Fred Keil
Psychologische Strukturmodelle von 1974 und 2000 Nr.230 Aachen September 2000
/1 Einführung
Die vorliegende Arbeit besteht aus zwei Teilen und dem Anhang. Der erste: "Psychologische Strukturmodelle und Analysen nach Wilhelm Reich" ist von 1974. Der zweite, daran anschließend: "Neufassung der psychologischen Strukturmodelle" ist von 2000. Im Anhang die alte Einleitung von 1974 und die Einzelfall- analysen.
26 Jahre nach den Strukturmodellen stehen mir viele neue Einsichten zur Verfügung, die teils auch aus der Familie gewonnen wurden, die eine Revision der Strukturmodelle von 1974 sinnvoll werden lassen. Das "psychopneumatische" Modell, welches dem alten Text zugrunde liegt, ist obwohl zutreffend, doch unzureichend und in manchen Bereichen nicht anwendbar. Auch der Aufbau des Ichs erscheint mir heute zu schematisch und mechanistisch. Völlig neue Begriffe werden gebraucht, obschon sie wegen ihrer Nähe zu den traditionellen Begriffen der Seele, des Geistes und des Bewußtseins problematisch sind. Aber auch Begriffe aus der Computerwelt können nützliche Analogien herstellen helfen.
Es ist unerläßlich, den alten Text vor den neuen Ausführungen zu lesen. Die hier vorliegende Version verzichtet auf die grafischen Hilfsmittel. Die Angaben: Graf1.jpg usw. verweisen auf die zum Text gehörenden Seiten mit den grafischen Darstellungen. Sie sind enthalten im Verzeichnis: 230graf
Die Sätze in Klammern sind Zusätze von diesem Jahr.
Aachen 21.September 2000
1. Teil Seiten: 1 bis 65 /2 ab Seite 66 bis 87 2. Teil
Fred Keil (Nr. 75/1 und folgende unten) Neue Nummer: 230
Psychologische Strukturmodelle und Analysen Versuch einer Weiterentwicklung der Arbeiten Wilhelm Reichs Nr.75 Ratingen 1972-1974 Nr.75a Essen 1974
Inhaltsverzeichnis:
Einleitung (im Anhang)
1. Abschnitt: Das Grundmodell - Primäre und sekundäre Verhaltensweisen S. 4 - Energetisches Gleichgewicht und Selbststeuerung 5 - Das Reichsche Selbststeuerungsmodell 7 - Der biologische Kern 8 - Entstehung des Ichs eines Mitteleuropäers 9 im 20.Jahrhundert - Verinnerlichung zum muskulösen Panzer 14 - Verinnerlichung zum unbewußten Hemmechanismus 14 - Erwerbung einer rationalen Denkregel 15 - Produktion und Reproduktion von Ersatz, 16 Handlungen,-Bedürfnissen und Reaktionsbildungen - Produktion pathogener Aggression 16 - Produktion und Reproduktion der Angst 18 - Produktion der sogenannten Perversionen 20 - Homosexualität 21 - Sadismus 24 - Masochismus und unterwürfiges Verhalten 25 - Identifizierung 25 - Fixierung 26 - Projektion 27 - Energiehaushalt: 28 a Energieproduktion u. Versorgung 28 b Entladungsarten 29 c Stauungszustände 30 d Auswirkung der Energiestauung auf das 31 Verhalten am Beispiel der Vermischung von Aggression und pathogener Aggression e Energieverbrauch- Bindung- Umlenkung 32 der Hemmechanismen - Funktionsweise der Hemmechanismen 32 a allgemein 32 b Erwerbung von Hemmechanismen in den 36 verschiedenen Lebensaltern c Verstärkung von Hemmechanismen durch 37 wiederholte Reproduktionssituationen d Abschwächung nicht aktivierter 37 Hemmechanismen im Laufe des Lebens e Die Verhältnisse zwischen: 37 Erwerbung - Verstärkung Erwerbung - Abschwächung Verstärkung - Abschwächung
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- Kompensationsmechanismen: a energiebindende 38 b energiefreisetzende - Rationalisierungsmechanismen 39 - Steuerungsprobleme der Denkmechanismen 40 - Erwartungshaltungen 42 - Energiespeicherung und muskulöse Panzerung 43 - "Homo normalis" des abendländischen Kulturkreises 45 der Gegenwart - Ideale Ichstrukturen 46 - Funktionsweise der Gesamtpanzerung: 47 a Schichten der Gesamtpanzerung 47 b Abwehr und Verschachtelung 49 c Überlastung, "Durchdrehen", 50 Regression - Probleme der "Massenpsychologie" 52
ergänzende Aufsätze:
- Probleme der Verschiedenheit der Ichstrukturen 56 bei annähernd gleichen...Bedingungen /Lawinenfaktor/ - Energetisch gleichwertige Handlungsentscheidungen 59 /gleichwertige Elemente/ - Steuerungsgruppen 61 - Das "Ich" als Steuerungselement 63
2. Abschnitt: Einzelfallanalysen zum Grundmodell im Anhang.
- Fragestellung zu den Annäherungsimpulsen zu den muskulösen Panzerungen zu Real- und Lustangst zu pathogener Aggression zu "perversen" Vorstellungen zu Rationalisierungsmechanismen (einige sind ausgelassen)
230/3b 2. Teil
Inhalt
Psychoanalyse und allgemeine Psychologie S. 66
Die Sexualität 67
Erbmaterial und Biochemie 68
Paralelle Faktoren 69
Entladungsarten 69
Der Produktionsbegriff 71
Diffusion und Kristallisierung 71
Kombinierte Regulatoren 72
Besonderheiten ausgeglichener Regulatoren 73
Die idealen Ichstrukturen im Licht neuerer Modelle 73
Der Begriff des Willens 75
Das Bewußtsein 75
Das "Gefühl" 76
Psychologische Eingriffe 77
"Metapsychologische" Betrachtungen 78
Steuerung frei flottierender Energie 78
Aktive und passive Verarbeitung frei flottierender Energie 79
Kognitive Regulatoren 81
Willensbildung und "wollende" Regulatoren 82
Wille und Umwelt 83
Substituierende Denkmechanismen in der Willensbildung 84
"Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust" 84
Internalisierte Gesellschaft 85
Verzweigungen und zentrale Spitzen 86
Analogien des Grundmodells zu den Hirnfunktionen 86
230/4 1. Teil: Das Grundmodell
- Primäre und sekundäre Verhaltensweisen graf1.jpg
"Der Mensch braucht, wie alles Lebende, zunächst Stillung des Hungers und sexuelle Befriedigung. Die Gesellschaft von heute erschwert die erste und verweigert die zweite. Es gibt einen scharfen Gegensatz von natürlichen Ansprüchen und bestimmten gesellschaftlichen Einrichtungen. In ihm lebt der Mensch, folgt bald mehr der einen, bald mehr der anderen Seite des Widerspruchs, schließt Kompromisse, die regelmäßig scheitern, flüchtet in Krankheit und Tod, oder er rebelliert sinnlos und ergebnislos gegen die bestehende Ordnung. In diesen Kämpfen bildet sich die menschliche Struktur heraus." /W.Reich "Funktion des Orgasmus" K&W S.216 Deshalb ist das menschliche Verhalten weder natürlich, noch Ausdruck ursprünglicher Bedürfnisse. Versuche, die Struktur von elementaren Bedürfnissen und primären Verhaltens- weisen aus der Beobachtung der jetzt lebenden Menschen abzu- leiten, schlagen fehl oder dienen dem Lob aufs Bestehende. Ursprüngliche oder primäre Verhaltensweisen können heute nur noch bei frei lebenden Säugetieren und rudimentär bei den noch lebenden "Primitiven" festgestellt werden. Dennoch gibt die Beobachtung der Verhaltensweisen von Säugetieren Aufschluß über die Struktur der menschlichen elementaren Bedürfnisse und primären Verhaltensweisen. Zwar wurde den Menschen ihre innere Struktur von Kultur und Zivilisation gründlich zerrüttet, aber bruchstückhaft erhielten sich Ansätze primärer Verhaltensweisen. Um die besser zu erkennen, sollen Überlegungen zu Tierbeobachtungen hier folgen.
Der Begriff "primäre Verhaltensweisen" bezeichnet das Verhalten, welches ein höheres Lebewesen allen anderen in der Regel vorzieht und nur unter äußerlichem Zwang oder Krankheit zugunsten anderer, sekundärer Verhaltensweisen ablegt. Sichtbar in der Staffelung von Annäherung, Flucht und Angriff bei vielen Säugern.
Für das Säugetier zerfällt die Umwelt in Lust- und Unlust- objekte. Den Lustobjekten nähert es sich an, vor den Unlustobjekten flieht es. Nicht selten jedoch ist die Flucht nicht mehr möglich, so wenn das Tier in die Enge getrieben wurde. Daraus folgt in vielen Fällen der Angriff oder dessen Vorform, die unkoordinierte aggressive Äußerung. Im Verlauf selektiver Prozesse bildeten sich bei vielen Arten Flucht- und Angriffsdistanzen. Weil die Fluchtdistanz immer größer ist als die des Angriffs, ist Angriffsverhalten immer eine Folge vereitelter Flucht. Das Beuteschlagen gehört nicht in diesem Sinne zum Angriffsverhalten, weil ein beuteschlagendes Tier nicht aggressiv ist. /Ausnahmen, wo generell keine Flucht erfolgt sind beobachtbar/ Daher ist die Flucht eine primäre, die Verhaltensweise des Angriffs eine sekundäre Verhaltensweise. Nun läßt sich bei einigen Tieren auch Angst beobachten. Die tritt auf, wenn Flucht und Angriff nicht möglich bzw. nicht genetisch entwickelt sind.Z.B. die Angst von Hunden bei Gewittern. Angst stellt sich nicht ein, wenn
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das Tier fliehen oder angreifen kann. Deshalb ist die Angst eine sekundäre Verhaltensweise 2. Grades; die des Angriffs dadurch eine 1. Grades. Ausnahmen sind natürlich auffindbar. So gibt es Tiere, die nicht angreifen sondern sich totstellen. Jedoch gilt die obige Staffelung gerade für die Säugetier- arten, die phylogenetisch dem Menschen besonders nahe stehen. Wenn trotzdem bei den meisten Menschen nicht auf ein Unlust- objekt die Flucht sondern ein Angriff erfolgt, kann das zweierlei Gründe haben: 1. Das Fluchtverhalten ist abtrainiert, der Mensch empfindet Flucht als sinnlos. 2. Bei allen Menschen ist nicht die Flucht eine sekundäre Verhaltensweise 1. Grades sondern der Angriff. Diese letzte Spekulation ist leicht zu widerlegen. Wenn in kritischen Situationen, z.B. an der Kriegsfront die Repressionen von oben nachlassen, fliehen viele Soldaten. Desertation aber auch Panikverhalten weisen darauf hin, daß auch bei den Menschen die oben genannte Staffelung der primären und sekundären Verhaltensweisen zutrifft.
- Energetisches Gleichgewicht und Selbststeuerung, die Gedanken Wilhelm Reichs graf2.jpg
Die Lebewesen nehmen Stoffe auf, verarbeiten sie so, daß Energiebeträge frei werden und scheiden die nicht verbrauch- baren Stoffe und Umsetzprodukte wieder aus. Mit der gewonnenen Energie erregen sie die Prozesse, die ihre Lebensfunktionen ausmachen. Der Energiebetrag, den die Lebewesen benötigen, ist für jedes unterschiedlich. Noch mehr, auch der Energiebetrag, den ein einzelnes Lebewesen benötigt, ist nicht immer konstant. Für starke motorische Tätigkeit wird im gleichen Zeitraum mehr Energie benötigt, als etwa zum Schlafen. Jedes Lebewesen benötigt jedoch immer eine Mindestmenge Energie, die entweder direkt aus der Umwelt gewonnen wird oder aus, im Körper gespeicherten Vorräten stammt. Die Höchstmenge Energie, die ein Lebewesen aufnehmen, erzeugen und verbrauchen kann, ist ebenso begrenzt. Die Entwicklungsgeschichte eines jeden Lebewesens bestimmt die Maximal und Minimalwerte von Energie- verbrauch-, erzeugung-, aufnahme. Über- bzw. unterschreitet ein Lebewesen seine Maximal- und Minimalwerte, dann sind, je nach Dauer und Intensität der Über- und Unterschreitung Unlustempfindungen, Krankheit oder Tod die Folge. Lebewesen, die voll an ihre Umwelt angepaßt sind, können bezüglich ihrer Empfindungen optimal lustvoll leben. Sie haben Proportionen zwischen den unterschiedlichen Arten ihrer Energieproduktion und ihres Energieverbrauchs entwickelt, die nicht wesentlich von der Umwelt gestört werden.
(Zusatz 1: Eine romantische Vorstellung, die dem Zeitgeist der 70er Jahre entsprach. Die Geschichte der Evolution kann als eine permanente Störungsgeschichte verstanden werden, die die Artenwandlungen erzwang. Dennoch ist der Gleichgewichtsgedanke erforderlich um den Unterschied zwischen intaktem Sexual- haushalt und defektem aufzuzeigen.)
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Jede Art der Energieproduktion und des Energieverbrauchs ist nur in einer bestimmten Relation zu den anderen Arten von Energieproduktion- und Verbrauch des Einzelwesens lustvoll. So frißt etwa ein Löwe nur so lange und so viel, bis er satt ist. Fressen über dieses Sattsein hinaus wäre unlustvoll, also unterläßt er es. Ebenso begatten sich etwa zwei Hunde nicht fortwährend, sondern nur solange sie Lust dazu haben, was wiederum durch bestimmte Zeiten begrenzt ist. Dauerndes Begatten wäre unlustvoll, aber schlechterdings auch nicht möglich. Eine Antilope läuft nicht den ganzen Tag über im Galopp herum, sondern nur, wenn sie Lust dazu hat oder gejagt wird. Dauerndes Laufen wäre unlustvoll, also unterläßt sie es. Beim Menschen soll das nicht gelten, wird von denen behauptet, die die "Notwendigkeit" repressiver Trieb- regulierung verewigen wollen. Im Verlauf dieser Arbeit werden diese reaktionären Vertreter überführt werden.
Die Bedürfnisse sind nichts anderes als das, wessen die Tiere und auch die Menschen bedürfen um lustvoll zu leben und zu überleben. Genauer: sie sind Ausdruck dessen, wessen die einzelnen Organe bedürfen um ohne Unlustproduktion zu funktionieren. Dieser Bedarf der Organe ist, noch mikroskopischer betrachtet, der Bedarf der Zellen in ihrem organischen Funktionszusammenhang. Doch er ist keineswegs nur Bedarf im Sinne des Benötigen, sondern auch Bedarf im Sinne eines aktiv zu Äußernden. In der Reichschen Lebensformel: Ladung- Spannung- Entladung- Entspannung im rhythmischen Wechsel. Beobachtbar beim Einzeller im Rhythmus von Zusammen- ziehung /Ladung-Spannung/ und Ausdehnung /Entladung-Entspannung/.
Beim Säugetier ist dieser Rhythmus in andere Ebenen verlagert: Nahrungsaufnahme, körperliche Bewegung, sexuelle Reize als Ladung- Spannung, und Ausscheidung, sexuelle Befriedigung und körperliche Bewegung als Entladung- Entspannung. Die dem Organismus adäquate Entladung- Entspannung erfolgt im Orgasmusreflex der orgiastischen Befriedigung. /Reich: Funktion des Orgasmus/ In der gegenwärtigen menschlichen Gesellschaft wird der Lebensrhythmus permanent zerstört: Auf der Ladungsseite: Hunger, mangelnde sexuelle Reize, mangelnde Bewegung u.a.; auf der Entladungsseite: mangelnde sexuelle Befriedigung, Unfähigkeit zum Orgasmus- reflex, großenteils auch Frigidität und Impotenz aufgrund der aktuellen realen und verinnerlichten Unterdrückungen. (Zusatz 2: Dieses Modell ist fehlerhaft: Mangelnde sexuelle Reize sind in der Zivilisation nicht zu sehen, aber ein Übermaß von Reizen und sexuellen Fehlentwicklungen.) So wie die Bedürfnisse eines Lebewesens zueinander in bestimmten Proportionen befriedigt werden müssen, damit nicht Unlust auftritt, so gibt es ebenso Proportionen des Energie- verbrauchs in der Bedürfnistefriedigung, die, wenn sie gestört oder zerstört werden, Unlust, Krankheit oder gar den Tod folgen lassen. Die Veränderungen der Proportionen sind jedoch
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nicht generell unlustvoll, sondern nur, wenn bestimmte Schwellen der Intensität und Dauer überschritten werden. So kann man durchaus einmal die doppelte Menge des Gewohnten essen und dafür nur die Hälfte der gewohnten Zeit schlafen, ohne daß dabei Unlust auftreten muß. Würde man aber die dreifache Menge essen wollen und vielleicht mehrere Nächte nicht schlafen, dann wären Unlustempfindungen die Folge. Die Proportionen, innerhalb derer die Bedürfnisse befriedigt werden müssen, damit keine Unlust oder Schlimmeres auftritt, sind innerhalb gewisser enger Grenzen variabel.
Wenn ein Lebewesen seine Bedürfnisse innerhalb der Proportionen und innerhalb der eben genannten Schwellen befriedigen kann, die es mit seiner Entwicklungsgeschichte erworben hat, dann befindet es sich im Zustand eines innerindividuellen energetischen Gleichgewichts, abgekürzt: energetisches Gleichgewicht. Die Fähigkeit, vor allem der höher organisierten Tiere, gewisse Schwankungen in der Bedürfnisbefriedigung durch entsprechendes Verhalten auszugleichen und die Fähigkeit, die Proportionen auch gegen gewisse Störungen aufrecht zu erhalten, zeichnet sie aus als Selbststeuerungsorganismen. Z.B. können Hamster durch Vorratsbildung verhindern, daß sie im Winter hungern. Katzen können mittels der ausgeschiedenen Duftstoffe Geschlechts- partner auffinden und aufsuchen, obwohl sie Einzelgänger sind und ohne diese Fähigkeit nur per Zufall auf Geschlechts- partner treffen würden. Die Studien zur menschlichen Vorgeschichte haben gezeigt, daß auch die Menschen einmal Selbststeuerungsorganismen waren. Erst mit dem Aufkommen der privatwirtschaftlich patriarchalischen Gesellschaftsformen begann die Zerstörung der innermenschlichen Selbststeuerungssysteme. An die Stelle der zerstörten Selbststeuerung mußte die zwangsmoralische Regulierung treten, nachdem diese als herrschaftliche Unterdrückungsinstanz die Selbststeuerung außer Wirkung gesetzt hatte. Kern dieser Zerstörung ist die sexuelle Unter- drückung, derzufolge orgiastische Befriedigung, also adäquate Entladung-Entspannung nicht mehr sein kann.
(Zusatz 3: Die sexuelle Unterdrückung ist nur ein Aspekt aus dem Arsenal der Selbstdisziplinierung der Menschheit. Die Todesfurcht, Angst vor Folter, Hunger, Gebrauch von Drogen usw. haben ebenfalls eine große Rolle gespielt. In der Disziplinierung der rohen Bevölkerung ist wahrschein- lich die sexuelle Unterdrückung sekundär gewesen, wie auch noch an der geringen Quote von Eheschließungen in den einfachen Schichten der Landbevölkerung vor 1830 sichtbar wird.)
Das Reichsche Selbststeuerungsmodell "Genitaler Charakter"
In diesem Modell von Wilhelm Reich kommt die biologische Energie aus dem biologischen Kern und realisiert sich durch Arbeitsleistungen und sexuellen Tätigkeiten.
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Reich sieht ein Qszillieren der Energie zwischen beiden Bereichen.
In der "Sexualökonomischen Arbeitsleistung pendelt die biologische Energie zwischen Arbeit und Liebesbetätigung hin und her. Arbeit und Sexualität sind keine Gegensätze, sondern unterstützen einander durch Festigung des Selbst- bewußtseins. Das Interesse ist jeweils eindeutig konzentriert, getragen vom Gefühl der Potenz und Hingabefähigkeit." Reich "Funktion des Orgasmus"S.I6O
Ins Grundmodell übersetzt, erscheint neben den beiden Entladungsbahnen 1 "Motorik" /für Arbeit/ und 2 Sexualorgane, eine weitere Bahn 3, die der aggressiven Entladung, basierend auf der Reichschen Therie der Bildung von Aggressionen aus Sexualunterdrückung.
Diese Bahn ist sekundär und wird nur bei vielen Tierarten nur aktiviert, wenn bei Gefahr Flucht nicht mehr möglich ist.
Am Lebensrhythmus sind nur die Bahnen 1 und 2 maßgebend. Die Aktivierung der dritten Bahn bedeutet eine Störung des Pendelns zwischen 1 und 2 . /Es gibt allerdings Tierarten, bei denen die Aktivierung der Bahn 3 genetisch vor- programmiert ist. Aber auch dann sind entsprechende Unlust- objekte zur Aktivierung nötig./
Der "biologische" Kern
(Zusatz 4: Seit der Konzeption des "Es" bei Freud ist die Welt der Triebe mehr und mehr im Sinne einer dynamischen Größe aufgefaßt worden, der eine gewisse Eigenständigkeit nur im Verfolgen von Triebzielen und in der Ausformung von Schadensfolgen in pathologischen Reaktionen zugestanden wird. Reichs Konzeption vom biologischen Kern reduziert diese elementare Welt auf organische Grundfunktionen. Es sind beinahe mechanistische Konzeptionen, die sich den Anschein organischer Komplexität geben. Dem entgegen ist jede Körperzelle ein Organismus mit vielschichtigen Strebungen und begrenzten Zielsetzungen im Sinne von Wachstums- und Vermittlungsaufgaben innerhalb des Organismusses. Nietzsches Konstrukt vom "Selbst" als den starken Gebieter in uns, meint eine nicht dem bewußten Ich identische Instanz, die gleichwohl über Qualitäten verfügt, die das Ich auszeichen: Wille, Richtung, Ziele und Konstanz der Antriebe. Das Selbst könnte als ein unterbewußter Bereich des Ichs oder als ein Konglomerat aus Es und Ichbereichen verstanden werden. Es ist nicht in jedem Individuum gleicher- maßen deutlich ausgeprägt. Die Frage stellt sich, wie die Organisation des Ichs beschaffen ist. Wahrschenlich sind verschiedene Mischungen und Polaritäten zwischen den Bereichen innerhalb der Person möglich. Sogenannt instinktsicheres Handeln verweist auf ein starkes Selbst. Triebbeherrschung zugunsten bewußter Ziele verweist auf ein starkes Ich. Die Frage stellt sich, ob die Vielzahl der organischen Zellen
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nicht überhaupt nur temporär Synthesen zum Ich hevorbringt, die dann zugunsten der Überlebenstrategien langfristig als eine mit sich selbst identische Organisation interpretiert werden. Das "Sehen-wollen" von Gleichartigkeit, könnte ein willentlicher Akt sein, der Inhomogenes glättet. Auch dies ist eine Entdeckung Nietzsches. Der pathologische Zerfall der Persönlichkeit in seinen verschiedensten Gestalten, verweist auf ein Bild des Individuums, in welchem viele Schaltzentren wirksam sind, die teils über eigene Ziel- setzungen und einer Art eigenem Willen verfügen und jeweils unterschiedlich unter das Kommando von Ichstrukturen gebracht werden.)
