbeitsfrei war. Ich fuhr den Berg hinauf und gelangte in das leicht bergige Gelände im Norden der Stadt. Baumalleen hatte ich bereits hinter mir gelassen und kam nun in ländliches Gebiet mit Äckern und Waldstreifen. Die ausgefransten Städte des Ruhrgebietes mit ihren Kleinfabriken und dörflichen Vororten reichen weit ins Bergische Land hinein. Es wurde allmählich Abend. Ich war etwa 30 Kilometer gefahren und war auf der Land- straße ziemlich alleine. Die ersten Fördertürme des Ruhrgebietes tauchten auf. Es wurde Dämmerung. Mir war traurig und wehmütig zumute, aber es war eine ziellose, beinahe grundlose Einsamkeit.
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Ich redete seit Stunden still in Gedanken nur mit mir selbst. Die Schönheit und das bizarr Fremde, dieser mir neuen Gegenden war leer und nichtssagend geworden. Ich sah keinen Zusammenhang zwischen mir, der Landschaft und meinem Zuhause. Mir schien, als hätte ich gar kein Zuhause. Ich hatte nicht das Gefühl, nur auf einige Stunden vom elterlichen Wohnort entfernt zu sein. Ich war wirklich entwurzelt, die Brücken hinter mir schienen abgebrochen. Der vernünftige Gedanke, daß ich bald nach Hause fahren würde, hatte gegenüber dem Gefühl grenzenloser Einsamkeit gar kein Gewicht. Eine leere Landstraße mit abweisenden einzelnen Häusern und umgeben von Feldern, rohen Äckern und dunkel werdenden Büschen sog mich in ein Nichts hinein. Mir schien dieser Zustand so trostlos, daß ich gar nicht mehr da sein wollte. Aber ich fühlte auch eine tiefe Echtheit in mir: Diese Leere war ich selbst, und nur aus mir heraus könnte etwas geschehen, was einen anderen Zustand bringen würde. Dies alles war mir nicht so sehr in Gedanken klar, als im Gefühl meines Körpers. Ich vermißte die Körperwärme und Geborgenheit eines Menschen, der mich liebte und den ich lieben konnte. Aber ich wußte von diesem Mangel gar nichts. Alles war zersplittert in sinnlose Bildchen. Ich hatte etwas Geilheit in mir, etwas Angst, etwas Neugier, etwas Zutraun, etwas Sehnsucht, aber ich war noch nicht ein geschlossenes Wesen, welches einheitlich Glück oder Unglück empfindet. Ich radelte in der späten Dämmerung nach Hause zurück. Ich fühlte, daß eine Geborgenheit dort auf mich wartete, die mich als Kind befriedig- te, aber nun, stehend zwischen Kind und Mann, mich nicht mehr wirklich aufnehmen bonnte. Ich fühlte, daß ich zu Hause wieder den starken Drang in mir haben würde, welcher mich zu dieser Radtour getrieben hatte. Ich wußte, daß ich zwischen Suche und Heimwehr weiterhin irren würde und sah nirgends einen Ausweg. Ich wurde darüber zum Philosoph.
Einen starken Hang zum meditativen Anschauen hatte ich schon als Kleinkind im Kindergarten. Eines Tages machte die Betreuerin mit uns Kindern einen Ausflug in den nahen Wald. Eine steile, zum Berg hinauf gehende Straße führte in den lichten Laubwald, der zum großen Teil neu angepflanzt worden war. Vereinzelt standen hohe alte Eichen und Kastanien auf kleinen freien Plätzen. Einer der Plätze, der Kaiserplatz, maß etwa 50 Meter Durchmesser. Die eine Seite uar begrenzt von einer Böschung, die den Berg hinauf führte, die andere Seite endete mit einem Abhang, welcher ins Tal hinabfiel. Ringsum standen am Rande junge Laubbäume, deren Blätterdach weit auf den Platz hinausragte, beinah bis zur großen Laubkrone einer uralten mächtigen Eiche, die in der Mitte des Platzes stand. Die Sonne warf tanzende Schatten durch das Geäst auf den Sandboden. Wir liefen springend und hüpfend auf den Platz, tummelten uns im Gras der Böschung; einige Kinder spielten Jagen. Ich fand manches interessante Blatt auf dem Boden und im Unterholz am Platzrand, hockte mich nieder und sah mit Erstaunen grüne Eichenblätter mit feinen samtbraunen Rändern und die handförmigen Blätter der Kastanie. Auch die Ameisen beschäftigten mich lange. Wie war es möglich, daß etwas so Winziges wie eine Ameise laufen konnte ? wie war es möglich, daß sie sogar einen eigenen Willen hatte ? Das waren mir unbegreif- liche Rätsel. Ein im Zickzack verlaufender Weg führte von dem Platz hinab in ein schmales Tal, in welchem ein Bach floß. Wir hockten am Ufer und ich starrte in die flimmernden kleinen Wasserbewegungen, welche das Sonnenlicht wie unzählbare blinken-
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de Nadeln reflektierten. Es gab Käfer, die über das Wasser liefen, eine neue unerhörte Sache, denn sie gingen nicht unter. Die aktiveren Kinder bauten aus Steinen einen Damm, der das Wasser staute. Ich war auch dabei, aber doch immer wieder ab- gelenkt durch die vielen interessanten Dinge am Boden. Brenn nesseln, die nicht brannten lernte ich kennen. Sie hatten weiße Blüten unter den Blättern. Grün-metallisch schimmernde Fliegen saßen auf den echten, also den brennenden Brennesseln. Die watteartigen Geflechte von Blattparasiten in den Rotdornhecken waren ein neues Fragezeichen. Unterdessen schien die Sommersonne wärmer auf die spielende Kinderschar. Wir suchten uns einen Schatten. Da standen hohe Schilfgewächse mit großen Kronen auf hohen Stielen, kleine gelbe Blumen im Gras und Frösche, kleine flinke Laubfrösche, die uns immer wieder davon liefen, wenn wir nach ihnen griffen. Heute, wenn ich diese Bilder mir zurüchrufe, kommt etwas Bitteres in mir hoch: Längst läuft eine Autobahn durch das kleine Tal, und kastenförmige Wohnblocks stehen nahe am Bach. So zeigen die Veränderungen meiner kindlichen Erlebnis- welt immer einen Abschied.
Sehr früh hatte ich dieses Abschiednehmen, besser: ein Genommen- werden, am Verlust meines liebsten Spielplatzes kennengelernt. Die Marbotstraße, die unser Haus zur Rückseite begrenzte, führte auf die Leibuschstraße, die Anfang der fünfziger Jahre noch voller Ruinen ausgebombter Häuser war. Diese Straße führte rechts und links an der Einmündung der Marbotstraße einen Berg hinab. Beide Wege führten, wenn man eine Biegung nach links oder rechts machte, über einen Weg zu einem kleinen Tal, in welchem eine Sportanlage war, an welche sich Schrebergärten anschlossen. Der zweite Weltkrieg hatte den Sportplatz zerwühlt, die Schreber- gärten in eine Wildnis verwandelt. Im Halbkreis endete der Platz an einem Berghang, welcher oben in leicht geneigten Wiesenflächen endete. Der Hang war nur etwa acht Meter hoch und mit wildwachsen- den Büschen bedeckt. Durch das hohe Gras, Büsche und Brennesseln, Disteln und Schilfplanzen führte ein schmaler Pfad. Das war unser Urwald. 0ft liefen wir durch die Gräser, spielten Verstecken im Gestrüpp und kletterten in den jungen Bäumen und Büschen am Hang. Zwei Bunkereingänge, halb verschüttet waren ebenfalls am Hang. Die dunklen Höhlen waren furchteinflößend. Ältere Kinder erzähl- ten von abenteuerlichen Erkundungen innerhalb des Bunkers unter dem Berg. Wenn die Sonne schien, flatterten viele weiße Schmetter- linge über den Gräsern. Ich versuchte sie zu fangen. Manchmal gelang es einen sitzenden Falter zu erfassen. Meist ließ ich ihn wieder los und er flog weiter. Seltener varen gelbe und rotbraune Schmetterlinge. Sie ließen sich auch nie von mir erwischen. Am Rande des Hanges war ein Schuttabladeplatz, welcher zu einer Fabrik gehörte. Dort wuchsen hohe Schilfpflanzen mit rötlichen Stielen, aus welchen wir Pusterohre machten, da sie innen hohl waren. Grüne Holunderbeeren pusteten wir damit gegen alles mög- liche. Ich war vielleicht fünf Jahre alt, als eines Tages eine Planierraupe kam und die ganze Wildnis plattwalzte. Auf dem Platz entstand ein Kinderspielplatz und ein Fußballfeld. Der Spielplatz bestand aus einer glatten Rasenfläche, zwei Sandkästen und einem eisernen Turngerüst. Wir Kinder waren von diesem Wandel betroffen, und der langweilige neu angelegte Spielplatz sah uns fast nie. Oben auf dem Berg, wo die Wiesen waren, gab es dunkle Büsche, Himbeersträucher, Dornengestrüppe, also eine weitere Wildnis, die von den Aufräumarbeiten verschont geblieben war. Dort hatte ich
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einige spannende Erlebnisse. Eines davon begann mit Eddy, einem Klassenkameraden aus der Schule. Wir waren 12 Jahre alt und hatten die uns verbotenen Zigaretten gekauft. Wir kletterten den Hang hinauf und suchten oben in der Wildnis einen Bombentrichter, der uns vor den Blicken anderer schützte. Ich hatte wahnsinniges Herz- klopfen. Wie Diebe schlichen wir uns schließlich, nach einigen hastigen Zügen aus den Zigaretten aus dem Trichter heraus. Etwa im gleichen Sommer hatten wir die dicke Gerda hoch in unsere Wildnis mitgenommen. Sie hatte für ihre 14 Jahre riesige ausge- wachsene Brüste. Zuerst waren wir zu mehreren Mädchen und Jungen. Irgendwann, ich weiß nicht ob es nur Zufall war, blieb ich allein mit Gerda zurück. Sie wollte mir etwas zeigen. Mit aufgeregtem Herzklopfen stand ich vor ihr. Sie öffnete ihre Bluse und sagtze: " Guck mal !" Ich sah weißschimmernde Halbkugeln und errötete. Sie war erfahrener und älter als ich, und sagte dann:" Faß' mal an !" "Darf ich ?", fragte ich, schaute mich ängstlich um, aber hier im Gebüsch waren wir vor allen Blicken von Anderen geschützt. "Du kannst alles machen", antwortete sie. Ich aber bekam vor lauter Aufregung heine Bewegung mehr zustande und verzog mich verlegen mit der Ausrede, ich müßte nach Hause gehen. Solche Arten der Feigheit wurden von uns Kindern großzügig übergangen, denn Mädchen waren nichts, an dem ein Junge seinen Mut zeigen konnte. Das hatte, wie wir heute wissen, allerlei Gründe.- Nun, es gab auch Beziehungen die unkompliziert waren. Eine von ihnen war die Beziehung zum Wasser. Vati war Vereins- schwimmer mit mäßigem Ehrgeiz, der ihn bei Wettkämpfen der Vereine untereinander ab und zu gewinnen ließ. Friedhelm und ich sollten natürlich wenigstens sichere Schwimmer werden. Der Schwimmunterricht mißlang jedoch gründlich. Vati schimpfte, wenn ich ängstlich ins Nichtschwimmerteil des Beckens floh. Beim Kopf- sprung hielt er mir die Füße fest und ich platschte dennoch auf dem Bauch ins Wasser. Endlich sah er eines Tages ein, daß aller Sympathie zum Trotz, die ich für ihn hegte, er in der Badeanstalt für mich eine beängstigende Figur geworden war. Ich war etwa 11 Jahre alt und konnte noch immer nicht schwimmen. Er übergab mich einem Bademeister, der mir kurzerhand einen Strick um den Bauch band und mich ins tiefe Wasser warf. Ich schluckte, prustete und schwamm. Von da an verbesserte sich mein Verhältnis zum Wasser,- es war in der frühen Kindheit ohnedies gut gewesen. Neugier und Übermut verführte mich dazu, allerlei auszuprobieren. Als wir zu mebreren Jungens mit unseren Fahrrädern zur Brucher- Talsperre fuhren, durchschwamm ich sie der Breite und halben Länge nach. Ein Jahr vorher hatte ich eine Stunde Dauerschwimmen geschafft, den sogenannten Totenkopfschwimmer. Die andere Seite meiner Liebe zum Wasser war träumerischer Art. Ich saß oft an der Wupper, dem Fluß der nahe unserem Ortsteil durch Wuppertal fließt. Damals war er noch sauber und voller Fische. Dort machte ich kleine Tauchversuche mit einer Taucherbrille. Es war eine schwe- bende Märchenwelt, die ich dort sah. Nachts schwamm ich auf der spiegelglatten Fläche des Mittelmeeres unter hellem Vollmondlicht. Bei einer Sturmbö sprang ich, sehr zum Ärger der Aufsicht, in meterhohe Wellen und ließ mich hochtragen und hinabwerfen. Wenn mir das Auf und Ab zuviel wurde, hielt ich die Luft an und schwamm tief in die Wellenwand hinein und tauchte im nächsten wellental wieder auf. Ich war zwanzig Jahre alt geworden, als ich mit meinem Freund Jürgen zum Urlaub in die Bucht von Arcarchon fuhr, die vor Bordeaux liegt. In der Nähe unseres Zeltes unter Kiefern stand das
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Zelt einer Französin mit ihrer Tochter. Diese war dunkelhaarig, achtzehn Jahre alt, eine Frau von Figur und vie wir doch noch fast ein Kind. Meine Annäherungsversuche fanden Gegenliebe, wir ver- liebten uns, ich führte sie im frühabendlichen Dunkel in die Dünen, griff in ihre weiche nasse Vagina, sie stöhnte:" Nein Fred !" Ich, froh einen Grund zu haben, den Rückzug beginnen zu können, ließ von ihr ab. Ich hätte sie nicht umarmen können, dazu fehlte mir alles. Sie war letztlich enttäuscht und zeigte am anderen Tage kaum noch Interesse für mich. Da lockte mich das Meer; und in einer Mischung aus Weltschmerz, gekränkter Eitelkeit, Abenteuer- lust und Übermut sprang ich ins Wasser und schwamm auf die andere Seite der Bucht von Arcarchon zu, wo sie am Schmalsten ist. Die Wellen waren etwa einen Meter hoch. Ich hoffte zu ertrinken und tat alles um heil ans Ufer zu gelangen. Nach etwa zwei Stunden langte ich auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht an. Ein junger Franzose sah mich im Sand liegen und war verblüfft zu er- fahren, daß ich vom anderen Ufer der Bucht gekomman war. Er fuhr mich mit einem Motorboot zurück. Da das Boot aber nicht ganz an den Strand heran fahren konnte, es wäre aufgelaufen, sprang ich vorher ins Wasser und tauchte dann inmitten besorgter Campingbe- wohner wieder heil aus dem Wasser auf. Die Küstenwache hatte mich gesucht, aber nun war ja alles wieder gut. Meine angebetete Schöne aber hatte sich ebenfalls sehr um mich gesorgt. Nun war sie wieder für mich da und ihre Mama kochte uns allen ein Menu.
Jahre früher, ich war fünf Jahre alt, fuhr unsere Familie mit zwei befreundeten Familien zum Urlaub an den Rhein. Damals, man schrieb das Jahr 1952, konnte man im Rhein noch schwimmen und Fische fangen. Mit dem Dreirad meines Vaters, Campinggepäck auf der Lade- fläche, fuhren wir los: Sechs Erwachsene und vier Kinder. Mein Bruder Friedhelm und Dietger und die Tochter eines Paares schliefen auf der Ladefläche des Dreirades auf Matrazen. Mutti und Frau Andre schliefen bei uns. Die anderen schliefen in einem Zelt. Hohes Schilf wuchs inmitten von Wiesen. Unser Lager war bei Zons südlich von Düsseldorf. Die Männer bauten uns Kindern eine Burg aus dem Flußsand, trugen uns Kinder auf dem Rücken, spielten Pferd, jagten Kaninchen, die ihnen stets entwischten, spielten Gespenst, welches aus dem Schilf hervorbrach, sckwammen über den Rhein und ängstigten ibre Ehefrauen. Vati verkleidete sich als Frau am Lagerfeuer, kurzum: sie waren ebanso verspielte Kinder wie wir. Ich fing in einem Glas mit einem Netz von Onkel Heinz Fische und brachte sie stolz ins Lager. Wir liefen durch Stoppelfelder, und die Sonne schien warm aber mild auf unseren Lagerplatz. In den drei oder vier Jahren darauf wiederholte sich der Urlaub am Rhein; dann wurden die Kontakte der Familien untereinander spärlicher und wir fuhren nicht mehr zum Rhein. Unterdessen war das Jabr 1956 gekommen und Großvater, der Vater von Vati, schloß die Schreinerei. Für Vati begann eine harte Zeit. Er fuhr mit dem Dreirad fortan Kleintransporte. Die Möbel lud er meist allein auf den Wagen, schleppte sie treppauf, treppab. Wir Kinder wollten später auch einmal mit Vati rausfahren. Ich war 12 Jahre alt, Friedhelm 10 Jahre alt geworden. Wir fuhren mit Vati einen Möbeltransport, den Umzug einer alten Frau. Vati schleppte die Kohleöfen allein, wir Kinder trugen Schrankteile die Treppen hinauf. Es war der 2. Stock. Vati schimpfte, wenn wir im Treppenhaus aneckten. Als die alte Frau bezahlen sollte, sagte Vati im Treppenhaus zu mir: "Ich müßte 80.- DM berechnen, aber die Frau hat eine ganz kleine Rente, ich
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berechne ihr nur 60.- DM. Am Abend wurden wir auch von ihm be- zahlt, gegen unseren Protest, denn wir wußten, daß er wenig ver- diente und wollten ihm freiwillig helfen. Aber er bestand darauf und gab jedem von uns 20.- DM, eine hohe Summe für unsere Verhält- nisse und die Zeit in der es geschah. Vati hat uns nie aufge- fordert mit ihm zu fahren, denn er wollte nicht sein wie sein Vater, der ihn für wenig Geld hatte schuften lassen. Vati fand in seinem Vater in vielen Fragen ein negatives Vorbild: er wollte anders als sein Vater werden. Und ähnlich wurden mir auch später manche Erwachsenen zu solchen negativen Vorbildern, deren Fehler ich nicht wiederholen wollte.