- Entstehung des Ichs eines Mitteleuropäers im 20.Jahrhundert
Der eben geborene Säugling verfügt über alle Bedürfnisse, die auch ein Erwachsener hat. /kulturelle und andere Ersatz- bedürfnisse ausgenommen/. Lediglich die sexuellen sind noch nicht im, als normal genannten Primat der Genitalität konzentriert. Die Einteilung dieser Bedürfnisse wird von seinem Verhalten abgeleitet. Das aber wird vom ersten Lebensaugenblick an durch die Umwelt beeinflußt. Die Einteilung muß deshalb mit ent- sprechender Vorsicht verwendet werden: 1. Bedürfnisse nach Nahrung 2. Bedürfnisse nach sexueller Befriedigung /beim Säugling vermutlich primär über den Hautkontakt mit der Mutter/ 3. Bedürfnisse nach Betätigung der Motorik
Diese drei Gruppen elementarer Bedürfnisse treten immer in bestimmten, obschon in Grenzen und je indivuduellem Fall ver- schiedenen Proportionen auf. Vom Standpunkt des Lustgewinns ist jedoch fraglich, ob beim Säugling, wie später beim Erwachsenen, ein Bedürfnis mehr, ein anderes weniger Lust vermittelt. Die qualitativen Unterschiede des Lustgewinns bei der Bedürfnisbefriedigung der Erwachsenen sind vermutlich gesellschaftlich bedingt./z.B. Verlust des Lustgewinns aus der körperlichen Bewegung durch den Zwangscharakter der Arbeit/ Denkbar, daß dem Säugling alle Bedürfnisbefriedigungen als eine untrennbare Lustvermittlung empfunden werden. Womöglich werden erst durch die im Erziehungsprozeß einsetzenden Triebunterdrückungen die Bedürfnisse als etwas qualitativ unterschiedliches hinsichtlich ihres Lustgewinns spürbar. Die Unterdrückung der sexuellen Bedürfnisse beginnt damit, daß die Mutter den Säugling nur zu bestimmten, von ihr festgesetzten Zeiten stillt, oft aber überhaupt nicht und stattdessen eine Flasche reicht; daß ferner die Stillzeit nur einigen Wochen dauert, /in günstigen Fällen/ weil der Irrtum vorherrscht, das Stillen habe nur die Funktion der Nahrungs- aufnahme. Jedoch befriedigt das Stillen auch die Bedürfnisse nach Nähe und die oralen Partialtriebe. Mit den ersten Wahrnehmungen der Sinnesorgane vermitteln sich dem Säugling Lust- und Unlustempfindungen, die dazu führen, daß die Gefühle sich verbinden mit den Sinneseindrücken, die zugleich aufgenommen werden. Von dem
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Augenblick an, wo die Mutter dem Säugling sich wider seine Protestäußerungen entzieht, wird ihm das ihm selbst Äußerliche schmerzhaft fühlbar. Es vermittelt die Erfahrung, daß der Lustspender nicht mit dem eigenen Organismus identisch ist, sondern ein Lustobjekt bedeutet. Ebenso wird erfahren, daß die Unlustempfindungen von einem Objekt, einem Unlustobjekt herstammen, genauer, von diesem Unlustobjekt verursacht werden. Da sich die Mütter aus Unkenntnis und gesellschaft- lichem Zwang heraus /Sitte/ nicht bemühen können, die Proportionen einzuhalten, in denen der Säugling seine Bedürfnisbefriedigung optimal fände, wird das sich anbahnende energetische Gleichgewicht im Keim zerstört. Der Entzug der Mutterbrust nimmt dem Säugling alle Möglichkeiten, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen und ruhig weiter zu entwickeln. Das bereitet Unlust. Die Reaktion darauf ist eine motorische Äußerung, die im Zuge der Koordinierung der Körperfunktionen in aggressives Verhalten wider das Unlustobjekt umgewandelt wird. Aber der Säugling und das daraus sich entwickelnde Kleinkind darf seine aggressiven Äußerungen nicht an den Unlustobjekten ausleben. Schon das Potestgeschrei wird unbeachtet gelassen oder gewaltsam unterdrückt. Das Kleinkind lernt, die aggressiven Strebungen in sich zurückzuhalten oder gegen Ersatz- Unlustobjekte zu richten. Beides gelingt ihm nur, indem es die realen Barrieren verinnerlicht, die der sexuellen Befriedigung und der Aggression, die der sexuellen UnterdrUckung folgt, entgegengesetzt werden. Mit dem Aufrichten der realen Barrieren im Betroffenen selber, der Herausbildung psychologischer Barrieren, beginnt der junge Mensch, die Sexualunterdrückung an sich selber mitzuvollziehen. Wenn er gelernt hat, nicht mehr nach der Mutterbrust zu schreien, dann ist das nicht ein Zeichen dafür, daß er den Hautkontakt und diese Art der sexuellen Befriedigung erübrigen kann sondern, daß er seine sexuellen Bedürfnisse selbst unterdrückt. Dieser Selbstunterdrückung folgt die Zerstörung der Hautsexualität, ein Schaden, der sich nicht wieder beheben läßt. Daraus resultiert die Distanz zum Hautgefühl beim durchschnittlichen Erwachsenen. Die zurückgestaute sexuelle Energie wird auf mehrere Arten verarbeitet: Ein Teilbetrag geht ein in die verinnerlichten Barrieren, die Hemm- mechanismen also, ein Teilbetrag wird zur frei flottierenden Energie und erzeugt Unsicherheit und Angst; ein anderer Teil- betrag wird in motorische aggressive und andere motorische Äußerungen umgesetzt. Die Art und Weise, wie der größte Teil der Energie umgesetzt wird, bestimmt das sichtbare Verhalten. In Fällen, wo der größte Energiebetrag zu aggressiven Entladungen umgewandelt wird, entsteht der Mechanismus der Produktion pathologischer Aggression. In Fällen, wo der größte Energiebetrag mit Ersatzlustobjekten entladen wird, entsteht der Mechanismus einer Art von Ersatzbefriedigungen,z.B. Kleiderfetischismus. In Fällen, wo der größte Energiebetrag in Angst umgewandelt wird, entstehen chronische Unsicherheit, Phobien oder ein Mechanismus, der unterwürfiges Verhalten hervorbringt. Im Normalfall werden alle genannten Mechanismen in der Sozialisat- ion erworben; ihre jeweilige Stärke, ihre Größenverhältnisse
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untereinander variieren von Fall zu Fall. Mit dem Sauber- keitstraining werden dem Kleinkind weitere Schäden zugefügt. Es soll nur ins Töpfchen machen und nur zu bestimmten Zeiten. Damit dieser Vorgang möglichst schnell von Kind erlernt wird, erhält es Lohn und Strafe. Demzufolge versucht es, mit muskulösen Verkrampfungen den Blasen-Darmtrackt schneller unter seine Kontrolle zu bekommen. Diese Verkrampfungen werden meist chronisch. Sie werden als Panzerungen der Muskulatur verinnerlicht und entsexualisieren die "Analerotik". Die Unterdrückung der Analsexualität geht dem einher; damit gekoppelt die Verinnerlichung von Ekelgefühlen, die der Erwachsene, selber mit zerstörter Analsexualität groß geworden, dem Kind entgegenbringt. Unter dem Namen Ödipuskomplex wurde in der Psychoanalyse das vielleicht traurigste Kapitel kindlicher Sexualunterdrückung zusammengefaßt. Dabei interessiert hier nicht die mythologische Ableitung von Freud. Im Alter von etwa 3-4 Jahren entwickelt sich die Genitalsexualität. Dem folgt deren konsequente Unterdrückung. Besonders der Vater fürchtet einen Konkurrenten und verstärkt deshalb die Repressionen gegenüber dem Jungen. Umgekehrt die Mutter gegenüber der konkurrierenden Tochter.
(Zusatz 5: Diese Freudsche Konstruktion ist nach den eigenen Erfahrungen mit Kindern nicht generalisierbar. Der "Ödipuskomplex" ist gebunden an die Kleinfamilie, da in ihr andere Lustobjekte als die Eltern oft nicht vorkommen. Die Grundaussage, daß bereits Kleinstkinder Rivalitäten und Angst vor Rivalen haben, ist beweisbar. Andere Teile der Freudschen Konstruktion sind selten anzutreffen: z.B. Kastrationsangst. Obwohl die vielfach beobachtbare Symbiose zwischen Müttern und erwachsenen aber nie erwachsen werdenden Söhnen vielfach vorkommt und eindeutig dem Bereich der Pathologie zugehört, ist ihre Generalisierung in einem Modell der Ichentwicklung nicht brauchbar. Das Grundmuster repressiver Sexualentwicklung trifft zu, aber die sozial- und lernpsychologischen Aspekte kommen in der Psychoanalyse zu kurz.)
Die Sexualunterdrückung erfolgt so, daß sie nicht unbedingt als offene Unterdrückung sichtbar werden muß. Die asexuelle Atmosphäre in der Familie, die Tabuierung sexueller Verhaltensweisen, das Sprech- und Denkverbot hinsichtlich sexueller Regungen wirken ebenso wie ausgesprochene Verbote oder die Schläge auf die "unartigen Finger". Onanieverbot, Isolation von anderen Kindern und den Eltern /getrenntes Bett/, Verinnerlichung von Ekelgefühlen gegenüber den Genitalien und dem After bilden die Höhepunkte des repressiven Erziehungsprozesses in der Kindheit. Die Folgen: Zerstörung der Fähigkeit zur orgastischen Befriedigung, besonders die Zerstörung des Orgasmusreflexes. Dabei werden die Impotenzerscheinungen des späteren Erwachsenen vorprogrammiert; u.a. mangelnde Vaginalfeuchtigkeit bei der Frau, erektive oder ejakulative Impotenz beim Mann. Die nichtentladbare Sexualenergie wird in pathogenen Formen gebunden und entladen. Besonders, und das hier in Deutschland auffallend stark, in den Formen
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pathogener Aggression gegenüber Ersatzunlustobjekten. Man findet nichts dabei, daß die Kinder im "Trotzalter" ihr Spielzeug zerstören, Verhaltensstörungen wie Daumenlutschen, Fingerbeißen, Kopfschlagen im Bett usw. massenhaft entwickeln. Die Sexualunterdrückung wird ergänzt durch die Unterdrückung der Motorik. Es ist vielfach üblich, das Kind zu bestimmten Zeiten ins Bett zu zwingen, im Kindergarten stillsitzen zu lassen u.dgl. mehr. Auch die Nahrungsbedürfnisse werden repressiv manipuliert. So sind Fälle bekannt, wo die Eltern ihren Kindern Essen vorenthalten oder gewaltsam eintrichtern, Kinder bestrafen, wenn sie zu "hastig" oder zu "langsam" essen. Noch bevor das Kind eines einzigen rationalen Gedankens fähig ist, hat es eine Reihe von Hemmechanismen verinnerlicht, die mit muskulösen Panzerungen gekoppelt dauerhafte pathogene Dispositionen der Ichstruktur verursachen.
Im Zuge der Entwicklung rationaler Ichelemente werden die Hemmechanismen abgekapselt. Das dient dem Schutz vor ihrer Auflösung. Die Hemmechanismen sind eine Art Energiebündel, deren Lösung einerseits Energie als Angst freisetzt und andererseits ein Verhalten ermöglicht, dem elterliche Bestrafung folgen würde. Der rationale Teil des Ichs wird irrational strukturiert, damit der Unsinn bestimmter Ver- und Gebote nicht vom Kind eingesehen werden kann, und damit es nicht selbständig die verinnerlichten Hemmechanismen aufzulösen lernt. Dem dient die permanente Unterdrückung von eigenständigen Aktionen des Kindes. Es wird weitgehendst unmündig und unwissend gehalten. Aufkommende Kritik wird mit Strafen und Liebesentzug beantwortet. Nur das "brave" Kind darf auf Zuneigung der Eltern und Erwachsenen hoffen.
Das derart sich entwickelnde Ich ist gespalten. Eine Hälfte ist unbewußt, bindet in den Hemmechanismen und Panzerungen die verbotenen Strebungen und erzeugt "perverse" Symptome, die dann ihrerseits wieder zur Legitimation der Unterdrückung willkommen sind. Die andere Hälfte ist partiell rational, größtenteils irrational strukturiert und bildet das Wachbe- wußtsein mitsamt dem latenten Erinnerungsspeicher. Im wach- bewußten Teil des Ichs, aber auch im unbewußten Bereich, lagern sich Normen ab, die das Kind nicht befolgen kann, aber aus Angst gerne befolgen würde. In der Psychoanalyse wurde dieser Bereich "Ichideal" genannt. In ihm liegt auch das, was man Gewissen nennt. In der "Pubertät" beginnt die Sexual- unterdrückung auf intensivierter Stufe von neuem. Die alten Kindheitskonflikte werden reproduziert und im alten Sinne gelöst. Dabei ist die direkte Unterdrückung heute nahezu überflüssig. Die materielle Abhängigkeit der Jugendlichen an die Eltern verhindert die sexuelle Befriedigung deshalb, weil nirgend ein Raum ist, in dem sie ungestört zusammen sein dürfen. Die Verstädterung verbaut auch einen, früher üblichen Ausweg: Ins Grüne können die Meisten nicht mehr gehen, weil es nichts Grünes mehr gibt. Jugendliche, die im Auto Zuflucht suchen, werden nicht selten von eifrigen Wächtern gestört und verjagt. Die "Latenzzeit" ist nach Reich eine Folge des repressiven Erziehungsprozesses. Die vitale Resignation des Kindes nach der "genitalen Phase"
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wird durch das sich Zurückziehen von jeder sexuellen Betätiging nur ertragbar. Die Pubertät ist problematisch, weil die zur Vollblüte heranreifende Genitalsexualität aufs Brutalste unterdrückt wird. Gerade wenn die Lust der jungen Menschen am größten ist, sollen sie ja das Arbeiten lernen. Die permanente Unterdrückung der sexuellen Bedürfnisse auf allen Stufen der Ich-entwicklung produziert Ichschwäche und aktualisiert die Hemmechanismen und Panzerungen beständig. Die frühen Kindheitserlebnisse werden später deshalb ein Problem, weil sie von der allgegenwärtigen Repression ständig erneuert und ausgebaut werden. Das formt die Ichstruktur im Sinne einer Desintegration der rationalen Bereiche. Die Spaltung der Ichorganisation endet nicht mit der Erziehung, sondern vertieft sich innerhalb der repressiven gesellschaft- lichen Verhältnisse notwendig. Die "Bildung" des Ichs ist daher in Wahrheit Desintegration der innermenschlichen Selbststeuerungssysteme.
(Zusatz 6: Fehlerhaft ist diese Konstruktion, weil sie die Bildung von festen Strukturen in der Ichentwicklung generell mit dem Begriff der Repression verknüpft. Aber milde Formen dieser Art der "Repression" sind allen Gesellschaften gemeinsam. Dennoch ist die spezifische Herausbildung von energiereichen Hemmmechanismen mit hohem Agressions- und Depressionspotential eine Besonderheit der europäischen und abgeschwächt der amerikanischen Zivilisation, die es berechtigt, diese an pathologische Strukturen angenähert zu sehen. Besonders die Abdrängung der Sexualität der Heranwachsenden in kriminelle Interpretationsmuster oder in die gesellschaft- liche Ächtung und Verdrängung hat mit zu dem "Erfolg" geführt, daß die Altbevölkerungen rasant aussterben. Seit der ersten Fassung der Strukturmodelle ist das augenfällig, und das Thema bis in die Massenmedien abgesunken. Die scheinbare Sexualisierung der Gesellschaft ist eine reine Ersatzbildung auf der Ebene der Vorstellungen und vom Triebgeschehen weitgehend abgekoppelt. In viel rigiderer Form als in christlich geprägten Epochen ist heute die Sexualität der Heranwachsenden durch falsche Vorstellungen und Normen überlagert, sanktioniert, behindert und unterdrückt.)
Die Ichorganisation wird in den Zeichen so dargestellt: Das Individuum ist ein Kreis, in dessen Mitte der "biologische Kern" ist, das "Es" von S. Freud. Innerhalb des Kreise liegen vom Kern nach außen gesehen zunächst die Hemmechanismen, das "Unbewußte" und "Verdrängte" des S. Freud, und zuletzt innerhalb der Kreis- umfangslinie nahe an ihr die Schichten des Wachbewußtseins und die Sensorik. Zur Vereinfachung wird aus dem Kreis ein Sektor geschnitten, in dem die Schemata dargestellt werden, die im Grunde in allen Richtungen vom Mittelpunkt zum Kreisumfang hin erfolgen können. Dieser Sektor steht auf seiner Spitze, sodaß unten der Kern liegt und oben die Schichten des Wachbewußtseins.
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- Verinnerlichung zum muskulösen Panzer graf4.jpg
Entstehungssituation und Reproduktionssituation
Entstehungssituation: Das Kind möchte Kot ausscheiden. Es darf aber nur ins Töpfchen machen. Der Impuls Kot machen zu wollen, wird unterdrückt, wenn die Zeit unangemessen erscheint, bzw. bis das Töpfchen da ist und das Kind sich draufgesetzt hat, oder bis es mit Drohung, Gewalt etc. dazu gebracht worden ist sich drauf zu setzen.
Reproduktionssituation: Das Kind hat den Druck von Außen verinnerlicht und den Impuls durch muskulöse Verkrampfungen gehemmt und bestimmte Energien dadurch gebunden. Dabei erzeugt es selbständig einen sekundären Impuls und einen kurzzeitigen muskulösen Panzer. Wenn dieser einmal als chronische muskulöse Verkrampfung arretiert worden ist, kann die reale Unterdrückung aussetzen. Das Kind "hält" selber ein.
(Zusatz 7: Dieses Beispiel erfaßt nur einen bestimmten extremen Typus, der in dieser Form heute nicht mehr stark verbreitet ist. Aber jede Situation der Beherrschung von Muskeln führt auf Dauer zu bestimmten charakteristischen Haltungen. Deshalb können Europäer oft von Amerikanern unterschieden werden, da die Sozialisationsprozesse in beiden Kontinenten etwas verschieden ablaufen. Die Bildung der Mimik funktioniert prinzipiell wie die beschriebene Verinnerlichung zum muskulösen Panzer, da bestimmte Gesichtsmuskelgruppen die Physiognomoe prägen.)
Verinnerlichung zum unbewußten Hemmechanismus
Entstehungssituation und Reproduktionssituation
Entstehungssituation: Die Mutter hat das Stillen des Säuglings aufgegeben. Der Säugling möchte aber die Mutterbrust und schreit deshalb. Die Eltern werden ungeduldig und schimpfen oder beachten das Schreien nicht. Der Säugling erfährt die Verweigerung seines Wunsches als reales Hindernis zwischen sich selbst und dem Lustobjekt. Der aus dem biologischen Kern kommende Impuls wird blockiert und erzeugt den einen sekundären Impuls.
Reproduktionssituation: Der Säugling hat, wie man glaubt gelernt, seinen Wunsch auf- zugeben. Er hat das nicht gelernt, sondern das reale Hindernis zum unbewußten Hemmechanismus verinnerlicht. Der funktioniert wie das reale Hindernis, welches nun fortfallen kann. Der Impuls wird vom Kind selbst blockiert und verwandelt in den sekundären Impuls.
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(Zusatz 8: Hier ist nicht spezifiziert zwischen dem Abstillen, dem ausreichenden Stillen und dem zu stark zeitlich geregelten Stillen. Milde Formen des Trainings beim Stillen sind in allen Kulturen üblich. Es gibt auch "verzogene" Säuglinge, die mit kurzen Stillintervallen die Mutter besetzen wollen. Das frühe Abstillen ist problematisch und hat gelegentlich sogenannte Oralfixierungen zur Folge. Das zu stark zeitlich reglementierte Stillen, ob nun mit Brust oder Flasche, führt zu dem oben beschrieben Mechanismus und seinen sekundären Impulsen.)
Der Säugling "verdrängt", in der Sprache der Psychoanalyse. "Was ist nun Verdrängung ? Sie ist ein Prozeß, der sich zwischen dem Ich und den Strebungen des Es abspielt. Jedes Kind bringt Triebe auf die Welt und erwirbt in seiner Kindheit Wünsche, die es nicht ausleben darf... Das gesellschaftliche Sein fordert nun in Gestalt der Erzieher, daß das Kind diese Triebe unterdrücke. Das gelingt dem Kind... oft nur dadurch, daß es die Wünsche aus seinem Bewußtsein verbannt, selbst nichts davon wissen will." (verdrängt) Reich: "Diamat u.Psychoanalyse" S.16
- Erwerbung einer rationalen Denkregel graf5.jpg
Entstehungssituation: Der kleine Peter (4J.) spielt mit einem brennenden Streichholz. Dabei verbrennt er sich die Finger. Es wird daraus der Konflikt, ob er noch ein Streichholz ansteckt und wenn, ob er es anders machen wird. Es gelingt ihm beim zweiten Male, diesen Konflikt zu lösen, indem er das Streichholz anders handhabt, so daß es ihn nicht verbrennt.
Reproduktionssituation: Die Erinnerung an die richtige Handhabung des Streichholzes führt sogleich zur Erzeugung der richtigen Handhabung des Streichholzes. Der Konflikt tritt daher nicht noch einmal auf. Es ist eine rationale Denkregel erworben.
(Zusatz 9: Diese Denkregel ist zunächst bewußt, wird aber bei häufiger Reproduktion unbewußt und funktioniert automatisch. Ähnlich funktionieren die Kopfrechnenvorgänge, wenn sie oft genug geübt worden sind.)
So lernen die Kinder freilich selten, weil man sie viele Erfahrungen nicht machen läßt. Man verbietet und bestraft lieber. Die Folge ist dann, daß der Impuls durch einen unbewußten Hemmechanismus umstrukturiert wird. In diesem Beispiel würde das die Meidung von ähnlichen Situationen bedeuten. Das Kind hätte nichts gelernt sondern bloß eine Handlungshemmung erworben. Diese wiederun steht späteren Lernprozessen als Hindernis im Wege. (Z.B. Angst vor der Technik usw.)
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(Zusatz 10: Das Lebensalter ist für die Erfahrungen von größter Bedeutung. Sehr kleine Kinder sollten zunächst vor Feuer Hemmungen erwerben und später unter Aufsicht Lern- erfahrungen machen. Nicht jede Hemmung führt zu Ver- drängungsmechanismen, wenn früh genug rationale Lern- prozesse erfolgen.)
- Produktion und Reproduktion von Ersatz- Handlungen,- Bedürfnissen und Reaktionsbildungen
/ergänzend die Analysen 1-6/
Entstehungssituation - Reproduktionssituation
Entstehungssituation: Der primäre, meist sexuelle Impuls wird an seiner adäquaten Entladung durch reale Hindernisse gehindert. Die Energie koordiniert sich zum zweiten Entladungsversuch, welcher am Hindernis vorbei zur Befriedigung mit Ersatzobjekten führt. Dabei wird in der Regel die Befriedigung zur Ersatz- befriedigung, d.h. sie ist mehr oder weniger unsexuell. Der 2. Impuls kann jedoch auch zu einer körperlichen Reaktionsbildung führen, zu welcher kein Ersatzobjekt benötigt wird. Z.B. die Ticks, Kopfzucken, Stottern u.dgl. können anstelle der sexuellen Befriedigung eine Pseudobe- friedigung darstellen. Während die Ersatzbedürfnisse mit Ersatzobjekten /Biertrinken usw./häufig als akzeptierte und bewußt geförderte Befriedigungsarten integriert werden, gelten Ticks als etwas, das man am liebsten loswerden möchte.
Reproduktionssituation: Wenn die Enstehungssituation sich häufig wiederholt, prägt die Ersatzlösung der Entladung des 2. Ipulses sich als Hemmechanismus ein, der die Ersatzbefriedigung auch dann noch hervorbringen läßt, wenn keine direkte Wiederholung der Entstehungssituation vorliegt. Mit dem Hemmechanismus wird eine ihm zugehörende muskulöse Panzerung erworben, die die Funktion hat, die gehemmten Energien körperlich zu binden.
- Produktion pathogener Aggression /ergänzend die Analysen 21-26/ graf6.jpg
Entstehungssituation - Reproduktionssituation
Entstehungssituation: Der 1. Impuls erzeugt ein Verhalten, mit dem sexuelle Befriedigung erreicht werden soll. Das wird durch Eltern, Erzieher u.a. verhindert, indem Hindernisse vor dem Lustobjekt aufgebaut werden. Die Energie wird aggressiv umstrukturiert, mit dem Ziel, das Hindernis zu beseitigen und dann sexuelle Befriedigung zu erlangen. Wenn das Hindernis jedoch zu stark ist, kann diese sexuelle Befriedigung nicht stattfinden und die Energie bleibt in
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ihrer aggressiven Form. Sie wird nun entweder unterdrückt, so daß eine unterschwellige Aggressionsneigung übrigbleibt oder aber auf solche Objekte abgelenkt, die keine Hindernisse wirksam aufrichten können. Z.B. wird der jeweils Schwächere mißhandelt. Diese, ihrem ursprünglichen Ziel entfremdete Aggression bleibt länger als die akute Entstehungssituation wirksam, weil die sexuelle Befriedig- ung nicht stattfinden kann. Es entstehen Energiestauungen, die zu psychischen Verhärtungen führen und die Art und Weise der Ersatzbefriedigung als Hemmechanismus fixieren. Die ziellose Aggression ist die Vorform der pathogenen Aggression und zugleich deren Entstehungsgrund.
Reproduktionssituation: Sowohl die unterschwellige, als auch die gegen Ersatzobjekte gerichtete Aggression werden zu Ersatzbefriedigungen, obschon von Befriedigung nicht mehr gesprochen werden kann. Jedoch ist die Aggression, die ausgelebt werden kann, frustrationsmildernd; nur in diesem Sinne also Befriedigung. Im Sozialisationsprozeß unserer Gesellschaft sind die Entstehungssituationen massenhaft gegeben. Die Art und Weise der nicht zur sexuellen Befriedigung führenden Aggression, wird verinnerlicht zu einem Hemmechanismus. Würden die Entstehungssituationen bewußt überschaut, könnten diese Hemmechanismen nicht gut entstehen. Aber die wesentlichen Entstehungssituationen fallen in die frühe Kindheit, einer Zeit, wo das Wachbewußtsein erst allmählich entwickelt wird. In den Reproduktionssituationen werden die mobilisierten sexuellen Energien genauso verarbeitet wie in den Entstehungssituationen. War die Verarbeitung hauptsächlich aggressiv, so wird sie es in der Reproduktionssituation ebenso. Bei diesem Hemmechanisinus, den ich Mechanismus der Produktion pathogener Aggression nennen möchte, ist die Reproduktion nicht daran geknüpft, ob wirklich die Entstehungssituation vollends wieder vorliegt. Pathogene Aggression gegen Lustobjekte tritt auch auf, wenn keine, der Entstehungssituation entsprechende Hindernisse vorhanden sind. Das macht diesen Mechanismus ungeheuer gefährlich. Die Umstrukturierung sexueller Impulse zu aggressiven erfolgt bereits beim Auftreten von Lustobjekten. Der Grund dafür liegt darin, daß die zur Aggression gehörenden Körperhaltungen und Verkrampfungen die Sexualapparatur blockieren, wenn nicht die Rück- verwandlung aggressiver Impulse in sexuelle erlernt werden konnte. Das ist in der "Sozialisation" dieser Gesellschaft nicht möglich. Bei den Tieren sieht das anders aus. Sehr oft werden sie in die Lage versetzt, mit ihren Aggressionen auch ihr sexuelles Ziel zu erreichen. Pathogene Aggression kommt deshalb bei ihnen nicht vor. /Laborbedingungen, Domestizierung u.ä. ausgenommen/
Das Auftreten von Aggression ist nicht an sexuelle Frustration notwendig geknüpft. Wenn man Hunger hat, und es ist ein Hindernis auffindbar, durch das die Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses unmöglich gemacht wird, so können Aggressionen dazu beitragen, dieses Hindernis zu beseitigen.
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Pathogene Aggression kann jedoch dabei nicht entstehen, weil man nämlich beim Hunger genau weiß, was fehlt. Bei den sexuellen Bedürfnissen liegt das ganz anders. Je mehr ein Mensch sexuell frustriert wird, umso mehr entrückt die Sexualität seinem Blickfeld. Die Blockierung der Sexual- apparatur durch aggressive Energien läßt dann kaum noch sexuelle Reize spürbar werden.
(Zusatz 11: Daß die aggressiven Verhaltensweisen von Folterknechten oft pathogener Aggression entspringen ist an der sexuellen Zielrichtung derselben erkennbar. Ver- stümmelung der Sexualorgane noch bei Toten, ist ein eindeutiges Indiz. Aber die imperialistischen Kriege sind nur begrenzt aus der pathogenen Aggression abzuleiten. (wie Reich es versucht hat) Die kriegerischen Urhorden waren ohne Sexualunterdrückung zu praktizieren um Vieles grausamer und wilder als die eher zahmen Soldaten der neuzeitlichen Kriege. Es müssen daher die sozialen Strukturen und das Mitläuferverhalten untersucht werden um der Sache gerecht zu werden. Sexualunterdrückung schwächt die Menschen obwohl zugleich pathogene Aggressionen gebildet werden und sie stärker erscheinen.)
- Produktion und Reproduktion der Angst /ergänzend die Analysen 13-17/
a Produktionsmodelle
Eine Gefahr tritt auf als Unlustobjekt: Das Subjekt ist von einem geschlossenen Hindernisfeld umgeben. /Z.B.Kind in der Kleinfamille/ Flucht als Reaktion auf das herannahende Unlustobjekt ist nicht möglich. Die zur Flucht mobilisierte Energie des a Impulses wird zurückgedrängt und erzeugt den b Impuls, der die Aufgabe hat, das Hindernis zu beseitigen. Das mißlingt, und der b Impuls wird in den c Impuls verwandelt. Der c Impuls setzt sich im Betroffenen selber zur Angst um. Das Subjekt versucht mittels Angst- reaktionen diese frei flottierende Energie zu binden. Solange aber das Unlustobjekt in der Nähe bleibt, wird immer wieder neu Energie erzeugt und in Angst umgesetzt.
Ein Lustobjekt tritt auf: Das Subjekt ist von einem geschlossenen Hindernisfeld umgeben und kann sich deshalb dem Lustobjekt nicht nähern und mit ihn sich befriedigen. Der a Impuls wird deshalb in den b Impuls verwandelt, mit dem das Hindernis beseitigt werden soll. Das gelingt nicht. Die Energie des b Impulses wird verwandelt zum c Impuls, durch den sich die Energie als Angst freisetzt. Auch in dieser Situation bleibt die Angst, solange das Lustobjekt in der Nähe ist.
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b. Reproduktionsmodelle
"Realangst"
Die fortwährende Wiederholung der Produktionssituation hat einen Mechanismus entstehen lassen, der die vergeblichen Versuche der a und b Impulse dadurch vereitelt, daß sofort als c Imupuls Angst erzeugt wird. Da der Mechanismus dem Betroffenen nicht bewußt ist, kann er auch dann wirken, wenn die Situation nicht genau der Entstehungssituation entspricht. Angst tritt hier auch auf, wenn kein geschlossenes Hindernis- feld da ist und nur das Unlustobjekt die Reproduktion hervorruft.
"Lustangst"
Die fortwährende Wiederholung der Produktionssituation hat einen Mechanismus entstehen lassen, der Angst erzeugen läßt, wenn ein Lustobjekt auftaucht. Unabhängig davon, ob das Lustobjekt erreichbar ist oder nicht. Es entsteht also Angst, die von außen betrachtet überflüssig zu sein scheint; z.B. wenn der Jugendliche Angst hat, sich einem heterosexuellen Geschlechtspartner zu nähern, weil in der Kindheit die Annäherung an ein heterosexuelles Lustobjekt: Erwachsene, andere Heranwachsende, in der Kleinfamilie: der Elternteil, nicht möglich war und Angst erzeugte. Nun ist das Hindernis nicht da, jedoch erzeugt der Mechanismus die gleiche Angst als ob eins vorhanden wäre.
(Zusatz 12: Dieses Modell ist fehlerhaft, da die Ursache der Lustangst nur im Nichterreichen des Lustobjekts gesehen wird. Wichtig für das Entstehen der Lustangst ist aber ebenso das Training der Lusttabuierung - und Vermeidung, welches sich durch die ganze Kindheit zieht und an der auch Schule, Umwelt, Medien usw. beteiligt sind. Hier wird die Mangelhaftigkeit des Freudschen Ansatzes deutlich. Die aktuellen Einflüsse und das Training sind bedeutsamer für die Charakterbildung als es im Freudschen Ansatz entwickelt wird.)
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Produktion der sogenannten Perversionen /ergänzend die Analysen 31-55/
Wenn primäre Impulse, vor allem sexuelle, blockiert werden und einen sekundären Impuls hervorrufen, dann entstehen häufig Vorstellungen und Verhaltensweisen, die so widersinnig erscheinen, daß man sie als abartig bezeichnet, z.B. die Vorstellung, daß der Penis die Frau durchbohrt. Pervers wäre das Andersartige. Da die herrschende Moral jedoch die Moral der Triebunterdrückung ist, gehört zum Andersartigen auch das, was bei den Tieren etwa zum natürlichen Sexual- verhalten gerechnet werden kann. Der Perversionsbegriff der "öffentlichen Meinung" umfaßt daher sowohl befriedigendes Sexualverhalten als auch enorm verzerrte und entsexualisierte Ersatzbefriedigungen. Z.B. werden orale Liebestechniken noch vielfach ebenso als pervers bezeichnet wie sodomistische Liebesspiele. Was pervers ist, kann nicht außerhalb des geltenden Moral- und Sittenrahmens definiert werden. Es gibt zuweilen Einseitigkeiten, die auffallend sind, z.B. die Fetischisten, deren Befriedigung nur durch den Fetisch gelingt oder der Homosexuelle, der sich nur mit einem Gleich- geschlechtlichen befriedigen kann. Wenn man den Perversions- begriff an dieser Einseitigkeit erklären wollte, dann wäre der "Normale" ebenso pervers, denn sein Sexualverhalten ist mindestens so einseitig wie das der sogenannten Perversen. Was perverses Sexualverhalten von natürlichem unterscheidet, ist die Verarmung der Sexualität und die Spezialisierung auf wenige Arten der Befriedigung. Hier möchte ich vor allem die Perversionen untersuchen, die außerhalb des "Normalen" ange- siedelt sind, obschon der "Normale" genauso pervers zu nennen wäre. Bedeutender noch ist die gesellschaftliche Funktion des Perversionsbegriffes. Verarmung wie auch Einseitigkeit sind Folgen der Sexualunterdrückung. Diese hat zum Ziel, die Menschen dem repressiven Gesellschaftszusammenhang zu inte- grieren. Die Perversion des "Normalen" ist diesem Ziel sehr dienlich. Daher denkt man nicht daran, das als pervers zu bezeichnen. Alle anderen Besonderheiten sind jedoch dem Ziel weniger dienlich, daher müssen sie diffamiert und ausgerottet werden. An der Perversion, die nicht dem Rahmen des Normalen, also nicht der Vermehrung, Kleinfamilie usw. einzugliedern ist, könnte das Prinzip der Unterdrückung spürbar und sichtbar werden. Der Homosexuelle gefährdet ebenso wie der Fetischist durch seine Andersartigkeit den Rahmen des Normalen. Die Diffamierung dieser Perversionen hat doppelten Nutzeffekt. Einerseits wird die von ihnen ausgehende Gefahr der Aufklärung abgewendet, andererseits sind Aggressionsobjekte gegeben, die zur Entladung der frustrierten Energien dringend benötigt werden. Nicht zu unterschätzen ist der Wert der andersartigen Perversionen für die Legitimation der Unterdrückung. Unter dem Vorwand, den Verfall der Sitten aufhalten zu wollen, wobei u.a. der Homosexuelle ebenso erwähnt wird wie der Sodomist, kann die Repressionsgewalt sich verbreiten und ihre Positionen ausbauen.
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(Zusatz 13: Die hier beschriebene Sichtweise der sexual- unterdrückenden Gesellschaft hat mit zur Jugendrevolte der sechsziger Jahre geführt, die eine Reihe von Erfolgen aufweisen kann: Tolerierung der Homosexualität und Abschaffung des § 175 StGB. Herabsetzung des Volljährigkeitalters von 21 auf 18 Jahren. Abschaffung des Sodomieparagraphen. Allerdings kamen die Gesichtspunkte erblicher Vorbelastungen und organischer Dispositionen bei den Perversionen zu kurz.)
- Homosexualität (ergänzend die Analysen 18-20)
Entstehungssituation - Reproduktionssituation
Entstehungssituation: (eine der Möglichkeiten, die bezüg- lich der sexuellen Isolation und der Triebablenkung general- isierbar ist) Der a Impuls zielt auf sexuelle Befriedigung mit dem einzigen heterosexuellen Partner in der Familie z.B. als Lustobjekt des Jungen die Mutter. Der Impuls wird unter- drückt. Der zweite Entladungsversuch als b. Impuls, führt als ebenfalls sexueller Impuls zur Befriedigung mit einem homosexuellen Lustobjekt, hier dem Bruder. Vom Standpunkt eines eindeutig heterosexuellen Wunsches her, ist das homo- sexuelle Lustobjekt ein Ersatzlustobjekt. Fraglich ist aber, ob der sexuelle Wunsch generell heterosexuell ist. Es könnten ebenso auch bisexuelle Strebungen sein, die aufgrund der Behinderung heterosexueller Verhaltensweisen zu homosexuellem Verhalten führen. In solchem Falle ist der Bruder kein Ersatzlustobjekt; er wird das erst, wenn sich das homosexuelle Verhalten als einzig mögliches Sexualverhalten entwickelt und der homosexuelle Partner auch die nicht realisierbaren heterosexuellen Strebungen befriedigen soll.
Reproduktionssituation: Die Behinderung und Unterdrückung heterosexueller Verhaltens- weisen bei gleichzeitiger Möglichkeit verdeckter homosexueller Befriedigung hat dazu geführt, daß ein Hemmechanismus ver- innerlicht wurde, der auch ohne reale Behinderung hetero- sexueller Verhaltensweisen diese blockiert und nur homo- sexuelle Befriedigung zuläßt. Die Entstehung des Hemm- mechanismusses ist nicht an die erfolgte homosexuelle Befriedigung gebunden. Wir finden genügend Fälle, wo kein homosexuelles Verhalten möglich war, dennoch aber Homo- sexualität auftritt.
Die Ursachen der Homosexualität: Einzelfallanalysen und ethnologische Untersuchungen lassen den Satz zu, daß Homosexualität die direkte Folge der Unterdrückung bisexueller und heterosexueller Verhaltensweisen ist, von einigen sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, wo zusätzlich erbliche Ursachen feststellbar sind. Die Lebensgeschichten der Homosexuellen sind in vielen Fällen einander ähnlich. Bestimmte Idealtypen kommen sehr häufig vor. Nachfolgend die zwei häufigst vorkommenden Idealtypen:
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a Der Homosexuelle hat in seiner Kindheit und Jugend sehr unangenehme Erfahrungen mit dem gleichgeschlechtlichen Eltern- teil gemacht. Beim Jungen ein strenger, liebloser und sadistischer Vater, beim Mädchen eine ebenso geartete Mutter. Die Folge davon ist, daß sich negative Identifizierungen herausbilden: Der Junge möchte auf gar keinen Fall wie der Vater sein, bzw. auf gar keinen Fall ein Mann sein. Der strenge Vater hat dabei zugleich, wie man sagt, dem Kind "das Rückrat gebrochen." Die positive Identifizierung mit dem Vater ist schon deshalb unmöglich, weil immer die Angst akut ist, der Vater könne auftauchen und für die sexuelle Handlung bestrafen. Ebenso beim Mädchen eine Angst vor der Mutter. Negative Identifizierung und verinnerlichte Ängste als Lust- ängste lassen deshalb heterosexuelle Kontakte später nicht zu. Der Herangewachsene wendet sich gleichgeschlechtlichen Partnern zu, weil das weniger Angst bereitet. Zugleich kann die Unterwerfung unter den gleichgeschlechtlichen Elternteil am Partner wiederholt werden. Wir finden dann bei Männern den femininen sich unterordnenden Typ, bei der Frau entsprechend maskuline Züge, wobei allerdings das Moment der Unterwerfung auch bei der Frau bestehen bleibt. Der Homosexuelle diesen Typs bevorzugt hart auftretende, sicher wirkende und "starke" Partner. Er spielt im oft vorkommenden Rollenverhalten so etwas wie den "schwächeren" Teil der beiden.
b Der Homosexuelle macht mit dem gegengeschlechtlichen Eltern- teil böse Erfahrungen. Beim Jungen lieblose Mutter, beim Mädchen liebloser Vater. Folge davon ist, daß man einen Vater- und Mutterhaß entwickelt, der später auf alle heterosexuellen potentiellen Geschlechtspartner übertragen wird. Der Junge will keine Frau, weil er gelernt hat, sie zu hassen, das Mädchen will keinen Mann aus dem gleichen Grund. Beim oft auftretenden Rollenverhalten bevorzugen diese Homosexuellen ein ihrem Geschlecht sehr entsprechendes Verhalten und erwarten allerdings ein ebensolches auch bei ihrem Partner. Bei allen Fällen ist jedoch das Moment der geschlechtlichen Isolation in der Kindheit und Jugend das bei weitem Wichtigste. Kulturen, in denen es sexuelle Kinderkollektive gibt, kennen kaum Homosexualität, wohl homosexuelle Verhaltensweisen im Rahmen von bisexuellem Verhalten. Hier interessierte allerdings die isoliert auftretende Homo- sexualität, also die pathogene Form. Krank ist freilich nicht der Homosexuelle, weil er homosexuell liebt, sondern krank daran ist, daß er zum bisexuellen Verhalten nicht mehr fähig ist. Daher ist der Normale mit seinem isoliert auf- tretenden heterosexuellen Verhalten genauso pathogen.
(Zusatz 14 Die Definition des "Normalen" als ebenso pervers ist eine typische Übersteigerung, die dem damaligen Stand der Diskussion entsprang. Der dauerhaft Homosexuelle ist vom Gelegenheitshomosexuellen zu unterscheiden. Sehr viele Jugendliche haben vereinzelt homosexuelle Erleb- nisse ohne homosexuell zu bleiben. Der dauerhaft Homosexuelle bringt wahrscheinlich in der Regel organische Dispositionen
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mit, die die Homosexualität begümstigen. Auffallend ist dies bei den Fällen, wo heterosexuell lebende Personen homosexuell werden und bleiben. Oft haben sie bereits Ehepartner und leibliche Kinder gehabt, bevor sie homosexuell wurden. Der andere Einwand, im Kriege habe es bei Soldaten keine Homosexualität gegeben, obwohl die sexuelle Not besonders groß gewesen sei, ist nicht überzeugend, da die Homosexuellen stark mit Strafen bedroht waren. Aber besonders Sexual- verhalten kann weitgehend durch Strafandrohung unterdrückt werden. Hier spielt auch die sinnenfeindliche Religion eine vorbereitende Rolle. Ein wichtiger Aspekt ist der der Massensuggestion, einfacher gesagt: der Mode. Antriebsschwache Frauen und Männer neigen dazu sich sexuellen Modeströmungen anzupassen, besonders dann, wenn sie wegen magelnder Attraktivität keine Partner im "normalen Rahmen" finden. Die gleichen Frauen, die als Mit- läufer in den sechsziger Jahren die freie Liebe in esoterisch verklärter Form gepriesen hatten, allerdings ohne wirklich sexuell aktiv zu sein, liefen später zu den lesbischen Femministinnen, als diese in Mode kamen. Noch später fanden dann eine Reihe von ihnen in den Hafen kleinbürgerlicher Familie zurück. Der lernpsychologische Aspekt, der hier allein aufklären kann, wurde aus ideologischen Gründen damals von der Psychologie in der "sexuellen Revolution" vernachlässigt.)
Es bedarf jedoch nicht der idealtypischen Fälle um das Vorhandensein der Homosexualität in dieser Kultur zu begreifen. Jede "normale" familiäre Situation erfüllt die Bedingungen der, in den Idealtypen skizzierten Vorgänge. Die Kinder und Jugendlichen werden von gleichaltrigen potentiellen Geschlechtspartnern isoliert; sexuell radikal unterdrückt von allen Erwachsenen und Frühangepaßten. Dabei ist die Unterdrückung heterosexueller Strebungen oft stärker als die der homosexuellen. Z.B. Geschlechtertrennung in den Kindergärten, Schulen, Kirchen, Armeen etc. So werden die Eltern zu den einzig möqlichen Sexualobjekten, die gegengeschlechtlichen Elternteile zu den einzig möglichen heterosexuellen Sexualobjekten. Der frustrierte Vater fürchtet im noch nicht so defekten Jungen einen Rivalen, rational unsinnig, triebmäßig berechtigt, denn die Zuneigung richtet sich eher auf noch ungebrochene als auf zerstörte Naturen. Daraus folgt die "ödipale Situation", der Konkurrenzkampf zwischen Eltern und Kindern, besonders zwischen Vater und Sohn und Mutter und Tochter. Dabei siegt natürlich der Stärkere, der Erwachsene.
(Zusatz 15: Die offene Sexualunterdrückung ist ebenso rückläufig wie die Geschlechtertrennung. Die damalige Ideologie einer "repressiven Gesellschaft" ist oft mit ihrer Kritik über das Ziel hinausgeschossen und hat dabei andere Zusammenhänge außer acht gelassen. So ist das Nichterlernen von Beziehungen und Annäherungsverhalten heute ein zentrales Problem. Auch die Ablenkung durch eine Pseudofreiheit in
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der visuellen Darstellung der Sexualität in den Medien, besonders im Film, trägt zur Irritation der jungen Generation bei. Die aus der Aidsepedemie genährte Kontaktangst wirkt in die gleiche Richtung. Die ödipale Problematik wurde in der damaligen Psychologie der sechsziger Jahre ganz im Sinne Freuds zu sehr in den Mittelpunkt gerückt. Auch deshalb wurden die aktuellen psychologischen Zusammenhänge nur in Verzerrungen wahrgenommen und vollständig unterschätzt. Allerdings hat die Anfeindung der Psychoanalyse aus den Reihen der Behavoiristen und der Psychatrie ebenfalls zur überbe- tonungen der Freudschen Theorie beigetragen).
- Sadismus
Der Sadismus läßt sich vollkommen als pathogene Aggression erklären. Jedoch decken sich klinische und sprachübliche Definition ebensowenig wie die klinische mit dem Modell der pathogerien Aggression. Das Dunkel und die Verwirrung um den Sadismus hat handfeste politische Gründe. Man steht ja politisch vor der Notwendigkeit, bestimmte sadistische Handlungen zu veredeln,z.B. der Held fürs Vaterland. Die vom Helden Umgebrachten sind in solchem Verständnis bedauerliche, unvermeidliche Opfer, die dem "Recht", der "Nation" etc. gebracht werden müssen. Ich erinnere, daß die von Freud vorgenommene Korrektur und Umstülpung seiner Sadismustheorie lebhaft begrüßt wurde. Subtiler Sadismus erscheint heute unentbehrlich. Die Verordnungen, und Gesetze haben neben sachlichen Elementen auch immer solche, die geeignet sind, sadistische Bedürfnisse systemkonform zu befriedigen.
(Zusatz 16: Auch diese Ableitungen treffen eher für die Deutsche Gesellschaft der 40er und noch der 50er Jahre zu, in der "DDR" bis in die 80er. Unterdessen ist der Mechanismus des Mitleidseffektes zur Triebbeherrschung in den Vordergrund getreten. Mitleid mit potentiellen Opfern wird als Vehikel zur Einschränkung der Freiheiten benutzt. Nietzsche hat bereits darauf hin gewiesen, daß der Priester sein Opfer krank redet und dann die Mittel zur "Genesung" anbietet. Die Kampagne gegen "Gewalt" mit ihren überaus rigiden Reglementierungsvorschlägen, bis hin zur Demontage der elterlichen Gewalt ist an die Stelle der Entfesselung sadistischer Triebe getreten, mit denen die Nazis ihre Macht auf der Straße begründeten. Mitlerweile werden auch Schwerkriminelle in den Katalog der bemitleidenswerten Opfer aufgenommen. Der Mörder wird zum Opfer seiner Umwelt stilisiert und möglichst bald therapiert oder laufen gelassen.)
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- Masochismus und unterwürfiges Verhalten /ergänzend die Analysen 27-30/ graf7.jpg
Entstehungssituation:
Der sexuelle a Impuls wird unterdrückt bzw. erreicht nicht das Lustobjekt. Der daraus gebildete b Impuls ist aggressiv, wird jedoch ebenso unterdrückt bzw. erreicht nicht das Unlustobjekt. Der daraus gebildete c Impuls erzeugt Angst und fällt zusammen mit Bestrafung, Selbstbestrafung oder Strafandrohung. Wenn körperliche Bestrafung erfolgt, wird im Schmerz und den Schmerzreaktionen ein großer Teil der Energie verbraucht. Dadurch haben die Prügel eine entladende Wirkung. Die Angst nimmt zugleich ab.
Reproduktionssituation:
Die häufige Wiederholung der Entstehungssituation hat zur Verinnerlichung der Art und Weise geführt, in welcher durch körperlichen Schmerz Energie entladen und Angst vermieden wird. In den Reproduktionssituationen genügt das Auftreten eines Lustobjekts, um die gesamte Entstehungssituation zu reproduzieren. Der Masochist möchte geschlagen werden, um von der inneren Spannung befreit zu werden. Unterwürfigkeit ist die mildere und als normal geltende Masochismusform. Bloß liegt die Entspannung nicht direkt im Schmerz sondern in einem Verhalten, welches Schmerzen bzw. Unbehagen als mildere Form verursacht. Dies nützt zugleich denen, die als Unlustobjekte den Mechanismus in Gang bringen.