An sonnigen warmen Sommertagen denke ich manchmal an die Sonntage meiner frühen Kindheit. Sie waren für uns Kinder nicht sehr erfreulich. Wir mußten in den Kindergottesdienst gehen, sicher eine Methode, Kinder zu Atheisten zu erziehen. Mittags nach dem Essen mußten wir beim Spülen helfen und durften nicht raus zum Spielen. Dennoch gab es einige Erlebnisse, deren ich mich gerne erinnere. Vor der Stadt, wo Wiesen und Felder lagen, alle anderen Seiten waren von Wäldern umschlossen, wurden Gasballone gestartet. Vati nahm uns Jungs mit. Vor dem klaren blauen Himmel standen riesige kugelige graue Ballone, die durch Seile am Boden fest- gehalten wurden. Aus Gasflaschen wurden sie gefüllt. Die Hülle, die sonst unscheinbar am Boden lag, füllte sich langsam zur Halb- kugel, zur Kugel und stieg dann auf. Sie stand frei über dem Boden, und die Gondel saß noch im Gras auf. Nun stiegen einige Leute in den Korb und endlich wurden die Seile gelöst, - der Ballon stieg auf. Die zahlreichen Zuschauer klatschten Beifall. Die vielen Sandsäckchen an der Gondel waren uns Kindern unver- ständlich, aber sie sahen interessant aus. Die Ballonfahrer winkten, und bald war der Ballon nur noch wie eine Mondscheibe groß hoch im Himmel. So hoch ging es in den Himmel hinauf,- wir staunten. Später, als ich etwa 16 Jabre alt war, ging Vati ab und zu mit uns Jungens zum Frühschoppen in die Eckkneipe "Schmitz". Die Sonne schien durch die Butzenscheiben, die Straßen waren dörflich friedlich. Wir hatten Sonntagsanzüge an und tranken Bier. Das war ein erhebendes Gefühl mit Vati Bier zu trinken und über seine oder meine Arbeit zu reden. Bruder Friedhelm staunte über die ihm fremden Dinge, die ich von meiner Lehrstelle berichtete. Ich sollte Dekorateur werden. Aber Vati ging selten mit uns in die Kneipe. Als wir noch kleiner waren, etwa 8-11 Jahre, machten wir bei schönem Sommerwetter oft lange Spaziergänge vor die Stadt. Wir gingen durch den nahen Wald, der auf steilem Berg begann, ein schmales Tal hinab und über einen langen Berghang hinauf zu hoch- gelegenen Feldern, wo zwischen verschlafenen Feldwegen und einzel- nen Bauernhäusern ein Ausflugslokal war. Die Leute saßen auf einer großen Wiese, Tische und Stühle standen im Gras. Viele Obst- bäume gaben milden Schatten und alles mögliche Kleintier flog, summte und krabbelte herum, auf Haaren, Tischtüchern, Armen und Schuhen. Vati trank ein Bier, Mutti einen Kaffee, Friedhelm und ich bekamen Limonade. Wenn auch die langen Wanderungen oft über 13 Kilometer und das ruhige Verhalten am Lokaltisch uns schwer fielen, dennoch habe ich eine bestimmte friedlich süße Stimmung davon in der Erinnerung behalten.
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Der Sommer hatte viele Gesichter. Es gab milde frühsommerliche Momente in unserem Wald. Mitten darinnen gab es den Kaiserplatz, wo in der Mitte des Kreises eine uralte Eiche stand mit mächtiger Baumkrone. Der Platz war umgeben von jungen Bäumen. Einige Meter weiter den Waldweg hinein stand ein kleines Häuschen aus Holz mit grünem vermoosten Dach inmitten von jungen Fichten, die wild wie Gestrüpp die Hütte einschlossen. Die zwei kleinen Fenster waren durch grüne Holzläden stets geschlossen. Um alles herum war ein hoher Zaun. Irgendwer, vielleicht wir Kinder oder einer der Er- wachsenen brachte das Gerücht auf, es wäre ein Hexenhaus. Wir glaubten lange daran. Etwas furchtsam und doch erregt betrach- teten wir das Häuschen, wenn wir durch den Wald liefen. Quer gings oft zwischen den Stämmen hindurch. Die Füße drückten sich weich in den duftenden Waldboden. Alle möglichen Lichter brachen durch Blätter und Zweige hindurch und verzauberten alles. Ich verlor mich oft an solchen Sommertagen im Wald in diese Zauber- eien. Etwas weiter zum Ehrenberg hinaus führte der Waldweg zu einem kleineren Platz, wo eine Regen- und Wetterhütte stand, die überall offen und kreisrund war. Dort stand eine amerikanische Eiche, die im Herbst viele, fast runde rotbackige Eicheln abwarf. Der Hochsommer war im Wald, aber auch in den Altbau-Treppenhäusern und schattigen Obstgärten wohltuend. Von der Straßenhitze aus zu einem solchen kühlen Platz gewechselt, war das wie vom Sonnenbad am Strand ins kühle Meer. Lange staubige Straßen, die vielleicht nur für die Kinderbeinchen wirklich lang waren, tauchen aus der Erinnerung auf. Flimmernde Hitze in der Luft, einzelne Häuser, weite Wiesen, einige hohe Bäume, sattgrün vor hellem Himmelsblau, - und wie übermütige Gaukler standen an den Gartenhecken die bunten Blüten von Ackerwinden und anderen glockenförmigen Blüten; ich nannte sie Sonnenblumen. Die Zeit stand still, der Sommer war eine ganze Welt für sich. Ich lebte in ihr wie ein anderes Wesen. - Dann, zum ersten Male die bewußte Erfahrung eines Überganges in den Herbst. Die Eichen im Wald, besonders die jungen amerikan- ischen, bekamen weinrote und sattgelbe Blätter. Der Wald wurde unwirklich schillernd. Ich spürte einen Aufbruch, eine Sehnsucht, - und hatte doch noch keinen Begriff vom Herbst und seiner Melancholie.
Abends, wenn ich als achtjäbriger Junge die Augen schloß, sah ich manchmal im Schwarz unter den Lidern farbige Muster. Ab und zu drehten sie sich oder wurden kleiner oder größer... Ich wurde mir bewußt, daß ich ein Wesen bin, welches mit sich selbst alleine ist,- immer dann ganz alleine ist, wenn es Ruhe findet die bunte Welt einzeln, als Blatt oder Glätte des Betttuchs oder Abendwolke oder Tapetenmuster auf sich einwirken zu lassen. Eine Sehnsucht entstand manchesmal daraus; - aber eine unbestimmbare Sehnsucht war das. Sie trieb mich zu den sonderbarsten Experimenten, Reisen, Abenteuern und Träumen. Ich träumte von einer jungen Frau. Ihr Gesicht war über mir, blond, gelockt, weicher Mund und unglaub- lich warme Augen. Als sie mich ansah, fühlte ich ein heißes Gefühl durch meinen Körper wandern. Doch solche Momente, in denen die Sehnsucht gestillt erschien, waren selten. Ich ging oft, als 14, 15, 16 jähriger allein durch den Wald spazieren. Gerne ging ich zur Dämmerungszeit bis die Nacht begann. Die Sterne und das unend- liche Weltall zogen mich mit der gleichen Sehnsucht an, wie sie in den Träumen war, zogen ins Ungewisse. Ich begann darüber nach- zudenken wie groß das Universum sei, wo es herkommt und was einmal
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aus ihm werden wird. Andere Spaziergänge mit meinem Schulfreund Kurt über die Höhenzüge am Rande Wuppertals zeigten uns die Stadt wie ein Lichtermeer auf einem anderen Stern. Etwas Unwirkliches lag in diesen Augenblicken; ich wandelte einher als Gestalt meines eigenen Traums. Manchmal warf mich meine Sehnsucht heftig auf mich selbst zurück, und ich war dann bis zum Verzweifeln mit mir allein. Oft erschien es mir, daß die Familie, die Leute der Etage, die Freunde, alles nur eine laute Oberfläche war, die mich davon ablenkt zu spüren wie allein ich bin. Aber es gab auch entgegengesetzte flüchtige Momente einer tiefen Geborgenheit. Wenn ich im Bett lag und das Radio aus dem Nebenzimmer hörte, war ich als kleiner Junge völlig beruhigt und zufrieden. Ebenso gab es den Frieden mit meiner Einsamkeit, wenn ein Blatt sich für mich so zeigte, wie ein Wesen mit einer Seele, die mir völlig nahe ist. Oder ein Nachfühlen, wenn an warmen Sommertagen eine schillernde Libelle am Ufer des Baches in unserem Wald dahinflog. Manche kindliche Fragen, nach dem Mond und den Sternen, schufen eine Brücke zwischen Fragendem und dem Gefragten, die eine völlige Nähe war. - Als ich eines Sommertags, ich war etwa sechs Jahre alt, mit Tante Mimi zum Friedhof gegangen war, kamen wir an eine Brücke, welche über eine Eisenbahnlinie führte. Genau unter uns verliefen die Schienen völlig geradeaus, bis sie im Nebel des Horizontes ver- schwanden. Tante Mimi sagte:" Die Züge fahren weit, - bis nach Siegen." "Warst Du schon einmal in Siegen ?", fragte ich. Sie antwortete:" In Siegen wohnt eine Cousine von mir. Früher hab' ich sie manchesmal besucht." " Fährst Du wieder nach Siegen ?" "Vielleicht fahre ich später noch einmal. Aber ich bin schon zu alt für so lange Bahnfahrten." - Es war eine eigenartige Doppel- heit extremer Gefühle in diesem Augenblick, Geborgenheit und Sehn- sucht. Die Schienen gingen für mich ins Unendliche, ins Abenteuer, so aufregend wie die Höhlen der frühesten Kindheit, die voller Drachen waren.