In der Zeichnung der Reproduktionssituation erscheint die Bildung von zwei Blöcken. Der näher am Kern gelegene Block nimmt als Hemmechanismus x die Energie des a Impulses aus, verwandelt sie in Aggression. Der direkt darauf liegende zweite Block y entsteht zeitlich gleich danach und verwandelt die Energie aus Block a in Masochismus.
- Identifizierung
Identifizierung beginnt mit dem Nachahmen der Verhaltens- weisen, die Lust verschaffen bzw. Unlust vermeiden helfen. Wenn z.B. der Vater in Anwesenheit des Kindes zur Mutter zärtlich ist, jedoch nicht sexuell sich verhält, übernimmt das Kind ebenso ein zärtliches aber asexuelles Verhalten. Unterstützt wird das durch Bestrafung, Liebesentzug für sexuelle Annäherungsversuche des Kindes gegenüber den Eltern, anderen Erwachsenen und Kindern, und zugleich Zuspruch für die Reproduktion des elterlichen Verhaltens. Das Kind möchte wie der Vater sein, weil dadurch Bestrafung möglichst vermieden und Zuwendung erfahren werden kann. Es beginnt den Vater nachzuahmen und fühlt sich durch viele solcher Nachahmungen schließlich als mit dem Vater in eins, identisch.
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Die Bindung, welche sich durch die Identifizierung bildet, ist jedoch ambivalent. Einerseits ist der Vater der Unter- drücker bzw. beide Elternteile, andererseits ist er derjenige, der Lust in Form von Zuwendung vermittelt, wenn man "folgsam" ist. Deshalb wird nach außen hin gehorcht und nach innen hin, wenn es ungefährlich scheint, gehaßt. Das Verhalten ist aber durchgängig mehr vom Gehorchen geprägt als von der Ablehnung. Diese gefühlsmäßige Identifizierung ist nicht zu verwechseln mit der Identifikation aufgrund rationaler Denkprozesse, diese erfolgt erst sehr viel später. Während diese Identifikation korrigierbar bleibt, weil sie bewußt überschaubar ist, ist die gefühlsmäßige Identifizierung mit dem Stärkeren, dem Vater oder anderen Vaterfiguren unbewußt, etwas Eigenständiges in der Psyche, was den Betroffenen dirigiert und dessen Entscheidungen oft ohne sein Bemerken bestimmt.
- Fixierung
Wenn ein Hemmechanismus verinnerlicht wird, dann ist das nicht nur im funktionellen Sinne eine Umstrukturierung der Energie, sondern auch ein Festhalten der Situation, in welcher die Verinnerlichung begann. Z.B. hat ein Kind in seinem Teddy ein Ersatzlustobjekt gefunden. Es ist nunmehr nicht mehr bereit, den Teddy gegen einen anderen, vielleicht neueren, einzutauschen, es ist an seinen Teddy fixiert. Fixierung an Lust bzw. Ersatzlustobjekte entsteht nur, wenn die Erlebnisse mit diesen Objekten energetisch gespeichert werden. Diese Speicherung bedarf aber besonderer Energien, die dadurch bereitgestellt werden, daß die Befriedigung nur teil- weise erfolgt. Die nicht zur Befriedigung verarbeitete Energie verankert die Situation mitsamt dem sie bedingenden Hindernis vor dem ursprünglichen Lustobjekt als Hemmechanismus in der Ichorganisation. Je weniger nun in den Reproduktions- situationen Befriedigung erlangt wird, umso mehr Energie muß anderweitig gebunden werden, umso stärker der Hemmechanismus und die damit gegebne Fixierung. Das ist der Grund für den scheinbaren Widerspruch, daß die Partner in den frustrierendsten Ehen auch am Festen aneinander kleben. Mit der Stärke der gebundenen Energie ist auch die Stärke der Unfähigkeit gegeben, die unbefriedigende Situation zu verändern.
(Zusatz 17: Die Fixierung auf eine frühkindliche Entwick- lungsstufe ist das zentrale Thema der Freudschen Theorie der Fixierungen. Bezüglich der Energiebindung sind sie den oben beschriebenen Mechanismen gleich, jedoch bleiben sie unbewußt, weil das Bewußtsein des Kleinstkindes diese Vorgänge nicht sprachlich und rational speichern kann und ihre Auflösung Angst freisetzt. Diese Angst wird durch Widerstandsbildung gegen die Bewußtwerdung unterbunden.)
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- Projektion
Die Verdrängung der primären sexuellen Impulse erzeugt sekundäre. Die sekundären Impulse werden aber nur geduldet, wofern sie dem repressiven Systen dienlich sind: konsumorientierte Ersatzbefriedigungen, Fixierungen an Führerfiguren, subtiler Sadismus usw. Die als sogenannte Perversionen sich meldenden sekundären Impulse müssen zum Teil wiederum verdrängt werden. Jedoch ist die Grenze zwischen dem, was entladen werden darf und dem, was neuerlich verdrängt werden muß fließend. Z.B. darf ein Kind gehorsam sein, aber es soll nicht "weichlich" sein. Der Mann soll "hart" sein können, aber nicht zu aggressiv sein usw. Die Verdrängungen der sekundären Impulse sind deshalb mangelhaft, mißlingen aus doppeltem Grund: 1. weil nie genau bestimmt ist, wus erlaubt und was verboten ist und 2. weil häufig die Energiebeträge des zu Verdrängenden so hoch sind, daß sie die Hemmechanismen durchbrechen. Das "saubere", "anständige", "ehrbare", "tugendhafte" und "ehrliche" Ich kann mit seiner "dreckigen", "säuischen", "geilen" Kehrseite nur dadurch fertig werden, daß es die einmal bewußt gewordenen "Unanständigkeiten" nicht als von sich abstanmmende akzeptiert und sie lieber ursächlich am Anderen sieht: " Nicht ich bin geil, sondern. der Schwarze". Minderheiten sind dazu da, Projektionsleinwände für die durchbrechenden sekundären Impulse zu stellen. Unterstützt wird das von einem subjektiven Umstand, daß nämlich die "Unanständig- keiten" tatsächlich als von weit kommend gefühlt werden, weil zwischen den sekundären Impulsen und dem Bewußtsein Verdrängungsenergien gelagert sind. Der fühlbare Abstand vereinfacht die Projektion. Die Entladungen als Projektion sind befriedigend, weil einerseits Energiebeträge verbraucht werden und andererseits oft dadurch Aggressionen gegen Außenseiter realisiert werden, die ebenfalls befriedigend, weil entladend wirken. Doch die "Quellen" des Projezierten versiegen nicht, wenn die Projektionsleinwand ausgerottet worden ist, wenn alles wieder "sauber" ist. Man braucht dann neue Projektionsleinwände. Nach den Juden sind es die Kommunisten, die Langhaarigen usw., denn die energetischen Quellen liegen im Projezierenden selbst und nicht in seinen Opfern. Die Projektionen verhindern, daß das Ich seine eigene Kehrseite akzeptieren lernt, was wiederum der Aufklärung entgegenwirkt und letztlich die Produktion neuer sekundärer Impulse fördert. Die Spaltung des Ichs in einen "moralischen" und einen "amoralischen" Teil wird durch die Projektion auch dort aufrecht erhalten, wo die Auflösung der Spaltung sich in energetischen Durchbrüchen ankündet. "Homo Normalis" ist ebenso schizophren wie die Schizophrenen der "Psychatrie", nur weil es einen mitleren Durchschnitt dieser Spaltung gibt, kann sie als normal, und damit als nicht existierend empfunden werden. Die Projektion wirkt auflösend dadurch, daß projezierte Impulse nicht mehr unterdrückt werden müssen, denn "wenn der andere das Schwein ist, warum soll ich nicht ausdrücken, auskosten dürfen, wie sehr er ein Schwein ist".
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Doch der Widerspruch zwischen Stabilisierung der Hemmechanismen und Gefährdung durch Projektion ist letztlich eingebettet in die Mechanik der Triebunterdrückung, die dadurch eine Legitimation erhält.
- Energiehaushalt
a Energieproduktion und Versorgung
Bei Lebewesen im Zustand des energetischen Gleichgewichts ist die Energieproduktion und die Versorgung kein Problem. Vorkommende Störungen können von den Selbststeuerungssystemen ausgeglichen werden. Anders beim kultivierten Zivilisations- menschen, der mit der Unterdrückung seiner elementaren Bedürf- nisse, besonders der sexuellen leben muß.
Die Energieproduktion läßt sich in zwei Bereiche aufgliedern: a die relativ konstant produzierte Energie, die bei Tieren das gesammte "Normalverhalten" ermöglicht. b die zusätzlich produzierte Energie, die die Fluchtimpulse, Angriffsimpulse aber auch Annäherungsimpulse nach Bedarf verstärken hilft.
Alle Probleme des Zivilisationsmenschen kommen letztlich von den Störungen der Selbststeuerungssysteme im Menschen durch die verinnerlichten muskulösen Panzerungen und Hemm- mechanismen. (Zusatz 18: Diese Aussage ist einseitig. Eine Reihe von Störungen der Selbststeuerungssysteme sind durch Lärm, nervliche Belastungen, Umweltgiftbelastungen, Schädigungen des Erbmaterials usw. verursacht und typische Zivilisations- schäden.) Sowohl die konstant produzierte als auch die zusätzlich spontan produzierte Energie wird von diesen psychischen Verhärtungen beeinflußt,d.h. gedrosselt und partiell verstärkt. Dabei verarbeiten die lebensgeschichtlich am frühesten erworbenen Mechanismen mehr Energie als die späteren. Daher auch die Schwierigkeit, das Handeln durch vernünftiges Denken zu bestimmen. Die Denkmechanismen sind die letzte Schicht in der Ichorganisation, sie erhalten Restbeträge der Energie, jene, die trotz zwischengelagerter Hemmechanismen und Panzerungen frei verfügbar blieben. Die Modifikation der Entladung verändert im Laufe der Lebens- geschichte auch die Energieproduktion.Z.B. die dauernde Drosselung sexueller Impulse bei asketisch lebenden Priestern kann zum völligen Erlahmen der Sexualorgane führen.
Durch die Bindung und Umstrukturieruncq der Energien wird die Energieproduktion mehr und mehr gedrosselt, die Energiever- sorgung bestimmter Organe verschlechtert bzw. ganz eingestellt. Dabei wird die konstant produzierte Energiemenge geringer, der Mensch ermüdet bzw. altert, und die spontan produzierte Energiemenge nimmt ab bis solche Spontanproduktion ganz aufhört. Die spontan produzierte Energiemenge bestimmt
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sich aus der Art und Intensität der von außen kommenden Reize, /dabei gelten energetische Durchbrüche aus Stauungsenergien nicht als spontane Energieproduktion/. Da die Gesamtpanzerung der psychischen Apparatur wie ein Filter vor diesen Reizen wirkt, bestimmt sich die Energiemenge auch und vor allem aus der Intensität, mit der die Gesamtpanzerung die Sensibilität für die Reize abschwächt.
Beide Bereiche der Energieproduktion wirken aufeinander. Die Drosselung der konstanten Energiemengen geht einher mit der Dämpfung spontan produzierter Impulse, während die spontan produzierten Energien die Mengen der konstanten Produktion beeinflussen.
b Entladungsarten graf8.jpg
Im Zustand des energetischen Gleichgewichts erfolgen die Entladungen der Energien über zwei große Bahnen: a mittels sexueller Befriedigungen, b mittels Selbsterhaltungsaktionen der Motorik. Wenn die Entladung über beide oder auch eine der Bahnen gestört wird, entwickelt bzw. aktiviert sich eine zusätzliche Bahn, die Entladungen als aggressives Verhalten ermöglicht. Die Entladungen erfolgen im Rhythmus des energetischen Gleichgewichts innerhalb des Wechsels von Ladung-Spannung-Entladung-Entspannung, wofern keine Störungen auftreten.
Die glatte Entladung wird als breiter Pfeil dargestellt, der aus dem biologischen Kern kommt und zur Peripherie schießt und heraustritt.
Die gehemmte Entladung wird dargestellt durch einen breiten Pfeil, der auf muskulöse Panzerungen und Hemmechanismen trifft, Energie durch Bindung verliert und als schmalerer Pfeil zur Peripherie schießt und hinaustritt. Der schmalere Pfeil steht für einen schwächer gewordenen Impuls.
Die Blockierung der glatten ungehemmten Entladung im Menschen erfolgt durch die verinnerlichten Mechanismen einerseits und durch reale Unterdrückung andererseits. Dabei wird die neue agggressive Entladungsbahn fest verankert, mit der aggressives und pathogen-aggressives Verhalten produziert wird. Die gehemmte Entladung führt zu energetischen Stauungen, deren Umfang sich aus der Struktur der Gesamtpanzerung ergibt. Wenn Hemmechanismen zusammenbrechen, dann wird nicht wieder
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die alte sexuelle Entladungsbahn eingeschlagen, sondern eine der aggressiven Entladungsbahn naheliegende. Das weist darauf hin, daß die einmal verankerten Blockierungen der Entladungs- bahnen nicht wieder rückgängig gemacht werden können, jeden- falls nicht durch den Umstand, daß die Situationen sich ändern, die die gehemmte Entladung aktiviert hatten. Veränderungen der durch Blockierung entstandenen Entladungs- bahnen scheinen möglich durch Kompensationsmechanismen, /siehe weiter unten/ und solche Eingriffe, die die Basis der Hemmung, die Blockierung der Genitalapparatur angreifen bzw. auflösen.
c Stauungszustände
Die in den Hemmechanismen und muskulösen Panzerungen, also in der gesamten psychischen Triebabwehr gebundenen Energien sind nicht so konserviert, daß sie das psychische Geschehen nun unbeeinflußt ließen. Es wird nicht einmal in nur einem einzigen Vorgang Energie umgelenkt, wonach dann Stabilität erreicht würde, sondern zur Bindung der Energien in der Abwehr sind immer wieder neue Anstrengungen nötig. Die Mechanismen sind nur relativ stabil und vermögen den Zustrom der konstant und spontan produzierten Energien nur begrenzt zu verarbeiten. Es werden immer wieder Impulse freigesetzt, die nicht gebunden werden konnten. Wenn diese freigesetzten Impulse "Verbotenes" bzw. für den Betroffenen gefährliches Verhalten hervorbringen wollen, dann müssen neue Energiespeicher, also neue Hemmecha- nismen gebildet werden, die die Entladung der Impulse in dieser gefährlichen Form verhindern. Insgesamt nimmt die Menge der gebundenen Energie, der Stauungsenergie, deshalb mit zunehmendem Lebensalter auch zu. Das Subjekt nähert sich mit jedem neu gebildeten Hemmechanismus mehr dem Starrezustand an, der neurotischen Starre bzw. dem Zwangscharakter.
Die Freisetzung der nicht bindbaren Energien erfolgt vom Betroffenen unkontrollierbar. Intensität und Haufigkeit sind abhängig von der Menge der mobilisierten Energie und der Auf- nahmefähigkeit der Abwehr. Der meistgewählte Weg mit den unkontrollierten Ausbrüchen fertig zu werden, ist reaktive Arbeitsleistung, die zugleich bestimmte pathogen-aggressive Impulse verarbeiten hilft. Die Energiestauung wirkt jedoch im Sinne von Abstumpfung und Entsensibilisierung auf die Energie- mobilisation zurück. Man wird unempfindlicher gegenüber sexuellen und anderen Reizen. Da aber die Menge der Stauungs- energie mit der Zunahme der Mechanismen auch zunimmt, werden die energetischen Ausbrüche intensiver, oft auch häufiger, je umfangreicher die Abwehr wird. Es sieht so aus, als würden diese Ausbrüche rascher an Intensität gewinnen, als die Abstumpfung die Energie- mobilisation herabsetzt. Prototyp dafür ist der Affektmörder. Es handelt sich dabei oft um "friedlich" lebende Menschen, die plötzlich, scheinbar grundlos einen anderen umbringen. Es wurden da zwar die energetischen Ausbrüche durch Ausbau der Abwehr verhindert, aber nur bis zu dem Grad, wo ein
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einziger intensiver Ausbruch erfolgte und die Abwehr zusammenbrechen mußte. Der Zustand der Abwehr läßt sich daher von der Menge der gestauten Energie, vom Energiestauungspegel ableiten. Wobei das nicht das einzige Moment zur Bestimmung der Abwehr ist. /Dazu weiter unten die Ausführungen zur Gesammtpanzerung./ Der Energiestauungspegel bestimmt sich aus drei Größen: 1. der Menge der konstant produzierten Energie 2. der Menge der zusätzlich produzierten Energie 3. der Menge der frei entladbaren Energie und damit der Menge der Energie, die in der Abwehr gebunden ist.
Energiemenge über mehrere Stunden: gestrichelte Linie für den Zustand des energetischen Gleichgewichts, durchgezogene Linie für den "Normalfall".
(Zusatz 19: Das Schema zeigt ein Auf und Ab im 6 stündigen Wechsel für das energetische Gleichgewicht und für den Normalfall eine Spitze in 24 Stunden. Beide Kurven sind reine Spekulation. Sie dienen allein der Problematisierung der Energieschwankungen.)
Die komplizierten Verhältnisse der Faktoren, die das Stauungspotential bedingen, führen zu scheinbar wider- sprüchlichen Ergebnissen. Z.B. scheint ein Widerspruch zu bestehen, daß eine hohe Energiemobilisation geringere Energieausbrüche verursacht als eine niedrigere Mobilisation. Das löst sich auf, wenn bedacht wird, daß die Intensität der Energiebindung verschieden ist. Es braucht nur im ersten Falle eine umfangreichere Ahvehr vorzuliegen und im zweiten eine sehr schwache, dann ist das geklärt. Deshalb müssen bei der Analyse der energetischen Zustände unbedingt alle Wechselwirkungen bedacht werden.
d Auswirkung der Energiestauung auf das Verhalten am Beispiel d.Vermischung v.Aggression u.pathogener Aggression. graf9.jpg
A: Der Fahrer H. wird von einem anderen Fahrer beim Über- queren einer Kreuzung angefahren. Die Wagen halten. H. steigt aus und brüllt den anderen Fahrer an:" Sie Idiot, wieso fahren Sie bei rot mir in die Karre." Der andere brüllt zurück:" Sie sind bei gelb schon losgefahren, Sie sind Schuld, ich zeig Sie an!" H. zurück:" Auch noch frech werden, Dir zeig ichs." Dabei holt er aus und schlägt dem anderen die Faust ins Gesicht. H. verfügte über ein hohes Stauungs- potential, welches hier als Doppelmechanismus eingezeichnet ist. Aus diesem Mechanismus brechen in Form eines breiten Pfeils Energien durch, die sich mit den mobilisierten aggressiven Energien vermischen und als nun breiter Pfeil zur Entladung kommen. Durch den Unfall wird die Energie a mobilisiert, die zunächst vom Hemmechanismus aufgefangen wird. Der vermag aber nicht diese Energie zu binden und wird deshalb aktiviert. Große Mengen Energie werden als pathogene Aggression freigesetzt und vermischen sich mit den ebenfalls ausbrechenden Energien des a Impulses. Die Energiemenge c setzt sich zusammen aus gerade mobilisierter und aus Stauung freigesetzter Energie.
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B Die gleiche Situation wie in A, jedoch mit Menschen ohne Stauungsenergie. Der Fahrer würde im ersten Schreck vielleicht schimpfen, dann aber in der Lage sein, sachlich mit dem anderen zu reden. Die mobilisierte Energie a würde ohne Zusatz anderer Energien entladen. Dabei käme es nicht zu Energieausbrüchen wie in A. Der Pfeil wäre gleichmäßig breit.
e Energieverbrauch -bindung, -umlenkung der Hemmechanismen
y ist der primäre sexuelle Impuls von hier 8 Energieeinheiten. In seine Entladungsbahn ist der Mechanismus zur Erzeugung pathogener Aggression eingeschaltet und aktiviert. Dieser Hemmechanismus lenkt nun 4 Einheiten als u so um, daß aggressivec Verhalten entsteht und nicht das Verhalten, welches ohne Umlenkung auftreten würde. Der Hemmechanismus braucht für seine Erhaltung und die Erhaltung der angekoppelten muskulösen Verkrampfungen 2 Einheiten, hier als g eingezeichnet. Diese Energien sind gebunden und treten nicht mehr in einer Entladungsart auf. 2 weitere Einheiten die zur Kommunikation der Mechanismen untereinander in der Abwehr benötigt werden und als Angst Energie freisetzen.
Hier wurde angenommen, daß der Mechanismus die mobilisierten Energien vollständig verarbeiten kann, was aber nicht generell so sein muß. Ab einer bestimmten Enerniemenge, die ihnen zugeführt wird, treten Auflösungen auf, bzw. Übergangsformen. Dadurch verändern sich dann die Relationen der Arten der Energieverarbeitung. Ob bei einer Auflösung die gebundenen Energien ganz oder nur teilweise mit entladen werden, kann ich hier nicht klären. Die Zunahme der Ausbruchsintensität bei Regressionen läßt aber den Schluß zu, daß zumindest teilweise bei Auflösungen diese Energien entladen werden.
- Funktionsweise der Hemmechanismen
a allgemein
Hemmechanismen haben die Funktion primäre Bedürfnis- befriedigungen, vor allem sexuelle zu vereiteln. Die lebensgeschichtlich ersten Erwerbungen von Hemmechanismen liegen in der frühen Kindheit zwischen 0 - 5 Jahren. Da das Wachbewußtsein erst allmählich in dieser Zeit entwickelt wird, vermag es nicht, die Hemmechanismen seinem Bereich zu integrieren. Aber auch solche Hemmechanismen, die erworben werden, wenn das Wachbewußtsein entwickelt ist, bleiben regelmäßig unbewußt, weil sie ihrer Integration und Auflösung Widerstände entgegensetzen. Integration und Widerstand gegen Auflösung gehören zusammen für fast alle Hemmechanismen, weil sie rational sich nicht legitimieren lassen. Woher stammen diese Widerstände ? Hemmechanismen lenken primäre Impulse um. Was aber als umlenkende Kraft
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wirkt, muß zuerst erzeugt werden. Der reale Druck in den Situationen, die zur Verinnerlichung von Hemmechanismen führen, bewirkt, daß die primären Impulse aufgespalten werden und die in ihnen mobilisierte Energie sich gegen sich selbst wendet. Es entsteht eine kreisförmige Energie- zirkulation, in der einerseits bestimmte Quantitäten gebunden werden, und andererseits eine Kraft gebildet wird, die den primären Impuls von seiner ursprünglichen Entladungsbahn ablenken kann, wodurch ein neues Verhalten entsteht. Diese Kraft, ein Energiebündel, ist kein "geistiges Produkt" und auch keine bloße Umstrukturierung im Gehirn sondern regelmäßig eine muskulöse Verkrampfung, in der Energiemengen gebunden werden können. Ein entsprechender Vorgang im Gehirn gehört dazu, weil die Steuerung des neuen Verhaltens nicht allein von der be- troffenen Muskelpartie ausgehen kann. In den Entstehungssituationen erfolgen die Verkrampfungen als Schreckreaktionen gegenüber realen Bedrohungen. Die Bedrohung bedeutet Energiemobilisation zwecks Produktion von Flucht- verhalten. Das ist jedoch bald abtrainiert. Die mobilisierte Energie kann zunächst nicht verarbeitet werden und erzeugt deshalb als frei flottierende Angst. Die Schreckreaktion und die zugleich mit ihr auftretende muskulöse Verkrampfung ver- arbeiten die mobilisierten Energien durch Bindung und Umstrukturierung, so daß die Angst gemildert wird oder ganz schwindet. Die Bindung der Energie ist jedoch nicht von Dauer. Es erfolgen energetische Durchbrüche, die wieder Angst erzeugen, was eine erneute Reproduktion der Schreck- reaktion zur Folge hat, solange bis die Verkrampfungen chronisch wirken und eine relative Stabilität erreicht wird. Wenn jedoch mehr Energie mobilisiert wird als in davor- liegenden Situationen durch Hemmechanismen verarbeitet werden konnte, kommt es zu Durchbrüchen und zur Bildung neuer Verkrampfungen und neuer Hemmechanismen. Die Verarbeitung der primären Impulse durch Hemmechanismen und Verkrampfungen hat zur Folge, daß kein Verhalten entwickelt werden kann, welches der direkten Entladung des primären Impulses entspräche. Daher wird in den Reproduktionssituationen die Verarbeitungsweise wiederholt, die eingeübt werden konnte: die Umstrukturierung durch Hemmechanismen.