Als wir etwa 3 und 5 Jahre alt waren, mein Bruder Friedhelm und ich, hatten wir Angst vor Gewittern. Besonders der Donner machte mir Angst. Eines Abends waren die Eltern ausgegangen und ein Gewitter ging los. Es blitzte, donnerte, wir weinten. Doch bald kam Tante Mimi herein, - sie hatte sich schon gedacht, daß wir Angst haben würden. "Der Donner tut nichts", tröstete sie uns. Bald beruhigten wir uns wieder und warteten bis Vati und Mutti wieder herein kamen. Ich sehe noch den blonden Lockenhopf von Friedhelm, wie er über dem Gitter des Kinderbettes hochkommt und dann im Bettchen steht und fragt:" Hast du auch Angst ?" "Ein bißchen", log ich, denn ich hatte auch große Angst. - Später, ich war 15 Jahre alt geworden, hatte ich noch einmal Angst vor dem Gewitter. Ich war mit Kurt auf unserer ersten Reise, die wir ganz alleine machten. Wir waren per Anhalter bis Koblenz ge- kommen. Ein sonniger heiterer Tag war es gewesen. Die Weinberge, Ritterburgen am Rhein, die alten Häuser am Ufer bei Koblenz,- all das hatte uns mit Einbrücken gefüllt. Am Abend hatten wir in den
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weinseeligen Gartenlokalen gesessen, etwas getrunken, und waren dann mit Gitarre und Rucksäcken vor die Stadt gegangen un im Freien zu schlafen, denn die Jugendherberge war seit 22 Uhr geschlossen. Gegen Mitternacht überraschte uns ein Wolkenbruch. Wir stellten uns unter eine hohe Brücke, welche an dieser Stelle in 20 Metern Höhe den Rhein überspannte. Ein zwielicht aussehen- der Mann trat zu uns. Und während die Blitze und Donner zuckten und entsetzlich krachten, erzählte der Mann von Freunden, die mit ihm im Freien übernachtet hatten und von Blitzen erschlagen worden waren. Dann verschwand der Mann, und die Blitze schlugen nun mit ohrenbetäubendem Donner direkt in unserer Nähe neben der Brücke im Grase ein. Wir waren steif vor Angst. Das Gewitter dauerte bis zum Morgengrauen. Wir standen am Brückenpfeiler und wagten es kaum uns zu bewegen. Als es gegen 4 Uhr morgens heller wurde und auch der Regen nachließ, stieg Nebel von den Wiesen auf. Da stand am Pfeiler nahe des Ufers eine unheimliche, mit alten Decken bedeckte Kiste. Voller Furcht verließen wir die Brücke und gingen in die Stadt hinein. Alles war ruhig in den Straßen, der Regen wurde wieder heftiger. Wir stellten uns in einem alten Pavillion unter, der aus der wilhelminischen Ära übrig geblieben war. Wilde Rosen wuchsen neben dichten Büschen. Später schlüpften wir in eine nüchterne Telefonzelle, weil wir durchnäßt waren und froren. Aber die Enge war nicht auszuhalten. Endlich begann das Leben auf den Straßen und ein Sommertag am Rhein.
Heute, die Zeit, da ich diese Zeilen schreibe, erlebe ich durch meine Kinder Marie und Charlotte, die beide fast 7 Jahre alt sind, viele Eindrücke meiner Kindheit noch einmal, gleichsam als Beobachter auf einer höheren Perspektive. Zugleich werden Er- innerungen damit geweckt. Die folgende verbindet sich irgendwie mit meinen Töchtern. Denn ich war bereits 14 Jahre alt geworden und hatte eine Dekorateuerlehre begonnen. Langerfeld besaß einen winzigen Zugbahnhof. Er befand sich genau über einem Straßen- tunnel. Man mußte eine etwa 12 Meter hohe schmale dunkle Treppe zwischen den Tunnelseitenstücken hoch gehen und gelangte vom Schwarzgrau des Tunnelgewölbes mit einem Schlag ins helle Tages- licht. Ich ging morgens gegen 8 Uhr zum Bahnhof und fuhr mit dem "Bummelzug", so hieß er, weil er an allen Bahnhöfen anhielt, nach Elberfeld, wo ich meine Lehrstelle hatte. Es gab Eisenbahnwagen, die vorne und hinten offene Stehflächen hatten. Die Verbindungen zwischen den Wagen wurden durch ebenfalls zu allen Seiten offene Eisenbrücken geschaffen. Ich stand in dem Morgenlicht und ließ mir den Fahrtwind durchs Haar fahren. Der Zug fuhr durch Felder, zwischen Hügelketten hindurch, in einen Tunnel hinein, wieder hinaus nachdem alles nachtdunkel geworden war und dann zum Ufer der Wupper und zur Schwebebahn. Vorn war eine Dampflokomotive. Es ging alles recht gemächlich. Wir konnten noch einsteigen, wenn der Zug schon angefahren war. Ich frage mich heute, wo der Fort- schritt liegt, wenn es alles blitzschnell geht und anonyme Auto- maten die Fahrkarten verteilen. Ich sehe keinen Fortschritt darin. Doch zurück: Der Bummelzug fuhr durchs Tal der Wupper, fast durch die Hinterhöfe der vielen Kleinbetriebe, an denen die Stadt reich war. Parallel dazu fuhr oft die Schwebebahn mit. Ihr Gerüst ragt etwa 8 Meter über die Oberfläche der Wupper hinauf, aber der Fahrdamm der Eisenbahn liegt oft höher, sodaß die Hängebahn scheinbar neben den Gleisen des Zuges fuhr, bewegt wie auf einem Geisterteppich. Ein bestimmtes Himmelblau verbindet die ver- schiedensten Erinnerungen meiner Kindheit miteinander. Die Bahn-
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fahrt gehört ebenso dazu wie das Drachensteigen mit meinem selbstgebauten Dreiecksdrachen. Diese Windvögel ließen wir auf dem Spielplatz steigen, welcher früher einmal mein Kinderurwald geuesen war. Vati hatte einmal mitgeholfen. Der Windvogel war 1,20 Meter hoch. Vati hatte die Leisten besorgt, Mutti die Pell- kartoffel gestiftet, womit das blaue Papier des Windvogels fest- geklebt wurde. Vati hielt hoch, ich lief, der Vogel bekam Schlag- seite beim Anstieg und ging im Sturzflug zu Boden. Der Schwanz war zu leicht. Wir banden Grasbüschel dazu. Neuer Versuch. Der Vogel stieg an, stieg weiter, ich ließ Leine, aber er wackelte und trudelte mit großen Überschlägen zu Boden. Neuer Versuch, er stieg, ich ließ Leine und er blieb tatsächlich oben. Dort stand er nun, klein geworden durch die Entfernung vom Boden. Ich setzte mich ins Gras, andere Kinder gratulierten zum Erfolg, und ich dachte mir, ich möchte gern einmal ein Windvogel sein.
Vor einigen Wochen war ich mit Marie und Charlotte an einem Baggersee vor Aachen. Ich schwamm mit schnellen Zügen hindurch, und die Kleinen standen mit staunenden Augen und sahen zu. Später redeten sie immer wieder davon: "Papa schwimmt." Eine ähnliche Situation erlebte ich am Rhein, als dort unsere Familie Urlaub machte. Ich war etwa sieben Jahre alt. Vati und seine Freunde schwammen durch den Rhein. Mutti und die Ehefrauen der Freunde hatten Angst, denn der Rhein wurde von Schiffen stark befahren, deren Sog für Schwimmer gefährlich ist. Dazu kommt die Strömung. Auf einmal waren die Männer den Blicken entschwunden, doch sie kehrten alle heil zurück. Das blendende Sonnenlicht hatte uns einen AugenbIick die Sicht behindert. Unterdessen hatte die Strömung die Männer flußabwärts getrieben, sodaß wir sie an einer Stelle sehen wollten, wo sie nicht mehr waren. Solche Er- lebnisse hatten ihre Wirkung auf mich. Meine Mutproben in Tal- sperren und Meereswellen wurden dadurch angeregt.
Ich erinnere mich an meine abenteuerlichste Reise, die eigentlich an das Ende meiner Erinnerungen an die Kindheit gehört. Ich war achtzehn Jahre alt und freiwillig in den Bundesgrenzschutz ein- getreten. Zur gleichen Zeit gab es eine Familientragödie, an der Mutti und mein Freund Werner beteiligt gewesen waren. Doch hier- von später. Meine Reise begann in meinen Kindheitsträumen gedank- liche Gestalt anzunehmen. Ich wollte Paris sehen und die afrikan- ische Wüste. Mit Paris verband ich die Erwartung von romantischen Liebesgeschichten, Halbweltpersonen und die Faszination der Kunstwerke, wie ich sie im Wuppertaler Gemäldemusuem früh kennen- gelernt hatte. Afrika war für mich die Welt der Großwildjagd, des orientalischen Prunks und geheimnisvoller Frauen, Wüste und Einsamkeit. Als ich meine ersten Wochen beim Bundesgrenzschutz in Lüneburg hinter mich gebracht hatte, und ebenfalls Abenteuer erwartete, wurde mir doch klar, daß diese Welt zu eng für mich war. Ich kündigte daher den Dienst, ließ mir von Mutti einen Reisepaß begorgen und begann die Reise. Meinen Eltern verriet ich von alledem nichts. Den Reisepaß brauchte ich angeblich für eine Reise mit Kameraden in die Tschechei. Ich fuhr per Anhalter von Lüneburg los, kam gegen Mittag auf der Autobahn in Sichtweite an unserem Haus vorbei, welches etwa 1 km von der Autobahn Dortmund -Wuppertal-Köln entfernt war. Melancholisch nahm ich Abschied.
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Die Nacht verbrachte ich in einer Jugendherberge, ich weiß nicht mehr genau wo, ich denke in Köln. Am anderen Morgen gelangte ich nach Aachen, wo ich mir beim Gesundheitsamt die Impfungen verab- reichen ließ, die ich für Afrika benötigte. Am Nachmittag des gleichen Tages langte ich vor Paris an. Es war ein warmer Julitag. Ich trug einen Rucksack und marschierte in den Vorort Le Bourget. Da der Rucbsack drückte und mir in der Stadt wohl hinderlich sein würde, klingelte ich an einem beliebigen kleinen Arbeiterhaus in einer Nebenstraße. Ein Mann, um 45 Jahre alt öffnete. Ich stotterte mein bon jour und etwas von Bagage. Mehr französische Worte kannte ich kaum. Der Mann aber sprach gebrochenes Deutsch. Kurzum, wir waren einander sympathisch, ich ließ meinen Rucksack bei dieser Familie und spazierte in die Innenstadt von Paris. Es war Dämmerung, hohe Bogenlampen säumten die breite Straße von Le Bourget zur Pt.d.la Vilette. Ich war am Ziel und den Glück- stränen nahe. Nach einem etwa 6 Kilometer langen Marsch kam ich in Paris an: Gare du Nord, Stalingrad, Metro, Araberviertel, Pigalle, Montmartre. Wieder weiter zum Louvre, zum Eiffelturm, zur Notre Dame. Ich lief die ganze Nacht hindurch. Viele Clouchards lagen ärmlich auf Pappstücken und Zeitungen auf den Bänken, an der Metro, in der Metro. Man hatte Paris zu dieser Zeit, 1965 noch nicht aufgeräumt. Es war noch etwas vom alten Paris, wenn man die Beschreibungen eines Henry Millers zum Bei- spiel vergleicht. Die Läden waren am anderen Morgen alle bunt, wie mit hunderten von Wimpeln behangen. Die Stadt wirkte unglaub- lich heiter. Zehn Jabre danach war übrigens alles verschwunden. Anstelle der bunten Markisen und Werbebänder waren glatte Glas- und Plastikschilder angebracht, die Clouchards waren bis auf wenige verschwunden, ein Seineufer war in eine Autostraße ver- wandelt, kurz: das alte Paris war verstorben. Doch zurück zu jenem Julimorgen 1965. Gegen 11 Uhr fuhr ich mit dem Bus nach Le Bourget zurück. Ich klingelte an dem Haus, wo ich am Vorabend meinen Rucksack gelassen hatte. Ein Junge in etwa meinem Alter, er war 17 Jahre, öffnete. Er sprach kein Deutsch, aber mit viel Gestik verstanden wir uns dennoch. Er lud mich zum Essen ein. Also war ich Gast bei einer Arbeiterfamilie. Am Abend kam der Hausherr von der Arbeit zurück. Den Nachmittag hatte mir mein neuer Freund Cloude den Flughafen direkt vor dem Hause gezeigt. Ich sollte über Nacht bleiben, ich blieb, und der Hausher brachte mich am anderen Morgen zu einer günstigen Ausfallstraße nach Orleans. Ich sollte länger bleiben, baten sie mich. Cloude hatte mir sein Bett zur Verfügung gestellt, während er auf dem Speicher geschlafen hatte. Aber ich wollte weiter. Merkwürdigerweise habe ich Cloude nie wiedergeseben, obwohl ich noch einmal bei der Familie wohnte, im Herbst l965 und lange Jahre Briefverkehr mit ihm hatte. Er war ein lebendiger dunkelhaariger Franzose, spontan in in seiner Zuneigung und stürmisch wie ein Italiener. Aber er war auch still und nachdenklich .... Bald kam ich per Anhalter nach Orleans. Vor der Stadt angelangt, hielt eine "Ente"' Citroen 2 CV an, und drei Leute nahmen mich mit. Es waren Franzosen, im Alter von 22 und 26 Jahren die zwei Frauen und ein Mann von 24 Jahren. Sie wollten in zwei Tagen nach Figeac nördlich des Zentral-Massivs fahren, also durch halb Frank- reich. lch war begeistert. Da ich einige philosophische Aufsätze mit mir trug, fand ich zum ersten Male eine Resonanz. Eine der Frauen las sie und war davon angetan. Abends langten wir in Chartereaux an. Die Landschaft ist üppig grün und fruchtbar, das Wetter war warm und mild. Ich wollte in einer Jugendherberge über-
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nachten, aber es gab keine. Wir standen auf dem Parkplatz eines Hotels, und die drei redeten mit dem alten weißhaarigen Hotel- besitzer. Er frug, wer ich sei, fand mich sympathisch und nach vielem Übersetzen kam heraus, daß er mir kostenlos ein Zimmer zur Verfügung stellte. Etwas später saßen wir beim Abendessen. Es war mein erstes Essen nach französischer Sitte. Es gab verschiedene Gänge: Salate, Geflügel, Braten, Gemüse, Käse, Eis, Kaffee, Wein; es war wie im Schlaraffenland. Die Drei hatten mich in ihr Herz geschlossen und ich sie ebenso. Spät am Abend tranken wir Wein in einem Bistrot und tanzten dann durch die kleinen Straßen. Leider sind viele der Erinnerungen verblaßt, aber ich weiß, daß ich unbe- schreiblich glücklich war. Am anderen Tag langten wir in Figeac an. Zuvor hatten wir bei einem Onkel einer der beiden Frauen Pause gemacht. Er hatte eine Obstplantage mit einem herrschaft- lichen Haus. Auch dort wurde ich liebenswürdig empfangen. Es gab Erdbeeren, die so groß wie Pflaumen waren, Walnüsse von ähnlicher Größe, Äpfel, Käseplatten - alles im Überfluß. Aber am Abend in Figeac hieß es Abschied nehmen. Bald war ich mit mir allein. Mit einigen schnellen Wagen langte ich bei Perpignan nahe den Pyrenäen an. Aber wo wollte ich schlafen? Im Vertrauen auf die Sympathie, die mir bisher entgegen gebracht worden war, ging ich zu einer Landpolizeiwache und fragte nach einer Jugendherberge, es gab keine. Wo ich denn schlafen könne. Es war den Herren schnell klar, daß ich kein Geld für ein Hotel erübrigen konnte. Daher brachten sie mich zu einem verwilderten Garten neben dem Polizeigebäude, in welchem ein kleines Steinhäuschen stand, welches früher einmal eine Zelle gewesen war. Dort durfte ich schlafen. Es war ein einziger dunkler Raum, ein Eisenbettgestell, viel herunter gefallener Schutt, ein alter schwarzer Kamin. Die Wände waren bekritzelt. Es waren die Zeichen von eingesperrten Fremdenlegionären, die hier versucht hatten noch vor ihrer Ein- schiffung nach Marseille nach Spanien zu flüchten aber erwischt worden waren. Untergehende Sonne mit drei Kreuzen, Flüche auf die Legion d'Etrangere usw. Es war eine gruslige Nacht. Der nächste Tag wurde glühend heiß. Ich begab mich zum Mittelmeer und badete in recht hohen Wellen, was mir Ärger mit der Strandwache einbrachte. Aber es war schön, in die meterhohen Wellenberge ein- zutauchen, sie zu durchstechen und im nächsten Wellental wieder aufzutauchen. Ich weiß nicht mehr genau wo ich die Nacht danach verbrachte, ich glaube in einer Jugendherberge oder einem alten Hotel bei Toulouse. Die alten Hotels, die längst verschwunden sind, wie die Clouchards, waren oft Holzhäuser mit hohen schmalen Fenstern, Terassen, Balkonen und uralten Frauen, die sie bewirt- schafteten. Oft war ich der einzige Gast. Die nächste Erinnerung ist ein einsamer Gang am Fuße der Pyrenäen entlang, oft einige hundert Meter hinauf. Die Sonne brannte heiß, das Meer lag wie ein blauer Spiegel. Das kärgliche Gewächs bot keinen Schatten, trug aber Unmengen von Ungeziefer. Bei einem einsamen Haus bat ich um Wasser. Eine uralte Frau gab mir etwas und ich ging weiter, stundenlang. Irgendwann hielt ein Wagen und ich gelangte am Abend nach Barcelona. Ich besaß kein Geld mehr. Die letzten 25 holländischen Centimes wurden von einer häßlichen Bäckersfrau nicht als Geld erkannt, ich erhielt nichts. Eine lauwarme Blut- wurstkonserve hatte ich als letztes gegessen. Naiverweise fragte ich bei der Polizei, wo ich schlafen könne. Der Beamte wurde sauer, meinte dann, ich könne ins Gebüsch gehen, sollte mich aber nirgendwo öffentlich erwischen lassen. Dieses Erlebnis, im Verein mit den selten haltenden Autofahrern, dazu die Leute selbst,
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brachten mich auf den Gedanken, schnellstens wieder nach Frank- reich zurück zu kehren. Übrigens war der Massentourismus damals noch nicht auf vollen Touren. Ich schlief auf der Rampe eines Güterbahnhofs auf Pappkartons. Alle paar Sekunden schreckte mich etwas auf. Andern Tags war ich zerschlagen. Aber schon des Mittags war ich wieder bei Montpellier in meinem geliebten Frankreich. Dort nahm mich ein junger Lehrer mit, durch ganz Frankreich bis Dijon. Am ersten Abend unserer Fahrt, er fuhr eine Ente, gab es in Lyon Ärger. Er glaubte, sein Geld sei in der Kneipe, in der wir gegessen hatten, gestohlen worden. Wir hatten ordentlich Wein ge- trunken, beinahe kam es zur Prügelei. Ich zog ihn von den Leuten fort zum Auto, und da lag das Portemonaie auf dem Fahrersitz. Mit französischem Temperament wankte er zur Kneipe zurück und gab große Runden Wein aus, sodaß sein Geld danach auf recht ein- sichtige Weise dennoch ausgegeben war. Ich sollte seine "Ente" zum Zeltplatz fahren, aber ich wußte nicht wie das ging. Während mein besoffener Lehrer aus dem Beifahrerfenster auf die Straße kotzte, ruckelte ich die Ente von Ampel zu Ampel. Nun wurde, vielleicht vor Schreck, mein Freund wieder nüchtern und fuhr selbst weiter. Irgendwann wurde alles dunkel, und wir erwachten neben dem Auto liegend im Gras neben der Straße, und der Wagen stand halb im Wasser des Flusses. Aber es ging doch mühelos weiter. Beim Braten von Fleisch im Freien fiel das Fleisch in den Sand, aber mit Rotwein abgewaschen war es wieder genießbar. In Dijon, genauer mitten in der weiten Landschaft bei Dijon, war das Ziel meines Freundes. Ein älterer Bauer war sein Onkel. Dort wollte er Ferien machen. Der Onkel gab mir 100 Prancs, als er hörte, daß ich kein Geld hatte. Ich lehnte ab, aber er bestand mit väterlichem Nachdruck darauf. Einige Nächte und Tage meiner Reise kann ich nicht erinnern. Ich langte nach ungefäbr 2 Wochen wieder zu Hause an. Doch davon an anderer Stelle.