Die Auflösung der Hemmechanismen wird durch zwei Vorgänge verhindert, deren erster eben genannt wurde: es gibt keine Möglichkeit sich anders zu verhalten, weil ein anderes Verhalten nicht bekannt ist. Der schwerwiegendere Vorgang ist der Umstand, daß die Auflösung der Energiebündel zur Freisetzung von Enengie, also zunächst zur Angst führt. Die Angst erzeugt aber genau die Reaktionen, die die Ent- stehung der Hemmechanismen bedingten, sodaß am Ende wieder das produziert wird, wogegen sich der Versuch richtete.
Anmerkung zu Freud: Die Freudsche Einteilung in Es, Ich, Überich sowie: unbewußt, latent bewußt und wachbewußt, kann nicht übernommen werden. Das Freudsche "Es" ist ein Konglomerat von primären und sekundären
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Bedürfnisstrukturen. Es hat aber keine Entsprechung in der Wirklichkeit. (Zusatz 20: Hierzu Zusatz 4 und die Fortsetzung der Strukturmodelle von 2000 )
Unter "Es" sind Prozesse summiert, die funktional getrennt werden müssen. Z.B. gehört für Freud der aggressive Impuls ebenso zum Es wie der sexuelle. Aber der aggressive Impuls gehört nicht zur primären Bedürfnisstruktur, so daß er vom sexuellen auch begrifflich geschieden werden muß. Nach dem Grundmodell gehört der sexuelle Impuls zum biologischen Kern, der aggressive aber zur Ichorganisation bzw. bei Tieren zur Organisation der sekundären Verhaltens- weisen. Indem Freud beides unter dem "Es" zusammenfaßt, verschwindet die Möglichkeit, pathogene Aggression zu begreifen. Logischerweise mußte ihm deshalb in seinen Spät- schriften alles durcheinandergehen: auch was er selber einmal klar sah. Aus der Aggression, die durch Frustration entsteht, wurde schließlich der Mythos vom Todes- und Destruktionstrieb. Ebenso ist die Konstruktion des "Überich" unbrauchbar. Es gibt keine Instanz, die dem Ich gegenübertritt und als eine Art zweites Subjekt das Verhalten bestimmt. Gewissen bzw. ähnliche, dem Überich zugeschriebene Funktionen setzen sich zusammen aus verschiedenen Mechanismen, die dem Betroffenen unüberschaubar sind. Der "Gewissensbiß" und das "Überich" sind mißlungene Versuche, diese Mechanismen als eine separate Instanz zu bregreifen, wobei gerade die Frage der einzelnen Funktionen unter den Tisch fällt. Das "Überich" wird zum Mythos und trägt als oft verwendete Leerformel zur allgemeinen Verwirrung in der Tiefenpsychologie bei.
Entstehung und Funktionsweise der Hemmechanismen graf11.jpg
Zu 1: Der primäre Impuls a richtet sich in der Form von Annäherungsverhalten auf das Lustobjekt um mit ihm sexuelle Befriedigung zu erlangen. Vor dem Lustobjekt ist aber ein HindernIs aufgerichtet, so daß der Impuls a nicht realisiert werden kann. Z.B.: Ein Junge von 4 Jahren zeigt gegenüber dem Lustobjekt, der Mutter (Zusatz 21: oder einer anderen Frau) Annäherungsverhalten. Sobald dieses eindeutig sexuell gefärbt wird, unterliegt es der Unterdrückung von Seiten der Eltern. Liebesentzug oder Strafandrohung bilden ein Hindernis, welches die sexuelle Befriedigung vereitelt. Das Hindernis erzeugt also einen Konflikt zwischen sexuellem Wunsch und der zu erwartenden Unlust, die folgt, wenn der Wunsch nicht auf- gegeben wird.
Zu 2: Der Konflikt K 1 wird hier so bewältigt, daß der sexuelle Wunsch und mit ihm der Impuls a verdrängt wird. Diese Verdrängung erfolgt dadurch, daß die Energie gegen sich selbst gerichtet wird, den a Impuls aufspaltet und einen neuen, vom
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ursprünglichen Ziel abgelenkten sekundären Impuls b hervor- bringt. Dieser sekundäre Impuls richtet sich als aggressive Verhaltensweise gegen das nächstliegende Unlustobjekt. Das könnte z.b. der Vater sein.
Zu 3: Die Umstrukturierung des a Impulses zum sekundären b Impuls kann sich in der Form eines selbstständigen Hemmechanis- musses verankern, wenn die oben beschriebene Situation häufig auftritt und das aggressive Verhalten nicht in eine, letztlich doch noch erreichbare Befriedigung mit dem Lustobjekt einmündet. Wenn sich ein Hemmechanismus verankert hat, kann das reale Hindernis abgeschwächt werden oder auch fortfallen; es wird dennoch der sexuelle a Impuls zum agggressiven b Impuls unstrukturiert. Hier darf der aggressive b Impuls nicht realisiert werden. Entsprechendes Verhalten wird durch Strafe oder Strafandrohung vereitelt. Wiederum erfolgt eine Aufspaltung der Energie, indem der b Impuls sich gegen sich selbst wendet. Der Konflikt K 2 zwischen dem Aggressions- wunsch und der Strafe, die erfolgen würde, wenn das aggressive Verhalten nicht aufgegeben wird, führt hier zur Au£gabe des aggressiven Verhaltens. Die Umstrukturierung des b Impulses zum c Impuls erzeugt nun unterwürfiges bzw. masochistisches Verhalten, welches nicht mehr durch Hindernisse an der Realisierung gehindert wird.
Zu 4: Die Umstrukturierung des b Impulses zum c Impuls erfolgt hier automatisch durch einen verinnerlichten Hemmechanismus, der auch dann unterwürfiges Verhalten erzeugt, wenn die Behinderung gegenüber sexuellem und aggressivem Verhalten fortgefallen ist. Man sieht zwei Hemmechanismen, die beide durch häufige Wiederholung der Entstehungssituationen entstanden sind und nun ein Verhalten im Sinne des c Impulses erzeugen, obschon ein anderes Verhalten möglich wäre.
Energetische Entladungsversuche sind die Folge einerseits einer Bedürfnisspannung, andererseits eines Anreizes von außen oder aus der Person selbst. Dabei werden die in den Entladungs- bahnen eingebauten erworbenen Hemmechanismen aktiviert und sekundäre Impulse aus den primären erzeugt. Bei den sexuellen Impulsen ist leicht festzustellen, welche Hemmechanismen in welchen Situationen aktiviert werden. Innere Spannung und äußere Anreize stehen zueinander im funktionalen Bezug: Je höher die innere Spannung, umso geringer muß der äußere Anreiz sein, damit der Entladungsversuch erfolgt; und umgekehrt: je geringer die innere Spannung, umso stärker muß der äußere Anreiz sein, damit es zum Entladungsversuch kommt. Jedoch ist der Entladungsversuch nicht gleichzusetzen mit dem Verhalten, weil die Abwehr Energien bindet und dabei nicht alle Energie zu sichtbarem Verhalten umgesetzt werden kann. Durch die Stauungsenergie bestimmt sich die Größe der inneren Spannung nicht mehr allein aus Anreiz und konstant produzierter Energie. Bei sehr hohen Stauungspotentialen wird der Auslöser relativ unbedeutend, weil schon geringfügige
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Reize von Außen genügen um Entladungsversuche anzuregen. Dabei wirft sich die Frage auf, durch welche Umstände die Hemmechanismen aktiviert werden. Einerseits, wie bereits ausgeführt, durch die Reproduktionssituationen, aber vermutlich auch dann, wenn in der Abwehr solche Mechanismen aktiviert werden, die im funktionalen Zusammenhang mit anderen Mechanismen stehen. Z.B würde die Aktivierung masochistischer Verhaltensweisen auch zu aggressiven Nuancen führen, wenn es einen funktionalen Zusammenhang zwischen dem Masochismus- mechanismus und dem Aggressionsmechanismus gäbe. Die Hemmechanismen werden eben nicht nur dann aktiviert wenn die Entstehungssituatienen reproduziert werden, sondern auch, wenn durch den funktionalen Zusammenhang Querver- bindungen zu benachbarten aktivierten Mechanismen geschaffen werden. Die einfache Beobachtung hilft insofern weiter, als zu sehen ist, daß in relativ ähnlichen Situationen verschiedene Menschen auch verschieden reagieren. Die erste Antwort dafür wären Differenzen des energetischen Stauungspotentiales, gesetzt es handelt sich beim Vergleich um die Aktivierung der gleichen Mechanismen. Der eine mag mehr in sich zurück- gestaut haben, der andere weniger. An der Heftigkeit von Wutausbrüchen kann man sehen, daß zuweilen einer, der leicht aufbraust bei bestimmten Anlässen ruhig bleibt, während ein anderer gerade bei diesen Anlässen "hochgeht", mag er sonst der ruhigere Typ sein. Es entscheiden da offensichtlich nicht nur die Stauungsmengen, sondern auch die Art und Weise, in der die Hemmechanismen in der Abwehr eingebaut sind: die Art und Weise ihrer Verknüpfungen mit anderen Mechanismen. Der erste Aspekt ist der energetische, dieser neue wäre der topologische. Nur unter Hinzuziehung des topologischen Aspekts können bestimmte Unterschiede im Verhalten begriffen werden.
Die Größe der Hemmechanismen bestimmt sich also aus: 1. der Menge der gestauten und umstrukturierten Energie 2. der topischen Ausdehnung im psychischen Apparat, d.h. der Summe der Verknüpfungen, die zur Aktivierung des jeweiligen Mechanismusses führen können.
b Erwerbung von Hemmechanismen in den verschiedenen Lebensaltern
Hemmechanismen können in jedem Lebensalter erworben werden, wenn auch die entscheidendsten in der frühen Kindheit verinnerlicht werden. Die psychoanalytischen Materialien lassen den Schluß zu, daß die in den Hemmechanismen gebundene Energiemenge bei angenommen gleichen Entstehungssituationen für jedes Lebensalter unterschiedlich ist, zumal ja die Ichorganisation mitsamt ihrer Abwehrformation die Dynamik der Verinnerlichung jeweils mitbestimmt. Demnach sind dIe ältesten Hemnnechanisnen energiereicher als die jüngeren.
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c Verstärkung von Hemmechanismen durch wiederholte Reproduktionssituationen
In Reproduktionssituationen werden die Mechanismen aktiviert und dabei führt der "Erfolg" dieser Aktivierung zu einer Verstärkung der Hemmechanismen und des ihnen zuge- hörenden Verhaltens. Die Hemmechanismen werden im Laufe der häufigen Wiederholungen der Reproduktionssituationen energiereicher.
d Abschwächung micht aktivierter Hemmechanismen im Laufe des Lebens
Hemmechanismen, die nicht in Reproduktionssituationen aktiviert bzw. die so selten aktiviert werden, daß ihre Abschwächung nicht deutlich gebremst wird, verlieren im Laufe der Jahre an energetischem Umfang.
(Zusatz: 22 Eines der wichtigsten Theoreme der Struktur- modelle. Es eröffnet das Verständnis verschiedener, von der Psychoanalyse Freuds abweichenden Beobachtungen.)
e Die Verhältnisse zwischen: Erwerbung-Verstärkung Erwerbung-Abschwächung Verstärkung-Abschwächung
Die idealisierten Kurven verdeutlichen folgende Hypothesen: Je älter der Mensch ist, wenn er einen Hemmechanismus erwirbt, um so weniger Energie kann mit ihm gebunden werden. Da die Zahl der möglichen Reproduktionssituationen mit steigendem Alter abnimmt, gerechnet vom Zeitpunkt der Verinnerlichung bis zum Tode, können spät erworbene Hemmechanismen nie so große Energiemengen binden, wie entsprechende, aber früher erworbene Mechanismen. Dabei vorausgesetzt, daß die Zahl der Reproduktionssituationen pro Lebensjahr für jedes ungefähr gleich ist. Die in der frühen Kindheit erworbenen Hemmechanismen können daher die größten Energiebeträge binden, einerseits, weil noch viele Lebensjahre mit vielen Reproduktionssituationen folgen können, andererseits, weil bereits die Verinnerlichung mit hohen Energiebeträgen erfolgt ist. Die relativ spät erworbenen Hemmechanismen unterliegen aller- dings nicht einer so lange wirkenden Abschwächung wie die früh erworbenen. Dafür sind die früh erworbenen energiereicher, und die Abschwächung muß lange Zeit wirken, bis sie deutlich wird.
Die Menge der Reproduktionssituationen, bei je ähnlicher Intensität der Reproduktion, und damit die Verstärkung der Hemmechanismen, kann von der Abschwächung vollkommen neutralisiert werden, so daß der Hemmechanismus in jedem Lebensalter energetisch gleich stark ist. Das wäre der Fall, wenn die beiden Kurven: "Verstärkung" und "Abschwächung"
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zugleich zuträfen. Wenn z.B. im Alter von 25 Jahren die Verstärkung + 2 Einheiten und die Abschwächung - 2 Einheiten betrügen, dann wäre der Mechanismus energetisch unverändert geblieben, obschon Reproduktionssituationen durchlebt worden waren. Dieser Fall dürfte nur sehr selten vorkommen. In der Regel genügen nämlich nur wenige Reproduktions- situationen, um zu einer Verstärkung des Hemmechanismusses zu führen. Die Abschwächung könnte nur auftreten, wo so gut wie nie Reproduktionssituationen vorkommen.
- Kompensationsmechanismen: a energiebindende graf12.jpg
A: In diesem Modell würde sexuelles Annäherungsverhalten auftreten, daß jedoch durch den Hemmechanismus zu pathogen aggressivem Verhalten umstrukturiert wird. Erfahrungen und Einsichten haben jedoch hier dazu geführt, daß das Verhalten begrenzt gesteuert wird und nicht gemäß der b Richtung pathogen aggressiv bleibt. Das Verhalten wird durch Kompensation der b Richtung in die c Bahn gelenkt und ist dadurch weniger aggressiv aber etwas mehr sexuell gefärbt. Der Kompensationsmechanismus bindet Energien, so daß die Entladung c gegenüber der b Entladung energetisch schwächer ausfällt. Das ist Z.B. gegeben, wenn man "sich beherrscht", also einen bevorstehenden Aggressionsausbruch in sich zurückhält oder in seiner Aggressivität bremst. Der Hemmechanismus bindet Energien, so daß die b Entladung schwächer ist als die a Entladung. Die Kompensation bindet weitere Energien, so daß es sich um eine energiebindende Kompensation handelt.
(Zusatz 23: Wenn der dem Aggressionsmechanismus aufgesetzte Kompensationsmechanismus energetisch schwach in Relation zum Aggressionsmechanismus ist, wird die Ablenkung vom aggressiven Verhalten schwächer ausfallen, als bei einem relativ energiereichen Kompensationsmechanismus.)
B: Hier die Fortsetzung der unter A begonnenen Kompensation. Es wird ein größerer Energiebetrag der b Richtung gebunden und dadurch die Entladungsrichtung noch mehr der ursprüng- lichen sexuellen angenähert. Das Verhalten ist sexuell -aggressiv. Z.B. da gegeben, wo pathogen aggressive Aktionen sehr stark sexuellen Charakter tragen: Schläge auf den Po oder aggressiv gefärbte Zärtlichkeiten: Kratzen beim Streicheln.
- Kompensationsmechanismen: b energiefreisetzende
C: Hier würde sexuelles Annäherungsverhalten auftreten, wenn nicht der Hemmechanismus in der a Entladungsbahn läge. Das Verhalten ist der b Bahn gemäß pathogen aggressiv, aber durch Erfahrungen und Einsichten zur c Bahn kompensiert. Diese Kompensation färbt aber das aggressive Verhalten nicht nur sexuell wie in A und B, sondern es finden tatsächlich sexuell befriedigende Aktionen statt, so daß ursprünglich im
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Hemmechanismus gebundene Energien freigesetzt und entladen werden können. Der Kompensationsmechanismus bindet keine Energien zusätzlich sondern setzt Energien frei. Es handelt sich daher um eine energiefreisetzende Kompensation.
D: Hier die Fortsetzung der unter C begonnenen Kompensation. Das Verhalten ist eindeutig sexuell und lediglich noch etwas aggressiv gefärbt. Dabei werden die im Hemmechanismus gebundenen Energien in sexuellen Entladungen fast gänzlich verbraucht. Das ist gegeben, wenn durch Erziehung bedingte sexuelle Blockierungen abgebaut werden konnten und sexuelle Befriedigung möglich ist. Die Entladung der c Bahn ist energiereicher als die der b Bahn, wenn auch noch schwächer als die der ursprünglichen a Bahn.
- Rationalisierungsmechanismen
Die Rationalisierungsmechanismen sind die Teile der Abwehr, die in den bewußten Bereich der Ichorganisation hineinragen und dem Betroffenen als rationale Denkmechanismen, also als "normaler" Teil seines Ichs vorkommen. Sie haben die Funktion, die von den Hemmechanismen gesteuerten Handlungen und Vorstellungen dem bewußten Bereich akzeptabel bzw. notwendig erscheinen zu lassen. Hier sieht man einen Rationalisierungs- mechanismus, der dem Hemmechanismus "pathogene Aggression" aufgesetzt ist und die aggressiven Handlungen und Vorstellungen dem bewußten Teil des Ichs als etwas rational Notwendiges vorstellt. Z.B. ein sexuell unbefriedigter junger Mann trifft täglich an seiner Arbeitsstelle im Büro eine hübsche junge Frau. Er wagt aber nicht sie anzusprechen. Seine Lust auf diese Frau wird nun durch den verinnerlichten Hemmechanismus der pathogenen Aggression in Haß umgewandelt, der jedcch nicht offen ausgelebt werden kann. Der junge Mann verwandelt seine Aggressionen in subtile Sticheleien und solche Aggressionen, die im Rahmen des Büros erlaubt sind. Wenn die junge Frau sich vertippt, dann schreit er sie sehr heftig an usw. Der Rationalisierungsmechanismus vermag, die ihm aufkommenden Zweifel zu zerstreuen, ob sein Verhalten angemessen ist. Der junge Mann sagt dann zu sich selbst vielleicht:" Gestern hab ich ihr noch ruhig gesagt der Brief an Y wäre sehr wichtig und muß vollkommen fehlerfrei sein, und heute hat sie dennoch einen dicken Fehler gemacht. Nachdem ich sie angeschrien habe ging es ohne Fehler. Die braucht ab und zu eine feste Hand." Der Rationalisierungsmechanismus rationalisiert die vom Hemmechanismus gesteuerte Handlung. Dadurch wird die pathogene Entladungsbahn verstärkt, denn es sind ja mit der Rationalisierung Gründe gefunden, die die pathogene Handlung rechtfertigen. Mit der Zeit können deshalb die pathogenen Entladungen verstärkt stattfinden. Es kommt vielleicht zum Ausbau des entsprechenden Hemmechanismusses der "pathogenen Aggression".
Im Modell der vorigen Seite ist die Entladung auf der a Bahn durch den Hemmechanismus blockiert. Es finden deshalb die
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Entladungen auf der aggressiven b Bahn statt. Mit der Erwerbung des Rationalisierungsmechanismusses kann die Entladung der b Bahn intensiviert werden. Das heißt hier, daß die Umformungen der sexuellen Impulse zu pathogener Aggression dem bewußten Teil der Ichorganisation mehr und mehr rational berechtigt erscheinen. Dadurch können situationsbedingte oder anderweitig vorhandene Hemmungen gegenüber aggressiven Aktionen abgebaut und das Verhalten im aggressiven Sinne verstärkt werden. Die Entladungen unter dem Einfluß eines Rationalisierungsmechanismusses finden auf der c Bahn statt, als eine dynamisch verstärkte Aggression. Wenn das Verhalten der b Bahn ambivalent war, das heißt hier, daß noch sexuelle Komponenten vorlagen, so führt die Verschiebung der Entladung zur c Bahn dazu, daß die sexuellen Teile mehr und mehr ver- schwinden und das Verhalten eindeutiger aggressiv wird. Im Gegensatz dazu der Kompensationsmechanismus: Er bewirkt, daß die Entladungen der ursprünglichen a Bahn angenähert werden, was hier bedeutet, daß das Verhalten die aggressiven Komponenten verliert und sexuell wird.
Rationalierungs- und Kompensationsrmechanismen gibt es nicht nur als Überbau zum Hemmechanismus der pathogenen Aggression. Auch alle anderen Hemmechanismen können rationalisiert bzw. kompensiert worden. Der Mechanismus der pathogenen Aggression ist der erste Hemmechanismus in der menschlichen Lebensgeschichte überhaupt, weshalb er relativ einfach im Modell erklärt werden kann. Die anderen Hemmechanismen sind komplizierter in der Abwehr eingebaut. Sie tauchen deshalb hier nicht als Beispiele auf. Das wird erst möglich, wenn die nachfolgenden Ausführungen zur Verschachtelung der Abwehr, der Schichten in der Ichorganisaticn usw. besprochen worden sind.
- Steuerungsproblene der Denkmechanismen
Bewußtes begriffliches Denken erwerben sich die Menschen unseres "Kulturkreises" und auch darüber hinaus erst, nachdem bereits muskulöse Panzerungen und Hemmechanismen verinnerlicht worden sind. Der Aufbau der Ichorganisation erfolgt nicht gemäß den Bedürfnissen der Menschen, sondern vor allem gemäß den Bedürfnissen der repressiven Gesellschaft. Daher ist die Ichorganisation nicht rational strukturiert, sondern es gibt nur partiell rational strukturierte Bereiche, eine mehr oder minder entwickelte oberflächliche rationale Schicht. Der Ausbau dieser Schicht wird in erster Linie durch die verinner- lichten Hemmechanismen verhindert; je nach Klassenlage kommen dazu die Einflüsse der Manipulationsindustrien. Die Hemmechan- ismen verstärken jeden sie berührenden Gedanken energetisch negativ oder positiv. Ein Gedanke der ein einem Hemmechanismus konformes Verhalten hervorbringt, wird mit positiven Gefühlen besetzt, ein Gedanke der die Produktion des Hemmechanismusses einzuschränken droht, wird durch Ängste unterbunden bzw. in seiner Richtung umgekehrt oder aber "kalt", d.h. er geht den Betreffenden nichts mehr an, bleibt für das Verhalten unwirksam. Das geht einher mit vielfältigen Verdrängungs-
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und Rationalisierungsprozessen, die den Eindruck erwecken, es handele sich um rationale Gedanken und rationale Handlungen des Menschen. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich dann, daß es sich um eine Scheinrationalität handelt bzw. eine Rationalität der perfekten Anpassung. Der gesellschaftliche Widerspruch zwischen elementaren Bedürfnissen und der Verweigerung ihrer adäquaten Befriedigung, führt im "psychischen Bereich", also im Menschen selber ebenso zu Widersprüchen, so daß tatsächlich auch solche rationalen Mechanismen entwickelt werden, die die Befriedigung dieser elementaren Bedürfnisse anstreben. Es zeigt sich dabei häufig, daß die richige Einsicht nicht in die Tat umgesetzt werden kann. Der Grund dafür ist, daß die Denk- mechanismen energetisch viel schwächer besetzt sind als die Hemmechanismen. Dafur gibt es wiederum Gründe: Einerseits, weil die Denkmechanismen in der Regel erst sehr spät erworben werden und daher die Energieversorgung dwrch die zwischen- gelagerte Abwehr erschwert wird, andererseits, weil die rationalen Denkmechanismen nicht über Energiereservate verfügen wie die Hemmechanismen, nämlich in Form der muskulösen Panzerungen. Dennoch entwickeln viele Menschen Methoden, mit denen auch solche schwer durchsetzbaren Gedanken in die Tat umgesetzt werden können. Eine dieser Methoden ist die Bildung von Kompensationsmechanismen. Es werden behutsam solche Erfahrungen gemacht, die die energetische Basis der Abwehr unterhöhlen. Dabei ist jeder Schritt so klein bemessen, daß er gegen die inneren Hemmungen doch durchgesetzt werden kann. Eine andere Methode ist die Zuhilfenahme der Abwehr selbst. Bestimmte Hemmechanismen werden aktiviert um die Funktion anderer zu unterbinden. Das geschieht in der Regel so, siehe Modell B nächste Seite, daß der Betroffene sich in eine Situation begibt, die den Hemmechanismus, der abzubauen ist, zunächst nicht aktiviert. In dieser Situation wird dann ein anderer Hemmechanismus aktiviert, der verhindert, daß der abzubauende in Aktion tritt.