Einige der Sommerferien meiner Schulzeit verbrachte ich mit Friedhelm in den Ferientageslagern. Das sah so aus: Morgens gegen 8 Uhr fuhr ein Bus in der Nähe nach Beyenburg ab. Wir Kinder wurden damit zu einem Gemeindehaus gefahren und verbrachten den Tag bis etwa 17 Ubr dort und in der Landschaft um Beyenburg. An- schließend brachte uns der Bus wieder nach Hause. Das ging von Montags bis Freitags, vier Wochen lang. Es waren herrliche Tage in Beyenburg. Das ist ein Dorf, etwa 6 km von Langerfeld entfernt. Ringsum das waldige Bergische Land und ein etwa 1.5 km langer Stausee im Lauf der Wupper angelegt. Alte Fachwerkhäuschen bilden in einem engen Tal direkt am Flußlauf den Ortskern. Auf einem Hügel nahe dabei steht ein altes Klostergebäude. Der Fluß ober- halb des Stausees ist überspannt von alten kleinen Brücken und hat verwilderte Uferböschungen. Teils wird er von Kornfeldern und Wiesen eingerahmt. Unterhalb der steinernen Staumauer fließt die Wupper durch ein schmales Tal, welches voller Wiesen ist. Dort steht ein steiler, etwa 100 Meter hoher Berg, der einen Aus- sichtsplatz trägt, von wo aus der ganze Ort übersehen werden kann. Der Fluß ist hier vor dem Berg nur fußknöcheltief, voller Algen, Kieselsteinen und den kleinen Fischen, den Stichlingen. Unsere Kindergruppe vom Ferienlager spielte oft dort. Eines Tages fing ich einen Stichling mit einer Konservenbüchse. Ich war 11 Jahre alt. Früher, bei den Ferien am Rhein hatte ich auch einmal mit einem Fischnetz am Stiel Fische gefangen und sie stolz im Ein- machglas zum Lager getragen. Nun aber sollte der Fisch mein neuer Freund werden. Mir gelang es, ihn mit nach Hause zu nehmen. Mutti
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war entsetzt und verwundert, aber ich erhielt, ich denke mit Hilfe von Jürgen, dem 19 jährigen Sohn von Tante Friedchen, eine Emailleschüssel und dann ein kleines Vollglasaquarium. Am anderen Tag, als ich aus der Schule kam, hatte Mutti sich mit dem Fisch angefreundet. Als ich meinte, er sei doch so allein, stiftete sie spontan 1,25 Mark für einen Goldfisch, den ich beim Tierhändler zwei Häuser nebenan sofort einkaufte. Nun lebten beide, der Goldfisch und der Stichling über ein Jahr miteinander, bis der Stichling starb. Die Ferientageslager brachten uns Kinder in eine große Nähe zu der Landschaft, welche Wuppertal im Süden umsäumt. Wir fanden alles, was da möglich ist: dichte niedrige Fichtenwälder, hohe Eichen- und Buchenhaine, Wiesen am Fluß und an steilen Berg- hängen, hohe dunkle Tannenwälder, struppige Gebüsche, Brombeer- sträucher, Schieferwände, die steil abfielen, Blumen, staubige Wege, kleine kühle Bäche, Vögel und Sonne, heitere milde Sommer- sonne. Bei dem letzten Ferienaufenthalt in einem Tageslager während des letzten Schuljahres, verliebte ich mich in die etwa 17 jährige "Tante", also die Aufsichtsperson. Immer wollte ich in der Nähe ihre glatten blonden Haare und ihres großen Busens sein. Einmal fuhren wir mit dem Bus in einen anderen kleinen Ort im Bergischen Land. Ich stand im Mittelgang und meine Jungenhand hielt sich direkt neben der ihren am Haltegriff der Sitzlehne fest, hinter der sie Platz genommen hatte. Ich schnippte mit dem Zeigefinger über die Fingerkuppe ihres Zeigefingers. Sie lächelte und schnippte ebenso mit ihrem Zeigefinger über meinen Zeige- finger. Ich wieder schnippte zurück, und so ging es im Wechsel immer schneller. Da fragte eine andere "Tante", also die zweite Aufsichtsperson, was wir da für Spielchen machen würden. Wir hörten sofort auf, ich verlegen, und meine geheime Freundin lächelte sehr vieldeutig, bevor sie sagte:" Nur so." - Wie mir dieses Lächeln und ihre Stimme einging, mir wurde schwindelig.
In den ersten Schuljahren hatte ich meine erste Begegnung mit der Liebe. Sie hieß Waltraud und wohnte in "unserem Hause" eine Etage höher als wir. Ich weiß nicht, wann wir begannen Hand in Hand zur Schule zu gehen. Vielleicht mit acht oder neun Jahren. Sie kam einmal des Mittags über die Marbotstraße gegangen und lächelte mich an. Ich spürte ein aufregendes Gefühl in der Magen- grube, ich meinte ich müßte platzen. Seltsamerweise war ich nicht sexuell erregt, was ich damals schon kannte. Ich fühlte mich bei ihrem Lächeln in eine strahlende Kugel eingetaucht. Hingabe, Sehn- sucht, Freude, das war alles ein einziges Gefühl von Licht. Später, als wir im Schullandheim waren, saß ich mit ihr in der Dämmerung auf einer Bank. Ich glaube in einem Garten, der zu dem Gebäude gehörte. Kurz vorher, als sie von den spielenden Kindern auf der Wiese abließ um mir zur Bank zu folgen, war das starke Gefühl im Magen wieder da. Als wir dann auf der Bank saßen, ver- schwand es und sexuelle Erregung vermischte sich mit dem Gefühl.
Mir schien, das Licht konnte auch ohne eine Freundin entstehen. Schon im Kindergarten hatte ich eines Sommertags beim Spielen im hohen Gras ein solches lichtvolles Schweben erfahren. Ich genoß das damals und wußte doch nicht was das war. Als wir ins 5. Schul- jahr kamen, ging Waltraud zum Gymnasium, ich blieb in der Volks- schule. Die Familie zog aus dem Hause aus und wir verloren uns aus den Augen. In vielen Nächten meiner Kindheit aber auch später gelegentlich, sah ich Waltraud, ihr wahnsinnig liebes Lächeln, wie sie als Achtjäbrige auf mich zukam.
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Etwa mit meinem 12.Lebensjahr beginnend, habe ich Erinnerungen an zuusammen hängende Entwicklungen. Ich hatte in diesem Alter einen Goldfisch und einen Stichling. Als diese starben, war mein Vati bereits durch mich und seinen ehemaligen Jugendfreund so weit für Aquarien erwärmt, daß er von diesem ein komplettes Warmwasser- Aquarium kaufte. Nun begann eine aufregende Zeit technischer und biologischer Erfabrungen. Mit aufgekrempelten Hemdsärmeln setzte Vati das Thermometer und die Filterrohre ins Becken. Eine Neon- röhre kam oben auf. Mutti meinte ab und zu irritiert: "Paßt nur mit dem Strom auf !" - Dann wurden die Fische gekauft: Guppys, Skalare, Keilfleckbarben, Mollys und wie sie alle hießen. 0ft saßen wir, Vati mit mir, seltener war Friedhelm dabei, vor den Fischen und staunten. Als die Guppys Junge bekamen, war ich in der Schule völlig abgelenkt und dachte nur an die kleinen Fische, die meinen Schutz brauchten, ich fühlte mich wie eine Mutter, so kam es mir vor. Die jungen Fische mußten in der Tat vor den Großen geschützt werden. Sie kamen deshalb in eine durchlöcherte Plexi- dose, die im Wasser hing. Vati war sehr zurückhaltend, wenn ich etwas ausprobierte. Er wollte meine Ideen nicht lähmen sondern fördern. Später mit 17 Jahren baute ich selbst mein erstes Aquarium. Mein Onkel Gerd machte aus Winkeleisen einen Rahmen, meine Lehrstelle stiftete alte Schaufensterscheibenreste, und ich kittete die vom Glaser zurechtgeschnittenen Scheiben in den Rahmen. Dann waren 90 Liter Wasser im Becken, Fische kamen hinzu und die Apparate, mit denen das tropische Klimat im Wasser aufrecht erhalten wird. Vati war stolz auf mich, und er saß oft vor den Fischen, wenn ich in mein Zimmer kam, welches auch Friedhelm bewohnte. - Vati war ein Kamerad, er half ohne sich aufzudrängen und ermunterte uns durch seine spröde wortkarge Art, die wir als eine sehr beeindruckende Achtung vor unseren Produkten empfanden. Als ich einmal Märchen schrieb, auch etwa mit 12 Jahren, meinten Vati und Tante Mimi, ich solle doch weiter schreiben und die Märchen an die Märchen- tante im Rundfunk senden. Ich tat das, jedoch meinte die Rundfunk- tante, meine Märchen wären am Ende immer zu traurig, sie könnten deshalb nicht im Rundfunk vorgelesen werden. Mit 17 Jahren baute ich in einer Werbstatt, in der auch Vati seit kurzem arbeiten mußte, da sein Augenlicht so schlecht geworden war, daß er nicht mehr Auto fahren konnte, eine Gitarre aus vielen zweifarbigen Hölzern, die ähnlich wie Parkett aneinander geleimt waren. Es war eine Elektrogitarre ohne Resonanzkörper. Vati half bei den Maschinenarbeiten, z.B Hobeln der verleimten Bretter. Am Ende hatte ich zwei Wochen meiner Ferien mit Vati in der Werkstatt ver- bracht und die Gitarre war fertig. Vati arbeitete an den Pro- jekten der Werkstatt, ich an dem meinen.