Zum Beispiel hier B: Gehard hat Hemmungen Mädchen anzu- sprechen oder sich mit ihnen zu treffen. Trotz seiner 25 Jahre hatte er noch keinen sexuellen Kontakt mit ihnen. Der Grund dafür ist ein starker, auf Lustangst aufgebauter Mechanismus, in A und B: M 1, welcher pathogene Aggression hervorbringt, wenn Lust mobilisiert wird. Wofern er diese Aggressionen unterdrükt, entsteht Angst. Diese Angst bringt Ihn stets dazu wegzulaufen, wenn sich eine Gelegenheit bietet, mit einem Mäddchen Kontakt zu bekommen. Es kommt eines Tages über sein Problem zu einem Gespräch mit einem engen Freund. Dieser nimmt ihn daraufhin mit zu einem Tanzlokal. Im Laufe des Abens kommt es zur "Damenwahl", bei der auch Gerhard zum Tanz aufge- fordert wird. Da er Angst hat sich ungeschickt zu benehmen, lehnt er die Aufforderung ab. Dadurch entsteht Empörung unter seinen Tischnachbarn, so daß Gerhard die zweite Aufforderung zum Tanz annimmt. Er kommt mit dem Mädchen beim Tanzen ins Gespräch, was ihn sehr ermutigt. Gerhard hat gespürt, daß es eine Chance für ihn bedeutet, wenn er mit dem Freund in das Tanzlokal geht. Der Denkmecha- nismus D im Modell A, bewirkt eine Beeinflussung der Richtung
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b. Das Vorhaben selbst hat natürlich nicht in dem Maße Angst erzeugt wie der unmittelbare Kontakt zu einem Mädchen. M 1 wird daher nIcht voll aktiviert. Gerhard konnte auch nicht wissen, daß er gezwungen sein würde, seine Ängste später völlig zu überwinden. Als es zur Aufforderung zum Tanz kommt, wird die Abwehr M 1 aktiviert, jedoch wird bei der zweiten Aufforderung aufgrund der Empörung der Nachbarn ein zweiter Hemmechanismus M 2 aktiviert, welcher ein Verhalten im Sinne der Abwehr und M 1 unmöglich macht weil Gerhard Angst hat noch einmal unhöflich aufzufallen. So wird er gezwungen seine Angst zu überwinden. Der Hemmechanismus M2, welcher Angst vor unhöflichem Auffallen erzeugt, steuert gegen den Hemmechanis- mus M1, welcher die Fluchttendenz beim Herannahen des Mädchens erzeugte. Das Verhalten wird nun im Sinne des Denkmechanis- musses D geprägt, der zum Inhalt den Wunsch hat, mit einem Mädchen Kontakt zu bekommen. Dieser Denkmechanismus allein wäre energetisch zu schwach gewesen, um die Angst aus M1 zu überwinden. Erst die "Abwehr gegen Abwehr Steuerung" durch M2 gegen M1 vermag die Energien umzulenken.
- Erwartungshaltungen
Lernen, Verhaltensänderungen und etwas Erwarten können, gehören zusammen. Beim Lernen und den Verhaltensänderungen wird die Mitwirkung der unbewußten Bereiche der Ichorgani- sation nicht ohne weiteres sichtbar. Es scheint, daß wir hauptsächlich bewußt lernen und bewußte Erfahrungen machen, und demzufolge unsere Erwartungen auch bewußte Erwartungen wären. Das ist aber nicht so. An einfachen Beispielen wird das sichtbar: Der Eine ist beim nächtlichen Gewitter sehr ängstlich und zeigt entsprechende ängstliche Erwartungs- haltungen, ein Anderer fürchtet sich aber kaum. Jede Erwartungshaltung für sich betrachtet, könnte als bewußte Erwartung verstanden werden. Eine von beiden ist aber irrational, weil die äußeren Anlässe, wie hier im Beispiel, gleich waren. Entweder verhält sich hier der Ängstlichere rational oder aber der andere. Warum dieses verschiedene Erwartungsverhalten bei den gleichen äußeren Anlässen ? Davon ausgehend, daß bei diesem Beispiel beide die gleichen praktischen Erfahrungen mit Gewittern gemacht haben, muß der Unterschied in den Betroffenen selber zu suchen sein. Rasches Auftreten von Angst weist auf viel frei flottierende Energie hin, und das wiederum bedeutet hohes energetisches Stauungspotential. So wäre hier die Antwort möglich: Der Ängstlichere verfügt über ein höheres energetisches Stauungspotential als der Furchtlosere in Verbindung mit einem Mechanismus, der relativ große Energiemengen zur freien Energie, also zur Angst freisetzt. Das könnte ein "Realangst- mechanismus" sein, wie ich ihn auf Seite 18 besprochen habe. Ein anderes Beispiel könnte gerade das Umgekehrte zeigen, daß nämlich der Ängstlichere mit seiner Angst sich den objektiven Anlässen am Angemessendsten verhält und der Furchtlosere irrational ist, weil er die Gefahr z.B. nicht einschätzen kann. Das Erwartungsverhalten wird also immer von zwei Seiten
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bestimmt; einerseits der äußere Anlaß und andererseits die innere Beschaffenheit des Betroffenen. Je mehr nun die Abwehr die Erwartungshaltung bestimmt, umso mehr treten äußere Anlässe relativ in den Hintergrund, und das Verhalten erscheint übertrieben oder völlig irrational. Die Dynamik der Erwartungshaltung wird deshalb keineswegs nur von bewußten Einschätzungen und realen äußeren Anlässen bestimmt, sondern eben maßgeblich von der Art und Weise, in der die Abwehr Einschätzungen färbt und beeinflußt. Mehr noch, auch die qualitative Beschaffenheit der Erwarturgshaltung wird von der Abwehr maßgeblich bestimmt. Das geht soweit, daß die Abwehr beim Einen etwas aufkeimen läßt, was beim Anderen überhaupt nicht auftritt, bei gesetzt gleichen Anlässen. Ich denke an die Spinnenphobie. Das Auftreten einer Spinne erzeugt panische Ängste und damit Erwartungen, die objektiv irrational sind. Die Abwehr bestimmt, was ich erwarte und wie ich die Ereignisse verarbeite. Sie bestimmt auch das, was für mich Realität ist. Dadurch bekommt das Erwartungsverhalten für die Analyse der Psyche eine große Bedeutung, weil in ihm sich die gesammte Abwehr aktiv nieder schlägt.
- Energiespeicherung und muskulöse Panzerung /ergänzend die Analysen 7-12/
Die Hemmechanismen, als in Gehirn angelegte Steuerungsgruppen verstanden, können nur sehr begrenzte Energiemengen direkt speichern. Wilheln Reich entdeckte die Energiespeicher für die Hemmechanismen und die gesammte psychische Abwehr in den muskulösen Verkrampfungen, die die verschiedensten Muskel- gruppen betreffen können. Die muskulösen Verkrampfungen können die Energiemengen binden und verarbeiten, die bei der Unter- drückung und Verdrängung der elementaren Triebimpulse frei werden. "Rasch hellten. sich einige entscheidende Fragen der Seele-Körper Beziehung auf: Die charakterlichen Panzerungen erscheinen nun als funktionell identisch mit muskulärer Hypertonie. Der Begriff "funktinell identisch" den ich neu einführen mwßte, besagt nichts anderes, als daß muskuläre und charakterliche Haltungen im seelischen Getriebe dieselbe Funktion haben, einander ersetzen und gegenseitig beeinflußt werden können. Im Grunde sind sie nicht zu trennen, in der Funktion identisch. Annahmen, die sich durch Vereinheitlichung von Tatsachen ergeben, führen sofort weiter. Wenn die charakt- erliche Panzerung, sich durch die muskuläre Panzerung und umgekehrt ausdrücken lassen konnte, dann war die Einheit der seelischen und körperlichen Funktionen im Prinzip erfaßt und konnte damit praktisch lenkbar werden. Von nun an konnte ich mich dieser Einheitlichkeit beliebig oft praktisch bedienen. Reagierte eine charakterliche Bremsung auf psychische Beein- flussung nicht, so nahm ich die entsprechende körperlich- muskuläre Haltung zu Hilfe und umgekehrt. Kam ich an eine störende körperlich-muskuläre Haltung schwer heran, so arbeitete ich an ihrem charakterlichen Ausdruck und konnte sie lockern." /W.Reich :Funktion des Orgasmus S.233/
Für das Grundmodell ist daraus die Konsequenz, daß Hemmechan- ismen und muskulöse Panzerungen als direkt zusammengehörend
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dargestellt werden müssen. Z.B. für den Mechanismus pathogene Aggression:
funktionell identisch
Andererseits, wenn die Gesammtpanzerung gezeigt werden soll, müssen die muskulösen Panzerungen zusammenhängend unterhalb der Schicht der Hemmechanismen gezeigt werden. Denn vom topischen Gesichtspunkt her gehören sie nicht in dieselbe Schicht wie die Hemmechanismen. Z.B. bei der Darstellung einer Abwehr, die sich aus drei Hemmechanismen zusammensetzt:
topisch getrennt
Die muskuläre Panzerung ist segmentär, also ringförmig ange- ordnet. "Bezeichnen wir den ersten Panzerring als den okulären, den zweiten als den oralen Panzerring. Im Bereiche des okulären Panzersegments handelt es sich um eine Kontraktur und Immobil- isierung aller oder fast aller Muskeln am Augapfel, der Augenlider, der Stirne, der Tränensäcke etc... Ich fasse also als Panzersegnente diejenigen Organe und Muskelgruppen zusammen, die miteinander in funktionellem Kontakt sind, die einander in der emotionellen Ausdrucksbewegung mitzureißen vermögen. Die segmentäre Anordnung der Panzerung verläuft immer und ausnahmslos quer, niemals längs des Rumpfes... Das zweite oder orale Panzersegment umfaßt die gesamte Kinn-, Schlund-, und obere Nackenmuskulatur inklusive des Mundring- muskels... Die Panzerung des dritten Segments bedient sich wesentlich der tiefen Halsmuskulatur, des Platysmas und der Mm.sternocleido- mastoidei. Das vierte Panzersegment: Die Brustpanzerung drückt sich in Hochhaltung des Knochenapparats und in Unbeweglichkeit des Brustkorbs aus... An der Panzerung des Brustkorbes beteiligen sich sämtliche Interkostalmuskeln, die großen Brustmuskeln /Pektorales/ , die Schultermuskeln (Deltoiden) und die Muskelgruppe an und zwischen den Schulterblättern /Latissimus dorsi/. Das fünfte Panzersegment verläuft als Kontraktionsring vorne über die Magengrube, den unteren Teil des Brustknorpels, die untersten Rippen nach hinten zu den Ansatzstellen des Zwerch- fells, also zum 10. bis 12. Brustwirbel. Es umfaßt wesentlich das Zwerchfell, den Magen, den Solarplexus mit der davor- liegenden Pankreasdrüse, Leber und zwei in jeden Falle deutlich vorstehenden Muskelsträngen längs der Wirbelsäule an den untersten Brustwirbeln. Das sechste Panzersegment: Der Panzer des Beckens umfaßt in den meisten Fällen so gut wie alle Muskeln am Becken. Das Becken als ganzes ist nach hinten gezogen und steht hinten hervor. Der Bauchmuskel oberhalb der Symphyse ist schmerzhaft. Ebenso die Adduktoren der Oberschenkel, die oberflächlichen ebenso wie die tiefgelegenen. Der Afterringmuskel ist kontrahiert, der After deshalb hochgezogen..." Auszug: Wilhelm Reich "Von der Psychoanalyse zur Orgonbio- physik" in "Charakteranalyse" K&W 191 Seiten:485/511
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- "Homo normalis" des abendländischen Kulturkreises der Gegenwart graf14.jpg
Das Modell W.Reichs
Das Subjekt ist als Kreis dargestellt, in dessen Mittelpunkt der biologische Kern liegt. Um ihn herum liegen weitere Kreise, die das System der Panzerungen in Gestalt von Schichten darstellen. Der primäre Impuls a kommt aus dem biologischen Kern, wird in den muskulären Panzerungen gebunden, umstrukturiert, aufgespalten und teilweise freigesetzt als: sekundärer Impuls b, dessen Richtung von der ursprünglichen Richtung des primären Impulses abgelenkt ist und ein neurotisches Symptom erzeugt, dazu als frei flottierende Energie Angst.
Im repressiven Erziehungsprozeß erwirbt das Individuum eine Vielzahl von muskulösen Panzerungen, Hemmechanismen und Denkmechanismen /dieser Begriff ist nicht von Reich/. Alle zusammen bilden als gemeinsam funktionierendes Ganzes die "Psyche". Das Schema gilt jedoch nicht nur für "psychisch Kranke" sondern ebenso für den "Normalfall". "Die seelische Erkrankung ist eine interirdisch wirkende Endemie der Bevölkerung. Die gesamte Menschheit ist seelisch krank." Reich w.o S.nn
(Zusatz 24: Von Nietzsche stammt der Begriff des Menschen als des relativ kranken Tieres, der hier anklingt. Allerdings ist der Rekurs auf eine "gesunde Menschheit", die Reich in seinem Text :"Der Einbruch der Sexualmoral" postuliert allenfalls von polemischem Wert. Abgesehen von einigen romantischen Südseeidyllen scheint die gesamte menschliche Vorgeschichte kaum "gesünder" verlaufen zu sein. Es ist hier wie mit dem "Urkommunismus" von Engels eher an Kontrast- bildung, denn an Tatsächlichkeit zu denken. Dies schmälert nicht die Gültigkeit der Reichschen Analyse des faschistoiden Zwangscharakters, der sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts in der Tat endemisch ausbreitete und Roosevelt dazu brachte, von einer gefährlichen Epedemie zu sprechen, die einzudämmen sei. Diese Gefahr ist nicht gebannt und kann jederzeit wieder aufflackern.)
Hier das Reichsche Modell in seiner, ans Grundmodell angepaßten und differenzierten Gestalt. Die Schichten sind durch Lücken unterbrochen, sodaß Blöcke entstehen. Innerhalb des Kreises, unterhalb der Oberfläche des Subjekts, direkt an der Peripherie die Schicht der Denkmechanismen, die ich neu eingeführt habe.
Das gemeinsam funktionierende Ganze bildet den Charakter: "Der Charakter besteht in einer chronischen Veränderung des Ichs, die man als Verhärtung beschreiben möchte. Sie ist die eigentliche Grundlage für das Chronischwerden der für die Persönlichkeit charakteristischen Reaktionsweise. Ihr Sinn ist der Schutz des Ichs vor äußeren und inneren Gefahren.
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Als chronisch gewordene Schutzformation verdient sie die Bezeichnung "Panzerung". Sie bedeutet klarerweise eine Einschränkung der psychischen Beweglichkeit der Gesamtperson. Diese Einschränkung ist gemildert durch nichtcharakterliche, also atypische Beziehungen zur Außenwelt, die wie freige- bliebene Kommunikationen in einem sonst geschlossenen System anmuten. Es sind "Lücken" im "Panzer", durch die die libidinösen und sonstigen Interessen je nach Situation gleich Pseudopodien ausgeschickt und wieder eingezogen werden. Der Panzer selbst ist aber beweglich zu denken. Seine Reaktions- weise verläuft durchwegs nach den Lust-Unlust-prinzip. In unIustvollen Situationen nimmt die Panzerung zu, in lust- vollen lockert sie sich. Die libidoökonomische notwendige Verhärtung des Ichs erfolgt im wesentlichen auf der Grundlage dreier Vorgänge: Es identifiziert sich mit der versagenden Realität in Gestalt der versagenden Hauptperson. Es wendet die Aggression, die es gegen die versagende Person mobilisierte und die selbst Angst erzeugte, gegen sich selbst. Es bildet reaktive Haltungen gegen die sexuellen Strebungen, indem es deren Energie nun in seinem eigenen Interesse zu ihrer Abwehr verwendet. Der erste Vorgang erfüllt die Panzerung mit sinnvollen Inhalten. Der zweite Vorgang bindet vielleicht das wesentlichste Stück aggressiver Energie, sperrt einen Teil der Motorik und schafft dadurch das hemmende Element des Charakters. Der dritte Vorgang entzieht den verdrängten libidinösen Antrieben gewisse Quantitäten an Libido, so daß ihre Durchschlagskraft vermindert wird." Reich:"Charakteranalyse" S.174/177
Die Panzerung erfolgt durch drei, sich teilweise ergänzende Arten von Mechanismen: 1. Denkmechanissnien, davon hauptsächlich Rationalisierungs- mechanismen, die im Sinne der Hemmechanismen arbeiten. 2. Hemmechanismen, die ihrem Bewußtwerden Widerstände ent- gegensetzen und daher unbewußt arbeiten. 3. muskulöse Panzerungen, die einerseits Energien binden und andererseits die Genitalapparatur blockieren und dadurch orgastische Befriedigung verhindern. Außerdem werden diese Energiespeicher nach Bedarf aktiviert, und zwar in der Regel nach dem Bedarf bestimmter Bereiche der Abwehr.
- Ideale Ichstrukturen
Massenpsychologische und gruppendynamische Prozesse lassen sich sich unter zuhilfenahme idealer Ichstrukturen besser als ohne solche analysieren. Bezüglich der unbewußten Bereiche der Ichorganisation stellt der "Normale" unseres Kulturkreises und unserer Gegenwart einen Typ dar, der als Idealstruktur der Abbildung A entspricht. Wir finden hier eine dünne, wenig ausgeprägte rationale Schicht. Das Verhalten wird wesentlich vom unbewußten Bereich, den Hemmechanismen und muskulösen Panzerungen gesteuert. Die wenigen Denkmechanismen, die rational strukturiert sind, sind innig mit der Abwehr verfilzt und in der Regel mehr von dieser geprägt als von autonomen Denkprozessen. Die primären sexuellen Impulse, aber auch
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rational begründbare Aggressionen und Fluchtimpulse werden von der Abwehr aufgefangen, gehemmt und umstrukturiert. Das "Normalverhalten" des "Normalen" ist nur möglich durch diesen spezifischen Aufbau seiner Ichorganisation. So sind also die Kombinationen der großen Mechanismen, ihre Stärke und topische Ausdehnung individuell verschieden, aber die wichtigsten Funktionen und das Endresultat, das "Normalverhalten", sind kollektiv verbreitet. Der "Normale" kommt deshalb seinem Ideal sehr nahe.
Der hier aufgezeichnete Typ B kommt nicht vor. Es besteht Grund zu der Annahme, daß es diesen Typ einmal gegeben hat. /Reich:"Einbruch der Sexualmoral"/ Er ist etwa das, was in der Psychoanalyse als genitaler Charakter bezeichnet wurde. Aber nur in etwa, denn den genitalen Charakter sah man in der Psychoanalyse als einen tatsächlich vorkommenden Typus an, der Typus B hingegen existiert nicht. Wir finden in ihm eine breite rationale Schicht, die das Verhalten bestimmt. Es gibt keine Hemmechanismen und Panzerungen. Dieser Typ könnte nur in einer völlig freien und nichtrepressiven Gesellschaft leben. Als erläuternde Idealvorstellung hilft er, den "Normalen" besser zu erkennen und das Anzustrebende sichtbar zu machen.
- Funktionsweise der Gesantpanzerung
a Schichten der Gesamtpanzerung: Kreis mit dem biologischen Kern in der Mitte und den Schichten der Panzerungen. Innen Schicht 1, darauf 2 und darauf 3 usw.
Die psychische Abwehr mit ihren Hemmechanismen und muskulösen Panzerungen bewirkt eine Abpanzerung des Individuums gegenüber eigenen Triebwünschen und von außen kommenden, diese Wünsche fördernde Reize. Diese Gesamtpanzerung wird funktional erschlossen durch das Modell der Mechanismen einerseits und durch die Analyse, wie diese einzelnen Mechanismen zusammen- wirken andererseits. Die Mechanismen stellen sich im Modell der Gesamtpanzerung dar als Schichten, die den biologischen Kern nacheinander umschließen. Die Mechanismen sind ja keine Blöcke, die neben sich Raum für Energieentladungen ließen, sondern Schichten, die die Verarbeitung der Energien im Sinne der Hemmechanismen erzwingen. Diese Schichten werden in der Lebensgeschichte abgelagert, ähnlich den geologischen Ablagerungen in der Erde. Dieses Modell zeigt eine Gesamt- panzerung mit 4 Schichten. In der Regel verfügen die Menschen wohl über weit mehr Schichten. Hier aber die entscheidensten: Die erste frühsterworbene Schicht 1 ist bereits als Mechanismus zur Erzeugung pathogener Aggression besprochen worden. In ihr werden sexuelle Impulse in aggressive verwandelt. Die zweite Schicht lenkt nun diese aggressiven Impulse in den Betroffenen zurück und erzeugt dadurch unterwürfiges Verhalten. Diese Schicht ist als Masochismus- mechanismus besprochen worden. Die Umstrukturierung der Energien in den unteren Schichten gelingt meist nicht vollständig. Es erfolgen energetische Durchbrüche, die durch
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Verzerrung aufgrund der Einwirkung der unteren Schichten oft sogenannte Perversionen hervorbringen. Diese müssen wiederum im Betroffenen zurückgestaut werden. Das besorgt die Schicht drei. An das Verhalten werden die verschiedensten Anforderungen gestellt, die nur erfüllt werden können, wenn die grob strukturierten Energien den Erfordernissen des angepaßten Verhaltens gemäß weiter verändert werden. Das besorgen die übergelagerten Schichten. Hier die 4. Schicht. In ihr werden Ersatzbefriedigungen fixiert und die durch- brechenden Energien in konformes Verhalten umgesetzt. Bei den wirklich lebenden Menschen endet die Gesamtpanzerung nicht bei der 4. Schicht. Es folgen mehrere andere, wovon die Schicht bedeutend ist, die als Anknüpfung zu den Denkmechanismen und dem bewußten Bereich der Ichorganisation wirkt. Hier finden sich die Rationalisierungsmechanismen und verschiedenste Zwischenformen von Hemm- und Denkmechanismen.
Hier das gleiche Modell wie auf der vorigen Seite:
Die Schichten der Gesamtpanzerung verfügen über ihre eigenen Energiespeicher;d.h. zu jedem neuerworbenen Verhalten gehören neu erworbene muskulöse Verkrampfungen. Die hier gewählte funktionale Darstellung zeigt deshalb Hemmschicht und muskulöse Panzerung als Block zusammen. Wenn das Modell topisch aufgebaut wird, müßten die Panzerungen der Muskulatur alle unterhalb des M 1 eingezeichnet werden. Der ursprüngliche a Impuls wird zuerst von M 1 umstrukturiert und dem M 2 zugeführt. Dabei verbleiben bestimmte Energie- mengen als Bindeenergie im M 1. Die dem M 2 zugeführte Energie wird unstrukturiert und dem M 3 zugeführt. Dabei verbleiben wiederum bestimmte Energiemengen als Bindeenergie im M 2. Die Pfeildicke nimmt ab, was diese Energieabnahme deutlich machen soll. Die vom M 3 umstrukturierte Energie wird dem M 4 zugeführt, wobei wiederum Bindeenergien zurückbleiben. Die von M 4 umstrukturierte Energie erzeugt ein Verhalten, welches als Entladung e hier eingezeichnet ist. Die Kommunikation der Mechanismen untereinander wird durch die Energien f besorgt, die von den Mechanismen abge- geben werden. Nicht eingezeichnet sind die durchbrechenden Energien und die zur Angst freigesetzten. Diese können hier vernachlässigt werden, weil in der Regel in einer funktionierenden Gesamtpanzerung Angst nicht permanent auftritt, sondern nur zu bestimmten Anlässen. Die Größe der Mechanismen soll zeigen, daß unterschiedliche Energiemengen in ihnen verarbeitet und gebunden werden. Dabei ist noch ungeklärt, in welchem Verhältnis diese Größen zueinander stehen. Auch das Verhältnis zwischen der Menge der umstrukturierten und der Menge der gebundenen Energien ist noch nicht geklärt. Da die muskulösen Panzerungen die meiste Energie zu binden vermögen, sind wahrscheinlich die untersten Mechanismen die energiereichsten und haben vermutlich besonders viel Bindungsenergie gegenüber der unstrukturierten Energiemenge.