Im Februar 1961 wurde ich 14 Jahre alt. Einige Monate später hatte ich mich schon in meiner Lehrstelle eingelebt. Spätar werde ich vielleicht auf diese Zeit zurück kommen, die mit der Gehilfen- prüfung 1964 zum Schaufenstergestalter endete. Ein Jahr lang dekorierte ich, nunmehr als Geselle, Schaufenster und Ladenräume eines Riesenkaufhauses in Gevelsberg. Wirklich interessant wurde das Berufsleben für mich, nachdem ich meinen Beruf aufgegeben hatte und im Herbst 1965 eine Arbeiter- stelle in einer Kleinmaschinenfabrik in Langerfeld neben meinem Geburtshaus nahm. Dort wurden kleine Verpackungsmaschinen herge- stellt. Ich hatte zuerst die grobe Arbeit zu machen: Schleifen von kleinen Werkstücken am Schleifstein. Beim Schleifen lief eine
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Öl-Wassermischung über Werkstück und Finger, sodaß ich oft ab- rutschte und Gefahr lief, mit den Fingern in den Schleifstein zu geraten. Der Meister des Betriebes war ein etwa 50 jähriger großer Mann mit einer riesigen Säufernase, obschon er im Betrieb nie trank, und einer ewig rauchenden Pfeife im Mund. Ein gemütlicher Kerl, der mich bald ins Herz geschlossen hatte. So war auch meine Arbeit am Schleifstein bald beendet. Sie mußte von einem 2 Meter- kerl gemacht werden, mit übergroßen Wurstfingern. Das Gesicht glich einem freundlichen Baby. Er war gutmütig, las seine Bild- zeitung, klopfte die üblichen Sprüche und war so etwas wie ein guter Kumpel. Er weihte mich in Tricks ein, wie und was "so lief" im Betrieb. Er kam aus der Obdachlosen und Armeleute- Siedlung von Langerfeld. Einmal ermahnte er mich, nicht so schnell zu arbeiten, ich würde den Jungs die "Tarife versauen". Ich war aber nicht besonders eifrig sondern nur zu geschickt, sodaß mir alles beinah automatisch von der Hand ging und ich ohne Absicht die doppelte Menge produzierte wie die übliche. Also belehrt dachte ich mir, ich könnte die Zeit, die mir zuviel war, zu eigenen Produkten be- nutzen. Ich entwarf zwei Pistolen. Die erste war ein rechteckiger Eisenblock, etwa feuerzeuggroß. Ich bohrte einen 6 mm Lauf hin- ein, erfand einen Abzugsmechanismus mit Hahn und Sperre und baute eine Patronensperrklappe, damit beim Schuß die Patrone nicht nach hinten ausweichen konnte. Mein Interesse für Waffen war ein Über- bleibsel jener drei Monate 1965, wo ich beim Bundesgrenzschutz in Lüneburg eine militärische Grundausbildung gemacht hatte. Davon jedoch später. Die erste kleine Pistole machte ich also zwischen meiner regulären Arbeit und schoß damit draußen 6 mm Gewehr- patronen. Die zweite Pistole war für 9 mm Schrotkugeln gebaut. Den Lauf bonnte ich nicht selbst drehen. Also ging ich zu einem der Dreher in der Werkstatt und erzählte ihm, ich würde den 9 mm Lauf als Druckrohr für meine Dampfmaschine gebrauchen. Mein Freund Kurt hatte eigens 125 er Stahl besorgt. Der Dreher drehte den Lauf, ermunterte mich zu meiner Bastelei und lehnte eine Zigarettenpackung ab, denn unter Kumpels ist ja so eine Hilfe Ehrensache. Die Schrotpistole wurde fertig: Schlitten, getrennter Bolzen und Hammer, abklappbarer Lauf, alles funktionierte, doch sie tat nur einen Schuß. Bei allen weiteren Versuchen zündeten die Patronen nicht. Ich hatte die Abzugfeder zu schwach und den Abzugshahn zu leicht gebaut. Noch ehe ich aber meine Konstruktion verbessern konnte, fand Vati die beiden Pistolen und nahm sie mir ab. Ich sah sie nie wieder. Er war sauer, weil er Waffen nicht mochte. Paradox war das, weil Vati meinen freiwilligen Eintritt in den BGS sehr begrüßt hatte und selbst vor Kriegsbeginn 1939 bei der Polizei gewesen war, in etwa meinem Alter. Aber Vati war nie in der NSDAP, nie in der SA oder Hitlerjugend; ein sicherer Instinkt hielt ihn von jenen fragwürdigen Gesellen fern.
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Je länger ich darüber nachdenke, mich erinnere, wird mir mehr und mehr erstaunlich, wer dieser Mann, mein Stiefvater Emil Fels gewesen war. Mein leiblicher Vater verstarb als ich 6 Monate alt war. Mein Stiefvater heiratete meine Mutter als ich 1 1/2 Jahre alt war. In den Kindheitsjahren war er der Vati, so wie er es bei leiblichen Vätern für deren Kinder auch ist. Mit 12 oder 13 Jahren begriff ich, daß ich noch einen anderen leiblichen Vater gehabt hatte. Aber das Wort Stiefvater hat mir nie gefallen. Vati war nie ein Stief-vater. Eher hatte ich das Gefühl, daß er mich be- sonders gern mochte, manchmal sogar mehr als seine leiblichen Kinder. Heute werden mir einige Dinge klarer. Zum Beispiel war Vati wortkarg, wirkte nach außen wie ein einfacher, wenig nach- denklicher Mensch. Aber er handelte immer sehr klug und gutmütig. Sein Gesicht war in jungen Jahren ernst und tief. Er hatte etwas beängstigend Energievolles. Er war etwa 1,90 Meter groß, schlank, blond, blauäugig, ein Westfale, wie sie in der Gegend meiner Heimatstadt häufig vorkommen. Sein Leben war einfach. Als Sohn eines kleinen selbständigen Schreiners mußte er früh im Eltern- betrieb hart arbeiten. In den Nachkriegsjahren baute er aus den Trümmern ein flaches Haus auf mit einer Werkstatt, in welcher die Schreinerei untergebracht wurde. Später, als die Schreinerei ein- ging, arbeitete er mit einem kleinen Dreirad als Kleintransporteur für alles. Er hatte einige alte Freunde, Handwerker aus Schwelm. Sie machten Kegelabende, gingen aus, fuhren in frühen Jahren zum Rhein in Urlaub. Das alles verlief unkompliziert und unbeschwert, von kleinen Eifersuchtsszenen abgesehen, welche Vati inszenierte, wenn Mutti kurz vorher im Tanzlokal mit anderen geflirtet hatte. Mir schien, Vati trat nie bei der Erziehung in Erscheinung, mit Ausnahme bei schweren Delikten, die wir Kinder begingen; dann gab's Schläge auf den Po, aber selten. Heute sehe ich seine Methode besser: Er wollte uns Jungen nicht einengen und bedrücken. Er liebte so sehr die Selbständigkeit, daß er sie bei uns Kindern auch gerne sah. Als ich nach meiner ersten Auslandstour mit 18 Jahren nach Hause zurück kam, war er stolz auf mich und bedauerte sogar ein wenig, daß meine Tour so kurz gewesen war, Vor allem war Vati ein Ritter. Als Mutti mit meinem Freund Werner ausbrach, und ich die beiden unterstützt hatte und dabei Vati hinterging, hatte er doch Verständnis für meine Lage und es gab keine Feindschaft zwischen uns als Mutti wieder zu ihm zurückgekehrt war. Während meiner Lehrzeit wollte ich die Lehre mehrmals abbrechen, aber Vati zwang mich weiterzumachen. Es war mein Glück gewesen. Nicht wegen des Berufes sondern weil mir Wege geöffnet wurden mit dem Ge- hilfenbrief, sodaß ich später auch Zugang zum Hochschulstudium fand. Nachdem die Lehre beendet war, hat Vati sich aus meinem wechselvollen Berufsleben heraus gehalten. Muttis Ehrgeiz trieb mich zweimal von der Fabrik ins Angestelltenverhältnis, weil das in ihren Augen "besser" war, aber in beiden Fällen bedauerte ich den Wechsel und es dauerte auch nur kurz. Vati meinte gelegentlich
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zu solchen Streitfragen: "Der Fredi fällt immer auf die Füße und steht immer wieder auf, um den mache ich mir keine Sorgen,- aber der Friedhelm." Friedhelm wurde mit etwa 15 Jahren zum Sorgenkind - doch davon später. Nun sehe ich vor Augen, die letzte Szene mit Vati, bevor er 1974 starb. Es war ein halbes Jahr vor seinem Tode. Vati kämpfte seit Monaten einen aussichtslosen Endkampf gegen den Lungenkrebs. Ich war 27 Jahre alt und steckte in der letzten Phase meines Pädago- gikstudiums. Ich besuchte Vati mit meiner Ehefrau im Krankenhaus. Ums Bett herum saßen zwei seiner alten Jugendfreunde nit Ehe frauen. Sie unterhielten sich, als ob sie im Lokal beim Bier wären. Ich zeigte Vati einen Brief, in welchem ich von einem Hochschullehrer eingeladen war, einen Vortrag über Psychologie zu halten. Beabsichtigt war wohl, mich nach Abschluß meiner Diplom- prüfung zu einem Assistenten zu machen. Vati las den Brief und zeigte ihn dann strahlend seinem besten Freund:" Hier, sieh' mal, hat der Fredi von der Hochschule bekommen."