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b Abwehr und Verschachtelung
Reich machte bei seiner Arbeit die Erfahrung, daß die einzeln analysierten Verdrängungsvorgänge immer im Sinne der Gesamt- panzerung arbeiten. Dabei wird oft eine verdrängte Regung freigegeben um die akut gefährdete zu decken. Z.B. wird ein Mensch aggressiv, der es nie zulassen würde, daß man ihn dabei sieht, wie er aggressiv ist. Wenn aber etwas für ihn akut Wichtigeres gefährdet ist, dann tritt sogar das Verdrängte selber in den Dienst der Abwehr. Dieses noch Gefährlichere könnte in diesem Beispiel die Aufdeckung sexueller Wünsche sein. Das kann noch weiter gehen: Wenn es z.B. zur Verdeckung von akut "gefährlichen" Strebungen nicht anders geht, wird sogar der sexuelle Wunsch aufgedeckt. So kommt es in der Analyse vor, daß der eine den anderen sehr haßt. Um diesen Haß zu verdecken werden womöglich Strebungen eingestanden, die sonst selbst verdrängt werden. Wenn nun die "Bedrohung" vorbei ist, ist das "Eingeständnis" auch wieder vergessen. Das Ziel der Abwehr ist ein Gesamtverhalten, welches als bestimmter Charaktertyp erworben wurde, und mit dem sich leben läßt. Dieses angepaßte Überleben wird durch die Haupt- mechanismen energetisch abgesichert und ermöglicht: Umstrukturierung zu aggressiven und masochistischen Impulsen. Wenn jedoch diese Gesamtabwehr gefährdet wird, kann es zur partiellen Auflösung auch des einen oder anderen Haupt- mechanismusses kommen. Im obigen Beispiel wird für den Moment der aggressiven Haltung der Mechanismus "Masochismus" ausgeschaltet. Die Abwehr ist also geschachtelt und ihre Elemente arbeiten in den vielfältigsten Kombinationen zusammen. Das oberste Ziel der Abwehr: Anpassung im Sinne eines als überlebensfähig erfahrenen Charaktertyps wird auch um den Preis der partiellen Ausschaltung bestimmter Abwehr- elemente verfolgt. Je differenzierter die Elemente der Abwehr, umso anpassungsfähiger der Charaktertyp. Am widerstand- fähigsten ist dabei die Abwehr, die eng mit intellektuellen Prozessen verfilzt ist und wo es eine große Anzahl von Rationalisierungsmechanismen gibt. Da jeder Mensch von einer Menge realer Bedrohungen umgeben ist, wird abwehrendes Verhalten auch von daher zur Überlebensnotwendigkeit. Ich rechne dieses Verhalten nicht zur "Abwehr". Es ist jedoch den wenigsten gegeben, die Welt zu durchschauen, in der sie leben. Demzufolge vermischen sich die Abwehrhaltungen untereinander. Sogenannt reales Abwehrverhalten vermischt sich mit dem aus der psychischen Abwehr kommenden. Was "real" sei, wird undurchsichtig. Es gelingt nicht zu trennen, welche Gefahr von außen und welche von innen kommt. Das kennzeichnet die "Normalpsyche" als pathogene Psychostruktur. Wenn z.B. beim Geschlechtsverkehr Impotenz auftritt, dann weiß der Betroffene oft nicht: "Hab ich Angst vor dem verinnerlichten Vater, oder ist die Angst berechtigt, weil in jedem Moment der Nachbar klingeln kann." Wenn auch die Angst sogleich verdrängt wird, weil es z.B. zum Rollenbild des Mannes nicht paßt, Angst zu haben, dann ist das Ganze restlos unverständlich. Der Betroffene sucht sich eine beliebige Begründung:" Anstrengender Tag gewesen, zuviel Kaffee getrunken oder ähnliches".
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(Zusatz 25: Gerade diese Verschachtelung und der Einsatz der Hemmechanismen zugunsten eines charakterlich einheit- lichen Verhaltens, weist auf die Fehlerhaftigkeit der Theorie der Verdrängung hin. Es ist vielmehr ein einheitlicher Wille am Werk, der sich aber vor den Anderen tarnt, um seine Vorteile leichter zu erlangen. Auch der Hinweis, daß der psychisch Kranke sich selbst schadet, ist nicht schlüssig. Kranksein kann sich auszahlen und mitunter mehr den eigenen Zielen dienen als "Normalverhalten". Das wahre Ziel ist meist Machtgewinn, wie es Nietzsche diagnostizierte. Auch ist es kein Widerspruch zu diesem Sachverhalt, daß die Mechanismen in der Kindheit erworben wurden und den Betroffenen gegenüber "Gesunderen" benachteiligen. Gerade das Vorspiegeln von "Verdrängungen" und "Hilflosigkeit" ist zum Machtmittel geworden und wird beibehalten, da eine Umorientierung nicht gewünscht wird bzw. nicht für möglich gehalten wird und oft nicht möglich ist. Auch ererbte Veranlagungen spielen dabei eine Rolle.)
c Überlastung, "Durchdrehen" und Regression graf17.jpg
Wenn sehr hohe Energiebeträge gestaut oder mobilisiert werden, kann die Steuerfähigkeit der Gesamtpanzerung eingeschränkt werden oder die Steuerung partiell oder total ausfallen. In der psychoanalytischen Theorie wird das als Regression bezeichnet. Dabei meint man, daß ein älteres, früher erworbenes Verhalten an die Stelle des Verhaltens tritt, welches aufgrund von Überbelastungen nicht mehr möglich ist. Der Begriff der Regression kann aber zusätzlich auch solches Verhalten meinen, das noch nicht früher dagewesen ist, gleichwohl aber nur aufgrund der Aktivierung früher erworbener Persönlichkeitsschichten möglich ist. Z.B. in der Freudschen Theorie gibt es die Regression zur oralen Phase. Das heißt, daß in der Regression der Betroffene vielleicht an den Fingern beißt und damit ersatzweise eine Befriedigung sich verschafft, die der oralen Phase in der frühkindlichen Sexualentwicklung entspricht. Diese Regression ist möglich, auch wenn der Betroffene in davor liegenden Lebensphasen nicht an den Fingern gebissen hatte. Übertragen ins Grundmodell ist die Regression der Ausfall relativ spät erworbener Hemmechanismen, also relativ "oben" liegender Abwehrschichten, so daß "tiefer" liegende, lebens- geschichtlich früher erworbene Mechanismen das Verhalten bestimmen. Wenn wir einen Menschen vor uns haben, der durch unterwürfiges Verhalten sich auffällig macht, dann kann er in der Regression plötzlich sehr aggressiv werden. Da der für das unterwürfige Verhalten entscheidende Mechanismus dem Mechanismus der "pathogenen Aggression" übergelagert ist, wird das Verhalten aggressiv, wenn dieser übergelagerte Mechanismus ausfällt.
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Denn die letztmögliche Regression ist die zum pathogen aggressiven Verhalten. Theoretisch ist zunächst nicht zwingend, warum nicht auch diese Schicht regredieren soll und warum nicht am Ende sexuelles Annäherungsverhalten entsteht. Die Lösung findet sich darin: Bei der Regression fallen sehr hohe Energiebeträge an, so daß die wesentlichen Steuerungselemente auch des Bewußtseins ausfallen. Die Verarbeitung dieser Energien gelingt nur, indem sie sofort teilweise in muskulösen Verkrampfungen gebunden werden und dadurch eine gewisse Stabilisierung erfolgen kann. Diese Verkrampfungen blockieren die Genitalapparatur, erzeugen Gefühle des "Eingeengtseins" und damit Aggressivität. Dazu kommt, daß der Anlaß zur Regression oft etwas Furcht- erregendes ist , sodaß die Entladung der Energie in aggressiven Aktionen das einzig Mögliche bleibt. Ein noch weitergehender Ausfall der Steuerung führt letztlich auch zur Regression der zielgerichteten pathogenen Aggression. Das dann folgende Verhalten ist dem epileptischen Anfall ähnlich: Entladung der Energien in ungerichteten muskulösen Zuckungen.
Zwei verschiedene Regressionen einer Abwehr von vier Schichten 1. Schicht M1 l Mechanismus zur Erzeugung pathogener Aggression 2. Schicht M2 " unterwürfiges Verhalten 3. Schicht M3 " Fixierung von Ersatzbefriedigungen 4. Schicht M4 " Koordinierung des Gesamtverhaltens
Zu R1: Hier ist nur der M4 ausgefallen. Das Verhalten ist nicht mehr koordiniert und daher atypisch. Es wird geprägt von M3, so daß die fixierten Ersatzbefriedigungen in den Vordergrund treten. Das könnte z.B. "Freßlust" sein, wenn das Essen eine entwickelte Ersatzbefriedigung darstellen würde.
Zu R2: Hier sind in der Regression M4, M3 und M2 ausgefallen. Es erfolgt ein aggressiver Ausbruch, auch dann, wenn der Betroffene wie man sagt, ein friedfertiger Mensch wäre, der "keiner Fliege etwas zu Leide tun kann". Neben diesen auffälligen Regressionen sind auch solche möglich, wo die Steuerung des Wachbewußtseins intakt bleibt und das Verhalten wie bei R2 zwar aggressiv wird, nicht aber spontan als Ausbruch, sondern auf längere Zeit verteilt. Es ist schwer, solche Regressionen zu erkennen, da sie den Übergang zum "Normalverhalten" darstellen.
Das Normalverhalten wird bestimmt von der Struktur der Abwehr. Da diese aus einer Vielzahl verschiedener Hemmechanismen besteht, die mehr oder minder alle energetisch besetzt sind, ist das Verhalten in den seltensten Fällen nur von einem einzigen Mechanismus geprägt. Der Masochist z.B. zeigt immer auch aggressive Tendenzen, wenn sie auch sehr schwach ausgeprägt sein mögen. Ebenso ist im pathogen-aggressiven Verhalten immer die sexuelle Komponente des ursprünglichen sexuellen Impulses auffindbar. Nicht zuletzt der sexuelle
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Charakter der Folter belegt das. Unter diesen Sachverhalten betrachtet ist das Problem der Regression nicht so sehr Ausnahme als vielmehr Regel. Nur die augenfälligsten Regressionen stechen vom "Normalverhalten" deutlich ab. Daher benannte man in der psychoanalytischen Theorie zunächst nur diese Ausnahmen mit dem Begriff der Regression. Verwandt der Regression ist, hier Modell R3, in dieser Theorie notwendig das ambivalente Verhalten. Wenn jedes "Normalverhalten" von immer zugleich mehreren Mechanismen gebildet wird, dann ist das Verhalten auch immer ambivalent. Aber auch das ist natürlich nur in Extremfällen auffällig und sichtbar. Denn das "Normalverhalten" wird in der psychoanalytischen Theoriebildung ja dem pathogenen Verhalten entgegengesetzt, d.h., es wird vorweg eine qualitative Differenz zwischen "normal" und "pathogen" angenommen, ohne den Beweis dafür erbringen zu können. Nur aufgrund dieser ungeprüften theoretischen Annahme wird das Ambivalenzproblem zu einem natürlichen Fakt. So wie bei Freud Liebe und Haß immer sollen zusammen auftreten, wird daraus in anderen Theorien die Gewißheit, Liebe und Haß wären zwei unablösbar im Organismus verankerte Urtriebe./Dazu Freud: Todestriebtheorie/ Das ambivalente Verhalten z.B. als gleichzeitiges Auftreten von Liebe und Haß ist jedoch nur möglich, wenn das betreffende Individuum vorher eine repressive Verinnerlichung des Mechanismusses "pathogene Aggession" durchgemacht hat. Da auch dieser Mechanismus nie restlos die anfallenden Energien umstrukturieren kann, kommen neben aggressiven auch stets sexuelle Restenergien zum Durchbruch. Hier im Modell vermischen sich als a sexuelle Impulse mit b den pathogen-aggressiven Impulsen zum ambivalenten Verhalten a+b. Je Fall verschieden kann dabei entweder die aggressive oder aber die sexuelle Komponente überwiegen.
- Probleme der Massenpsychologie
Die Aufteilung in "Individualpsychologie" einerseits und "Massenpsychologie" andererseits kann nur als methodisches Hilfsmittel gelten. Andernfalls werden gerade die Probleme verschleiert, die in der kapitalistischen Gesellschaft an erster Stelle stehen. Im bürgerlichen Wissensbetrieb gibt es u.a. eine Fachrichtung "Sozialpsychologie", eine weitere der "allgemeinen Psychologie"; es gibt "Tiefenpsychologie" und vieles andere. Die Folge ist, daß die Aufspaltung nicht mehr das methodisch notwendige Übel bleibt, sondern zum Vehikel der Verschleierung und Heuchelei wird. So ist für Freud das Verhältnis Unterdrücker-Unterdrückter eine Frage der Welt an sich und alles weitere eine der politischen Meinung. Nicht besser in der "Gruppendynamik", die vielerorts der Reintegration partiell Unangepaßter dient. Das vorliegende Grundmodell ist zwar schwerpunktmäßig "individual- psychologisch" ausgelegt, aber der "soziale Hintergrund", nämlich die Existenz von mindestens zwei Klassen, die Existenz von Ausbeutung und Unterdrückung, sind dem Modell immanent. Daher würde die auf dem Grundmodell aufbauende
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"Massenpsychologie" einige ihrer kardinalen Kategorien dem Grundmodell entnehmen müssen. Ich möchte hier nicht mehr als Ansätze zeigen. Entgegen einer früheren Ansicht meine ich nun, daß das Grundmodell nicht einfach auf soziale Prozesse sich anwenden läßt. Es muß vielmehr dazu sehr erweitert werden, was sinnvoll nur geschehen kann, wenn die praktischen psychologischen Versuche und Diskussionen, in denen wir stecken, in diese Erweiterungen eingehen. Die Idealstruktur des "Homo normalis" ist zugleich ein psychologisch als auch soziologisch anwendbares Modell. Die Frage, was nun aus solchen "Normalen" werden mag, wenn Krisen auftreten, und die weitere Frage: wann und unter welchen Bedingungen Faschisten daraus werden; das sind politisch höchst akute Fragen, zu deren Beantwortung ich einige Überlegungen vorstellen möchte. Zugleich sollen sie verdeutlichen, wie aus dem Grundmodell eine "Massenpsychologie" entwickelt werden könnte.
Der "Normale" verfügt als Erwachsener über eine ausgeprägte psychische Abwehr und damit über ein bestimmtes energetisches Stauungspotential. Innerhalb gewisser Grenzen hat der "Normale" es gelernt, mit den Stauungspotentialen zu leben. Dazu mußte er ein kompliziertes System von Hemmechanismen und Denkstrukturen entwickeln, die den Erfordernissen der "Alltagssituationen" gemäß die Energien den sozial gewünschten Zielen zuführen. Die Energien werden also auf verschiedenste Weise so verarbeitet, daß der Zusammenhalt der kapitalistischen Gesellschaft gewährleistet bleibt. Das gilt prinzipiell für alle repressiven Gesellschaften. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß beim Wegfall bestimmter kapitalistischer Strukturmerkmale eine repressive Gesellschaft nicht existieren könnte. Die Verarbeitung der Energien erfolgt: 1. durch Bindung in der Abwehr, 2. durch Wendung gegen sich selbst, 3. durch reaktive Arbeitsleistung, 4. durch sozial geduldete Aggressionen und Ersatz- befriedigungen, 5. durch sozial anerkannte psychische Schwächen und "Krankheiten". Die Bevölkerung als Gesamtes betrachtet verfügt über ein energetisches Stauungspotential, aus dem sich ein mitleres durchschnittliches Stauungspotential ableiten läßt. Auf dem gleichen Wege können die energetischen Prozesse der Idealstruktur vom "Normalen" analysiert werden. Die verschiedenen Arten der Energieverarbeitung bedingen verschiedene soziale, also gesellschaftliche Verhältnisse. So ist anzunehmen, daß die Mitglieder der herrschenden Klasse ihre pathogene Aggression weniger durch unterwürfiges Verhalten kompensieren müssen als Arbeiter oder Angestellte. Allerdings hat die "Sitte" und allgemein akzeptierte "Moral" zu einer Angleichung der Verinnerlichungsprozesse geführt. Die "demokratischen" westlichen Staaten haben ein hohes Niveau der Produktion erreicht, so daß warenbezogene und warenabhängige Ersatzbefriedigungen als Entladungsart eine hervorragende Rolle spielen können. Staaten, die einen geringeren "Lebensstandart" aufweisen, stehen vor zusätzlichen Problemen. Die bewährteste Art, anstelle von warenabhängigen Ersatzbefriedigungen das mitlere energetische
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Staaungspotential auf dem gesellschaftlich nützlichen Stand zu halten, ist die Gestattung der Entladung pathogener Aggressionen an inneren und sonstigen "Feinden", ist die Installation des Faschismus. Nicht zufällig ist der "Lebensstandart" in Griechenland, Brasilien oder im Iran sehr niedrig. Der ökonomische Zusammenhang z.B. für Brasilien ist die Ausbeutung dieses Landes durch die USA mithilfe der faschistischen Herrscherclique in Brasilien selbst. Der Faschismus erweist sich in zweierlei Weise als nützlich. Einerseits kann die Ausbeutung ohne Rücksicht auf den "Lebensstandart" erfolgen, andererseits werden durch das aggressive soziale Klima alle möglichen Repressionsorgane benötigt, personal aufgefüllt und legitimiert. Einschränkung des Konsums, Zunahme der Unterdrückung durch den "Staat", die Polizei usw., Gestattung pathogen-aggressiver Aktionen gegenüber "inneren Feinden", Förderung repressiver Erziehung und des entsprechenden sozialen Umgangs, sind die wichtigsten ineinander greifenden Momente der Faschisierung. Wenn der "Normale" im "demokratischen Wohlfahrtsstaat" etwa dem Modell F 1 entspricht, so der gleiche Mensch unterm Faschismus dem Modell F 2. Es erfolgt im Faschismus ein dauerndes Pendeln zwischen einem Verhalten, das dem Modell F 1 entspricht und einem, das dem Modell F 2 entspricht. Es finden massenhaft Regressionen statt, die jedoch sozial erlaubt sind, durch Führeridentifikationen gesteuert werden und deshalb niemandem als etwas Besonderes auffallen. Wenn die Faschisierung über längere Zeiträume durchgesetzt werden kann, gehen bestimmte Elemente der F 1 Struktur verloren. In Ländern mit sehr niedrigem "Lebensstandart" gibt es beim Pendeln natürlich keine Ersatzbefriedigungen der d Richtungen. Für den Zustand im Hitlerdeutschiand kann man annehmen, daß das Pendeln überhaupt im Laufe der Jahre aufgehört hat, denn der Kriegszustand und die Hatz auf die Juden erlaubten es ja, permanent aggressives Verhalten zu zeigen. F 1: a Impulse bestehen hier nur aus sexuellen Impulsen und solchen aggressiven Impulsen, die aufgrund von Mangelzuständen erzeugt werden. Diese a Impulse werden in M 1 umgewandelt zur pathogenen Aggression. Ein Teil dieser pathogenen Aggression darf in b: subtilen systemkonformen und sozial anerkannten Aggressionen entladen werden. Das sind z.B. Kontroll- funktionen, Bestrafungen. Der Hauptteil der pathogenen Aggression wird von M 2 zu unterwürfigem Verhalten verarbeitet, welches als c Entladung ebenfalls in sozial anerkannter Weise erfolgt, z.B. Bescheidenheit, Gehorsam gegenüber Vorgesetzten, Schuldbewußtsein für Fehler, schlechtes Gewissen. Der Hauptanteil der Energie wird jedoch weiter verarbeitet in M 3 und M 4 zu systemkonformen Ersatzbefriedigungen, z.B. das Autofahren, Fernsehgucken, Rauchen, Trinken, Sachen kaufen, Putzen. In einem Land mit "hohem Lebensstandart" wird der größte Teil der Energie derart entladen, hier als mehrere d Richtungen gezeichnet. Der Mechanismus D ist Stellvertreter für die rationale Schicht. Der Mechanismus R ist Stellvertreter für die Rationalisierungsmechanismen.
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F 2: Hier der gleiche Mensch wie im F 1 Modell. Im Unterschied dazu finden die Entladungen fast ausschließlich als pathogene Agressionen statt, hier b'. Alle anderen Steuerungselemente sind ausgefallen. Die Rationalisierungsmechanismen stellen den "logischen" Zusammenhang für den Betroffenen her. Die Steuerung der Ausbrüche erfolgt im personengebundenen Faschismus durch die Führerfiguren, mit denen der Betroffene sich identifiziert. (Zusatz 26: Der Regressionsbegriff ist hier zu weit aus- gedehnt. Regression ist ein Phänomen welches sich durch Verlust der Kontrolle über das Ich auszeichnet. Hingegen sind die hier beschriebenen Verhaltensweisen in totalitären Staaten gleichwohl von geordneten Ichstrukturen geleistet. Dies macht sie auch so gefährlich, da sie den kranken Kern perfekt verdecken.)