Die elterliche Schreinerei, Mitarbeit an einer Industriemesse, die Lehre, eigene Basteleien,- das hatte mir viele handwerkliche Fähigkeiten vermittelt, die zu meiner glühenden Phantasie als 17 jähriger genau paßten, sodaß ich auch alles realisieren konnte, was mir in den Sinn kam. Nachdem ich meine Elektrogitarre gebaut hatte und einige Gitarrengriffe beherrschte, gründete ich mit meinem Freund Kurt eine Band. Kurt wollte Schlagzeug spielen, aber er hatte kein Geld um Trommeln zu kaufen. Also baute ich ihm aus Holzreifen und Elefantenpapier Trommeln. Dann kam unser Auftritt beim Klassentreffen unserer alten Volksschulklasse. Ich spielte Gitarre und sang. Die Welt um mich her glitzerte, ich sprühte und fühlte mich stolz als Fontäne, - ein Rausch, eine Extase. Die alten Klassenkameraden klatschten und tanzten. Aber nach einigen Übungsmonaten ging uns die Luft aus. Ich hatte jedoch den Geruch des Ruhms nicht vergessen, den ich bei meiner Darstellung gespürt hatte. Als ich mit 20 Jahren nach Frankreich trampte, brach eine alte Lust nach Applaus und extatischer Exibition wieder durch. Einige Kilometer vor Trier nahmen mich swei Soldaten mit. Sie gingen am späten Abend mit mir in eine Trierer Nachtbar. Dort spielte eine Musikkapelle mit dem Elan von Altrentnern. Ich ging zum Barbesitzer, einem über 50 jährigen und erzählte ihm, ich sei ein Sänger auf der Durchreise zu großen Auftritten am Montmartre in Paris. Ich würde gerne ein Stück für die Leute singen. Der Herr war begeistert. Ich sprang mit Jeanshosen und Rollkragenpullover auf die Bühne und bat die Kapelle in C Dur das Lied:" Das alte Haus in New Orleans" zu spielen. Ich sang, steigerte mich in dramatische Stimmlagen und das Publikum war begeistert. Sie hätten noch mebr hören wollen, aber ich beherrschte nur dies eine Lied. Der Barmann gratulierte theatralisch und lud mich ein, auf der Rücbreise von Paris wieder bei ihm zu singen. Überhaupt liebte ich in jenen Jahren die Helden. Ich meldete mich beim Bundesgrenzschutz als Freiwilliger, weil ich gehört hatte, daß dort die echten alten Soldaten wären und ein "ganz anderer Schliff" dort herrschen würde als bei der "schlappen" Bundeswehr. Sicher hatte ich auch Angst vor dem Soldatenleben. Aber ich neigte zum Draufzugehen, wenn mir etwas Angst machte. Ich wollte die Angst in mir ausrotten. Die Vereidigung beim BGS kam. Wir standen in Uniform und traditionellem Wehrmachtsstahlhelm in Lüneburg auf einem Platz. Ein verwitterter, wie pulvergeschwärzter Veteran und General redete uns an:" Männer ! Kameraden..." Das war der Höhe-
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punkt meines schwärmerischen Jungenlebens, der wohl bald vom Dienstalltag überdeckt wurde, aber die Suche nach Abenteuern in mir bestärkte. An den Wochenenden, wenn ich dienstfrei hatte, fuhr ich ab und zu nicht nach Hause sondern trampte durch Norddeutsch- land. Ich trug einen Dolch bei mir, der zuerst von einem Schlosser des BGS repariert werden mußte. Der Mann war ebenso verrückt wie ich. Voll Begeisterung lötete er den zerbrochenen Griffstahl zu- sammen, und ich machte einen Holzgriff dazu. Auf dem Dolch stand: " Alles für Deutschland". Das irritierte mich damals nicht sondern hatte den Reiz des Verbotenen, der mit allen Erinnerungen an die NS Zeit zusammenhing. Es gab Schleifermethoden: " Sprung auf, marsch marsch, Deckung ! - Sprung auf marsch marsch !" usw. wenn wir nicht schnell genug beim Pfiff auf den Kasernenhof rasten. Die Männer waren aber alle gute Freunde von uns. Beim Streifen- gang an der Grenze zur DDR, danals noch "Zonengrenze" genannt, sahen wir die Wachttürme und Zäune derer von "Drüben'. Als ich meine Kündigung nach 2 1/2 Monaten einreichte, war dahinter wieder die Suche nach Abenteuern. Ein netter Werkstattmeister meinte:" Warum bleibst Du nicht bei uns. Hier hast Du doch Deinen ruhigen Dienst." Aber ich wollte ja das Gegenteil. So kam es, daß ich von Lüneburg aus meine erste Auslandstour begann. Vati stand in jener Zeit einmal in der Wohnungstür und sagte, als er mich in Uniform kommen sah:" Junge, ich bin stolz auf Dich." Dabei hatte er Tränen in den Augen. Als ich dann, ohne meinen Eltern Nachricht zu geben, den Dienst kündigte und später von Frankreich aus nach Hause kam, war es auch Vati der stolz auf meine eigen- willige Reise war. Es gab für ihn einen Begriff von Freiheit und freier Tat, die mich wesentlich unterstützte bei meinen Versuchen aktiv die Welt zu verstehen. Er wollte selbst als 13 jähriger einmal in die Fremde ziehen, aber es wurde nichts draus. Daneben, gleichsam im Stillen meines Ichs, gab es einen nachdenklichen, meditativen Teil, dar sich in einsamen Waldspaziergängen mit der Welt aLs Ganzes beschäftigte. Als ich 15 Jahre alt war und an einem sternenklaren frühen Abend im Wald spazieren ging, hatte ich den Gedanken, daß das Absolute, das vollkommene Sein anders sein müßte als das sternenbesetzte Universum. Der Himmel erschien mir zu klein um selber Absolutes zu sein. Ich dachte, es müßte zwei Welten geben. Eine davon wäre die bekannte Welt, und eine andere uns unbekannte Welt wäre das negative Spiegelbild unserer Welt. Beide, die positive und die negative Welt würden zusammen zum Nichts sich auflösen, - und nur dieses könnte das vollkommene Sein ergeben. In dieser Stunde war eigentlich mein späteres Leben als freier Geist begonnen. Ich verlor noch oft in den Jahren danach den Faden meiner großen Gedanken, aber ich fand doch immer wieder einen Anschluß an das einmal Gedachte. Manche Nacht saß ich allein in unserer Küche und schrieb meine Gedanben auf. Ab und zu kam Mutti vom Gang zur Toilette herein und meinte, ich müßte doch ins Bett um Morgens ausgeschlafen zu sein. Vati hingegen sagte selten etwas in dieser Art. Es kam sogar vor, daß er zu Mutti meinte, sie solle mich doch machen lassen, wenn es mir Spaß machen würde. So konnte ich, trotzt einer Familie, die meine Schreiberei in jenen Jahren merkwürdig fand, meine Gedanken entwickeln.
In den Jahren zwischen 17 und 20 Jahren tranken wir, meine Freunde Kurt, Gerd und Jürgen und andere große Mengen Bier und Schnaps. Die alten verwitterten Kneipengänger in unseren Dorfkneipen waren begeistert, wie wir uns "mannhaft" mit dem Alkohol herumschlugen. Dabei wurden wir fröhlich, sangen und gröhlten in den nächtlichen
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Straßen, und ich erlebte mich oft aus der Perspektive eines Be- trachters, der den Fred ansah, der aus dem Kind Fredi geworden war. Doch ich war viel zu gesund und lebensfroh um Alkoholiker zu werden. Als ich 19 Jabre alt war, gab es zu Hause Krach wegen des Geldes, welches ich abgeben sollte. Das war der Anlaß für mich, während die Eltern in Urlaub waren, meine längst fällige Ent- nabelung vom Elternhaus zu vollziehen. Ich zog aus und nahm ein Zimmer in der Nähe. Nach einigen Wochen des Schmollens seitens der Eltern wurde meine Lebensweise akzeptiert. Von da an wurde das Verständnis wieder so, wie es in der Kindheit meist gewesen war. Die Weichen aber waren gestellt. Ich arbeitete in einer Fabrik als Elektrohelfer, traf einen versponnenen Abendgymnasiasten mit dem ich in dunklen Winkeln der Riesenfabrikanlage über die Welt dis- kutierte. Er zeigte mir Lao Tse und Nietzsche, und ich begann ein Jahr der nächtlichen Abenteuer des Geistes. Bei Kerzenschein und Beethovens Symphonien kletterte ich in die dunklen Gänge der Nietzeschen Dämonenwelt. Die Arbeit in den Fabriken wurde mehr und mehr zum notwendigen Übel des Lebensunterhalts. Mädchen lernte ich kennen, verliebte mich in sie, fand aber nicht den Mut sie zu ficken, und hatte auch keinen Zugang zur Welt der Frauen. Derge- stalt abgeschirmt, und nur vom Suff mit Freunden unterbrochen, lebte ich in der Welt des Zarathustras und des Lao Tse. Ich spürte, daß draußen, in den Bahnen der Sterne und innen, in den Gängen der Gedanken, das große faszinierende Leben erst dabei war, für mich zu entstehen.
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