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ergänzende Aufsätze Fred Keil, Essen 6.2.74
Probleme der Verschiedenheit der Ichstrukturen, bei annähernd gleichen sozialen und psychologischen Bedingungen. /der "Lawinenfaktor"/
Ich möchte das Problem dieser Gedanken mit einem Bild zeigen: In einem Betrieb sind zwei gleich alte Arbeiter, in ähnlicher Funktion eingesetzt, verdienen das gleiche und haben genau gleiche Familiensituationen. Nehmen wir an, sie wären beide verheiratet und hätten beide keine Kinder. Eines Tages beginnt in dem Betrieb eine Aktion für einen "wilden Streik". Einer der Genannten schließt sich den Akteuren sofort an, der andere aber hält sich zurück und äußert sich ablehnend zu dem Vorhaben. Warum diese Verschiedenheit des Handelns ? Der Ökonom wüßte hierauf keine brauchbare Antwort, weil die ökonomische Situation der Genannten völlig gleich ist. Psychologisch betrachtet bieten sich sogleich mehrere Lösungsmöglichkeiten. Die einfachste wäre, daß der eine, der dem wilden Streik sich anschließt, eine weniger autoritäre und weniger repressive Erziehung genossen hat als der andere. Eine weitere Erklärung wäre schon subtiler: Daß nämlich der eine eine stärkere sexuelle Hemmung verinnerlicht hat als der andere und auf diesem Wege der eine eben über ein höheres energetisches Stauungspotential verfügt als der andere. Das alles wären Fragen, die durch mühevolle analytische Arbeiten geklärt werden könnten. Verlassen wir jetzt dieses Bild und denken wir an einen anderen schwierigen Fall, zu dessen Auflösung diese Gedanken beitragen sollen: Wir haben vor uns zwei Mädchen, beide etwa gleich alt, beide in einer ähnlichen ökonomischen Lage und beide mit ähnlichen Erlebnissen und damit auch mit ähnlichen verinnerlichten Hemmechanismen. In diesem Beispiel möchte ich konstruieren, daß sie im weitesten Sinne auch über eine ähnlich strukturierte Abwehr verfügen. Wenn das Verhalten der beiden Mädchen in ähnlichen Situationen auch ähnlich ist, bereitet das keine Schwierigkeiten bei der Analyse. Es kommt aber vor, daß das Verhalten völlig verschieden ist. Man könnte, wenn ich den Unsinn nicht längst abgelegt hätte, annehmen, daß diese Verschiedenheit auf der Entscheidungs- möglichkeit eines wie immer gearteten "freien Willens" beruhe. (Zusatz 27: Der "freie Wille" ist kein "Unsinn", aber in Fällen wie diesem nicht relevant.) Da jedoch das Handeln von der Abwehr bestimmt ist, fällt das sowieso flach. Das eine Mädchen reagiert in einer Situation, wo ein Koitus begonnen wird so, daß ihre Beine zusammen- schnellen, und dieser Reflex immer wieder auftritt, wenn der Junge seinen Penis in ihre Vagina einführen will. Das andere Mädchen reagiert überhaupt nicht mit einem solchen Reflex sondern läßt den Penis in sich hinein. Aber ihre Vagina wird nicht recht feucht, sondern in bestimmten Wallungen mal etwas feucht um dann wieder nahezu trocken zu worden. Gesetzt eben, daß beide Mädchen eine gleiche Entwicklung ihrer Psycho- struktur durchgemacht haben, was die wichtigsten Mechanismen betrifft, so stellt sich die Frage nach den Ursachen, die
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diese beschriebene Verschiedenheit des Verhaltens hervorrufen. Ich möchte zur Klärung des Problems bewußt solche Fälle nicht meinen, wo durch die Situation diese Verschiedenheit begründet wird, oder aber in der Lebensgeschichte wichtige Situationen zu finden sind, die aber nicht bekannt wurden. Ich möchte zur Lösung des Problems folgendes Modell anbieten von dem ich hoffe, daß es sich praktisch bewähren wird: Es gibt keine völlig einander gleichen Situationen. Das ist eigentlich klar. Aber das Problem liegt darin, daß einander ähnliche Situationen im einen Falle zu gleichen psychologischen Folgen führen, im anderen Fall jedoch zu verschiedenen. Ich denke dabei an eine besonders autoritäre Erziehung zweier Geschwister. Beide wurden zu "Duckmäusern". Im anderen Fall denke ich an eine ebensolche Erziehung in einer anderen Familie. Ebenfalls zwei Geschwister, aber einer von beiden wird aufsässig und später zum Revolutionär, der andere zum Duckmäuser. Die ähnlichen Situationen erweisen sich mal als identisch in ihrer Wirkung und mal als nicht- identisch. Da ich an Zufall nicht glauben kann, maß ich schließen, daß es in den ähnlichen Situationen Momemte gibt, die in jedem Fall verschieden darüber entscheiden, ob zwei ähnliche Situationen gleiche Wirkungen oder aber verschiedene hervorbringen. Diese Momente sind zunächst unbekannt, ihre Wirkung jedoch die einer Lawine. Das soll folgendes Bild illustrieren: Zwei mal zwei Mädchen, zwei Zwillingspaare in zwei gleichen aber voneinander getrennten Familien. Folgende ähnliche Situation: Das Mädchen A in der ersten Familie nascht trotz Verbot an der Schokolade, die die Mutter im Wohnzimmerschrank versteckt hat. Dabei wird es ertappt und von der Mutter auf die Finger geschlagen. Die langfristige Folge ist, daß das Mädchen gehemmt wird, mit ihren Fingern zu malen, zu hand- arbeiten u.dgl. weil eine Identifizierung der Handarbeit mit dem Naschen stattfindet und die Angst vor einer neuerlichen Bestrafung reproduziert wird. Also hier Reproduktion eines Realangstmechanismusses, der sich in der Fingeraktivität reproduziert. Wiederum eine wie oben beschriebene Situation. Das Mädchen B in der ersten Familie nascht, die Mutter schlägt es auf die Finger. Langfristige Folgen: Das Mädchen schlägt ihrerseits gerne anderen Kindern auf die Finger. Hier also Umwandlung der Energien des Mädchens zu einer pathogenen Aggression, die an Ersatzobjekten entladen wird. Dabei dient die Reproduktion der Ursituation als Entladungsauslöser. Zugleich können Identifizierungen mit der Mutter gebildet werden. Das Mädchen ist in den Reproduktionssituationen selber die bestrafende Mutter. Überspitzt formuliert: Das eine Mädchen erwirbt durch die Bestrafung hemmende Momente, die auch die Identifikation mit der Mutter hemmen, während das andere Mädchen Momente der Identifikationsverstärkung erwirbt. Zwei ähnliche Situationen also, mit einem nahezu entgegengesetzten Ergebnis. In der zweiten Familie ähnliche Situationen wie die oben genannten, aber bei beiden Mädchen die gleichen Folgen. Das heißt, beide Mädchen bilden pathogene Aggression und identifikations- verstärkende Momente. Die Ursache der Verschiedenheit in der ersten Familie liegt also in der verschiedenen Verarbeitungs- weise der Situationen, also begründet in Differenzen der
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psychischen Strukturen. Die Schwierigkeit ist nun, daß eine analytische Rekonstruktion, wie sie in diesem Bild möglich war, normalerweise nicht gelingt, wenn wir Erwachsene vor uns haben, deren Erinnerung nicht ausreichen kann, solche Entstehungssituationen so detallliert aufzurollen. Eine weitere Schwierigkeit ist, daß, je weiter wir lebensgeschicht- lich zurückgehen, die zum Zeitpunkt der Entstehungssituation vorhandene Psychostruktur relativ zum späteren Zeitpunkt un- differenzierter ist. In einem Zahlenbild: Gäbe es im Alter von 3 Jahren vielleicht 2 Millionen Variationsmöglichkeiten, in denen Energie verarbeitet werden kann, so sind es im Alter von 5 Jahren vielleicht 6 Millionen Möglichkeiten. Da aber jede der realisierten Möglichkeiten bestimmte, differenzierte Folgen hat, sind diese Folgen umso drastischer, je früher der Prozeß stattfindet. Kompliziert wird das Ganze durch den Umstand, daß die Gewichtigkeit der Möglichkeit bezüglich der auf ihrer Realisierung aufbauenden Prozesse je nach Zeitpunkt verschieden ist. Z.B. kann eine Ohrfeige jetzt mehr anrichten als eine halbe Stunde später, weil vielleicht jetzt ein anderer energetischer Zustand vorherrscht als eine halbe Stunde später. Es ist also nicht nur offen, welche Möglich- keiten entscheidend zur Ursache psychostruktureller Veränderungen werden, sondern auch die Frage, ob eine Möglichkeit überhaupt Folgen hat, ist von der akuten psychischen Situation abhängig. Zurück zur Ohrfeige: Es ist möglich, daß die Ohrfeige bei dem Kind X in einer Situation die Verankerung des Masochismusmechanismusses einleitet, die gleiche Ohrfeige beim gleichen Kind aber zu einem anderen Zeitpuhkt diese Verankerung nicht einleitet, gesetzt die Ohr- feige wurde nur einmal gegeben. Die Momente, die also die Verschiedenheit der Folgen bei ähnlichen Situationen bedingen, sind wiederum nicht festgelegt, obschon ich annehmen möchte, daß es da bestimmte Dominanzen gibt. Ich denke, daß eine Ohrfeige immer bedeutender sein wird für die psychische Entwicklung als zB. der Schreck, wenn ein Auto neben dem Betroffenen unvermittelt hupt. Der Effekt, den diese zunächst unbestimmten, zumindest aber variablen Momente hervorrufen, ist oft größer, als das Ergebnis, welches die wohlbekannten Entstehungssituationen hervorrufen, obschon dieser Effekt nur möglich ist, weil es die Entstehungs- situationen der einzelnen Mechanismen gibt.
Ich möchte den variablen Momenten, um sie von den anderen abzuheben, einen Namen geben. Da der Effekt dem eines Schneeballs gleicht, der zur Lawine anwachsen kann unter geeigneten Bedingungen, nenne ich diese Momente den "Lawinenfaktor". Mit diesem Namen möchte ich künftig operieren, damit nicht immer wieder die ganze eben beleuchtete Problematik aufgerollt werden muß.
Als nächstes wäre das Verhältnis des "Lawinenfaktors" zu den großen Entstehungssituationen zu untersuchen.
230/59 Fred Keil, Ratingen 9.2.74
Energetisch gleichwertige Handlungsentscheidungen /gleichwertige Elemente/
Der "Lawinenfaktor" kann z.B. gegeben sein, wenn in einer bestimmten Situation zwei energetisch gleichwertige Handlungsentscheidungen möglich sind. Ich nehme z.B. an, das Kind Y möchte sexuell gefärbte Zärtlichkeiten austauschen. Durch die allgemeine Situation, in der es steckt, ist das nicht möglich. Angenommen, es befände sich in einem unserer bekannten Kindergärten. Das Kind wird sich eine Ersatz- befriedigung suchen, bzw. zu einer sadistischen, masochistischen oder körperlichen Reaktionsbildung als Ersatzhandlung greifen. (Zusatz 28: Diese Situation ist in dieser Form fehl- konstruiert, da Kinder iu diesem Alter noch häufig zu prägenitalen Befriedigungen finden. Die Bildung von pathogener Aggression ist hier unwahrscheinlich. Sie könnte, wenn alle Befriedigungsmöglichkeiten unterdrückt werden.) Da böte sich dem Kind an, im Sand zu spielen und durch den sanften Reiz des Sandes auf der Haut eine gewisse prägenitale Befriedigung zu bekommen. Es könnte aber auch eines der mitgebrachten Bonbons essen und dadurch über die Lippen eine orale Befriedigung bekommen. Bezüglich des zugrunde liegenden primären Bedürfnisses können die beiden Möglichkeiten der Ersatzbefriedigung energetisch gleichwertig sein. In solchem Fall pflegt der Betroffene zu zögern, zu welcher Möglichkeit er greifen soll. Man denke an eigene Erfahrungen, wo man "hin und her" gerissen ist, weil die Entscheidung nicht einfach gelingt. Energetisch gleichwertig deshalb, weil diese im Beispiel genannten Möglichkeiten ja nur in einer bestimmten Situation, genauer, nur in einem bestimmten energetischen Zustand gleichwertig sind. In anderen Situationen mag es dem Kind überhaupt nicht schwerfallen, sich zu entscheiden. Nehmen wir an, das zugrunde liegende Primärbedürfnis wäre Bedürfnis nach Reizung der Haut. Das Kind würde den Sand dem Bonbon vorziehen.
Allgemein: Energetisch gleichwertige Handlungsentscheidungen sind nur möglich, wenn es sich um Handlungen handelt, die eine Ersatzbefriedigung bewirken sollen, nicht jedoch, wenn es um die adäquate und umweglose Befriedigung primärer Bedürfnisse geht. Auch das ist klar. Wenn das Kind seine Bedürfnisse unmittelbar befriedigen könnte, d.h. es fände Gelegenheit mit einem anderen Zärtlichkeiten zu empfinden, dann wäre keine Entscheidungsmöglichkeit gegeben, weil ja die Befriedigung des primären Bedürfnisses eine spezifische Befriedigung ist. Da die Ersatzbefriedigung nur annähernd Ersatz bietet, und vor allem Nichtbefriedigung bedeutet, sind die Möglichkeiten der Ersatzbefriedigungen zahlreich. Den gleichwertigen Handlungsentscheidungen liegen gleich- wertige Elemente zugrunde. Die Schwierigkeit liegt darin, daß diese Elemente nur in ganz bestimmten Situationen gleichwertig sind. Deshalb bekommt der "Lawinenfaktor" den Charakter des Zufälligen. Denn das entscheidende Moment,
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welches nun den Ausschlag gibt, welche der möglichen gleichwertigen Entscheidungen realisiert wird, kann selber, für sich genommen, unscheinbar sein. Das auslösende Moment ist in der Regel nur in bestimmten Situationen bedeutsam. Es kann für alle anderen Situationen gänzlich unbedeutend sein.
Die "gleichwertigen Elemente" können relativ stabil werden, wenn nämlich die Hemmechanismen energetisch gleichstark angelegt sind, die die Ersatzbefriedigungen steuern. Dabei ist es unwahrscheinlich, daß die Hemmechanismen verschiedener psychischer Schichten einander gleichwertig werden. Z.B. liegt ja der Mechanismus der pathogenen Aggression eine Schicht tiefer als der Masochismusmechanismus. Die beiden Mechanismen werden deshalb kaum zu gleichwertigen Elementen, da sie nicht energetisch gleichstark sind. Anders solche Mechanismen, die in der gleichen Schicht liegen: Mechanismen zur Erzeugung und Steuerung prägenital sexueller Ersatzbefriedigungen oder Mechanismen zur Steuerung pathogener Aggression auf reale Objekte, also Mechanismen, die das Ziel der Aggression bestimmen, nicht die aggressive Energie selber hervorbringen. Wahrscheinlich gibt es noch viel mehr Mechanismen, die einander gleichwertig werden können. Die gleichwertigen Elemente können durch ein Minimum psychischer Energie realisiert bzw. nicht realisiert werden. Geringfügige Anlässe können die letzte Entscheidung bestimmen, welche der Möglichkeiten realisiert wird und welche nicht. Wird diese Entscheidung unbewußt getroffen oder von Anlässen bestimmt, die der Betreffende nicht bemerkt, dann ist diese Entscheidung nicht die seine sondern eine des sogenannten Zufalls, d.h. die Entscheidung wird von Dingen bestimmt, die gerade in der Nähe sind. Wenn jedoch die gleichwertigen Elemente als Zweifel und Unsicherheit bewußt werden, dann ist eine bewußte Entscheidung möglich. Da die gleichwertigen Elemente aus energetisch stark besetzten Mechanismen bestehen können, die relativ zu den Denkmechanismen energetisch viel stärker sind, tritt dann der seltene und scheinbar widersprüchliche Fall ein, wo große Energiemengen von sehr viel geringeren gesteuert werden können. Die Steuerbarkeit ist gegeben, weil die zu steuernden Energien gleichwertig sind, also eine geringe Differenz gegeneinander haben. Diese Differenz ist energetisch offensichtlich schwächer als die Energie des gerade steuernden Denkelementes.
Ich möchte annehmen, daß immer, wenn bewußt große Energiemengen gesteuert werden und z.B. nicht "Abwehr gegen Abwehr-Steuerung" vorliegt, die energetische Differenz der gleichwertigen Elemente untereinander geringer ist als die Energie des steuernden Elementes. Das bedeutet für alle die, die sich durch bewußte Prozesse verändern wollen: Je mehr energetisch gleichwertige Elemente in der Ichstruktur aufgebaut werden können, umso mehr bewußte Entscheidungen sind möglich. Diese bewußten Entscheidungen ermöglichen praktische Erfahrungen, die wiederum die Ichstruktur zu verändern vermögen.
230/61 Fred Keil, Essen 15.2.74
Steuerungsgruppen graf18.jpg
Die Überlegungen zu den gleichwertigen Elementen gestatten mir die Formulierung von Gedanken, die ich bisher nicht präzise ausdrücken konnte. Dazu muß ich den Ansatz meiner Arbeit noch einmal zeigen: Es geht um das Ausschalten der psychischen Abwehr und die Realisierung der primären Impulse, so wie sie ursprünglich sind. Kurz: Es geht um die angemessene Befriedigung der elementaren Bedürfnisse, vor allem der sexuellen. Dem steht die Abwehr mit ihren Hemmechanismen und Panzerungen entgegen. Im Grundmodell habe ich bereits geschrieben, daß die Aufhebung eines Hemmechanismusses Freisetzung von Energien be- deutet, die nur dann gesteuert werden können, wenn ihnen mindestens ebenso energiereiche Impulse gegenüber stehen. Das muß ich präzisieren. Die Kompensation eines Hemmechanismusses gelingt nur, wenn die bei der Auflösung des Hemmechanismusses anfallenden Energien ohne Angstproduktion verarbeitet werden können. Eine relativ kleine Energie vermag nie eine relativ dazu größere Energie zu steuern, ausgenommen wenn die Steuerung in einer Weise erfolgt, die der Richtung des primären Impulses entspricht. Aber den aus den Hemmechanismen freigesetzten Energien müssen mindestens ebensolche Energie- mengen gegenüberstehen, um jene erstens überhaupt freizu- setzen und zweitens zu steuern. Wenn mit der Freisetzung zugleich eine Entladung der primären Richtung möglich wird, sind keine Energien zur Steuerung nötig, wohl aber zur Freisetzung bzw. Kompensation des Hemmechanismusses.
Woher kann nun diese Fähigkeit kommen, Hemmechanismen aufzulösen bzw. zu kompensieren ? Oder: Wie kommt der rationale Gedanke dazu, der doch energetisch relativ schwach ist, die großen Energiemengen zu steuern ? Da gibt es mehrere, bereits besprochene Möglichkeiten: Abwehr gegen Abwehr-Steuerung und den "Lawinenfaktor". Allgemeiner: Die Steuerung und Freisetzung der gebundenen Energien gelingt dadurch, daß Energien bereitgestellt werden, die den Durchbruch der von den Hemmechanismen aufgestellten Barrieren vor den primären Impulsen ermöglichen.
Diese, den Hemmechanismus ausschaltenden Energien stammen in der Abwehr gegen Abwehr-Steuerung aus anderen Hemmechanismen, Modell Y. Es handelt sich dabei um energetisch gleichwertige Elemente. Der bewußte Bereich kann mit seinen relativ geringen Energien steuern.
Schwieriger ist nun zu begreifen, wie die Steuerung erfolgt, wenn keine Abwehr gegen Abwehr-Steuerung möglich ist und keine gleichwertigen Elemente bestehen. Da die Energien nur von mindestens gleich großen Energien gesteuert werden können, müssen gleichwertige Elemente zu finden sein. Wenn man seine ganzen Energien zusammennimmt um einen schweren Schritt zu tun, wird der gesammte rationale und bewußte Bereich der Ichorganisation "zusammengenommen", energetisch gebündelt und der Abwehr gegenübergestellt, Modell Z.
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Beispiel: Im Cafe sitzt ein Junge, der eine Frau ansprechen möchte. Mobilisation des Impulses a. Sofort werden eine Reihe von Hemmungen aktiviert, hier als Hemmechanismus 1. Der Junge nimmt seine Energie zusammen, bündelt also seine rationalen wachbewußten Bereiche und erreicht dadurch die Fähigkeit aufzustehen, zu der Frau zu gehen und sie anzusprechen. Diese Bündelung stellt sich ihm subjektiv dar als intensives Nachdenken und Überlegen in dessen Vollzug die rationale Schicht sich bündelt und koordiniert.
1. Mobilisierung eines primären Impulses a.
2. Verhinderung der b Entladung durch die gemischte Steuerungsgruppe: KE koordinierte = rationale Schicht und AA, die Abwehr gegen Abwehr-Steuerung mittels des Hemmechanismusses H 2 gegen den großen Hemmechanismus.
Energetische Größen: Großer Hemmechanismus: 12 Einheiten, H 2: 9 Einheiten, KE:: 10 Einheiten. Daraus folgt ein Verhältnis: 13:12, ein Überschuß von 1 für die Steuerung.
Darstellung P: Der große Hemmechanismus liegt in der Ent- ladungsbahn a tief im Subjekt. Der Mechanismus H2 liegt oberhalb des großen Hemmechanismusses, während die koorodinierte rationale Schicht innerhalb der Kreis- pheripherie in vielen Blöcken verteilt liegt und gebündelt wird.
Die Koordinierung der Denkmechanismen in der rationalen Schicht kann nur zum Erfolg führen, wenn die koordinierten Energien mindestens etwas stärker sind als die Energien, die der Hemmechanismus seiner Auflösung als Widerstand entgegensetzt. Die Frage ist noch offen, ob diese Widerstandsenergien quantitativ mit den gesammten im Hemmechanismus gebundenen Energien identisch sind. Ich gehe vorerst davon aus, daß sie es sind. Im Modell Z der Vorseite sähe das so aus: Der Hemmechanismus mobilisiert Widerstandsenergien von 6 Einheiten. Die Koordinierung der Denkmechanismen mobilisiert Energien von 7 Einheiten. Der energetische Überschuß von 1 Einheit dient der Steuerung des Verhaltens und der Bestimmung der Entladungsrichtung. Es ist wieder so etwas wie "gleichwertige Elemente" vorhanden. Ich nehme an, daß keine Addition der Energien von Abwehr und Gegensteuerung stattfindet, also nicht 7 + 6 Einheiten, aber auch keine Neutralisation 7 - 6 Einheiten. Das bleibt jedoch noch offen.
Es lassen sich daher zwei Möglichkeiten von Steuerungs- gruppen unterscheiden: 1. Abwehr gegen Abwehr-Steuerung 2. Steuerung durch Bündelung der rationalen Schicht.
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Als 3. ist eine Kombinierung von beiden Fomen denkbar. Die Abwehr-gegen Abwehr-Steuerung setzt immer unter Mitwirkung rationaler Gedanken ein. Andererseits könnte die rationale Schicht Elemente der Abwehr benutzen zur Steuerung gegen andere Hemmechanismen. Diese gemischte Steuerung sähe aus wie Modell P oben.
Fred Keil, Essen Juni 74
Das "Ich" als Steuerungselement
Ich beziehe mich auf einige, zuvor entwickelte Gedanken:
a. Die Steuerung des Verhaltens beim "Jetztmenschen" wird begreifbar als Produkt der Steuerung durch spezifische Hemmechanismen und muskulöse Panzerungen.
b. Das sogenannte normale Verhalten ist regelmäßig nicht so beschaffen, daß eine Zuordnung zu einem oder wenigen Mechanismen ausreichen würde. Vielmehr ist es kompliziert zusammengesetzt aus dem oft auch gleichzeitigen Funktionieren der verschiedensten psychischen Elemente. Regelmäßig sind an der Steuerung muskulöse Panzerungen, Hemmechanismen und rationale Schichtelemente beteiligt.
c. Die bei der Steuerung gerade akut wirkenden psychischen Elemente habe ich als Steuerungsgruppe definiert. Folgerung: Wiederkehrendes Verhalten bedeutet wieder- kehrende Steuerungsgruppen. Standartverhalten wäre demnach der andere Ausdruck des Agierens von Standartsteuerungs- gruppen.
Die subjektive Empfindung des Ichs kennt zwei Extremformen: a. Das Gefühl der Ichidentität und der Ichkonstanz bzw. das Gefühl der Ichidentitat innerhalb der dem Ich integrierbaren Veränderungen. b. Dazu als Gegenpol: Das Gefühl der Ichkrise, des Identitätsverlustes.
Die Beobachtung der Ichkonstanz führt zu dem Paradox, daß subjektives Konstanzgefühl und starke Wandlungen des Verhaltens zusammenfallen können. Es gibt offensichtlich Veränderungen in den Steuerungsgruppen, die vom subjektiven Ichgefühl nicht als Veränderungen registriert werden. /Ich denke an das Verhalten der "braven Familienväter" an der Kriegsfront/ Das Ich kann deshalb mit der jeweils agierenden Steuerungagruppe nichtidentisch sein.
Wenn wir die Steuerungsgruppen topologisch auffassen, dann bedeutet das, daß der "Ort" des Ichs wandelbar ist.
Steuerungsgruppe und Ich können einander sowohl identisch als auch nichtidentisch sein.
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Die Rationalisierungsmechanismen sind eine Möglichkeit, das Gefühl der Ichidentität trotz sich wandelnder Steuerungs- gruppen zu begreifen. /Was nicht paßt, wird rationalisiert bzw. umgedeutet oder verdrängt/ Ganz sichtbar greift das Subjekt vom Zustand des Ichgefühls her in sein Verhalten ein. Identitätskrisen führen zu Stabilisierungsversuchen, die sowohl als bewußte Aktionen als auch nichtbewußte Um- strukturierungen der Steuerungsgruppen stattfinden. Es ist also nicht primär das Maß psychologischer Wandlungen, welches das Identitätsgefühl bestimmt, sondern die im Ich registrierten Empfindungen hinsichtlich Ichgefährdung und Ichstabilisierung. Deshalb können starke Wandlungen innerhalb der Steuerungsgruppen dazu geeignet sein, daß keine Steuerungseingriffe vom jeweils akuten Ich her stattfinden. Was aber bringt das Ich dazu, gesetzt es wird als gesondertes psychisches Element wirksam, in die Steuerung einzugreifen ? Wir kennen das Frustrationsniveau. Es muß ein Befriedigungs- niveau auch angenommen werden, d.h. das Maß der verarbeiteten Lust ohne Lustangstproduktion. Frustrations-und Befriedigungsniveau werden vom Ich dann wahrgenommen, wenn Überschreitungen stattfinden. Das ist je Subjekt verschieden. Gemeinsam aber ist allen, daß das Übeschreiten dieser Niveaus Identitätskrisen herbeiführt und umgekehrt, daß das Gefühl der Ichidentität nur gegeben sein kann, wenn die Niveaus eingehalten werden. /Natürlich werden diese Niveaus nach Maßgabe der subjektiven Erfahrungen allmählich verändert/
Allgemein: Das akute, gerade bewußte Ich greift in die Steuerung als gesondertes Element ein, wenn 1. Identitätakrisen beginnen und zugleich 2. Eine Identität dieses Ichs mit der jeweils akuten Steuerungsgruppe nicht möglich ist. Für alle anderen Fälle muß angenommen werden, daß das Ich mit der Steuerungsgruppe identisch ist und gerade bei der jeweils steuernden seinen "Ort" hat. Steuerungsgruppe und Ich als Steuerungselement sind demnach ein Spezialfall, der sich hauptsächlich sichtbar in den Identitätskrisen macht. Das Ich ist demnach einerseits die Resultierende der aktivierten psychischen Elemente und andererseits auch selber steuerndes Element, häufig sogar steuernd gegen aktivierte Steuerungsgruppen. Wenn z.B. einer sich "beherrscht", dann ist das genau der letztgenannte Fall: die aktivierten Steuerungsgruppen werden vom Steuerungselement "Ich" an der Realisierung des vorbereiteten Verhaltens gehindert. Auch das Auseinanderfallen von "Ich" und Steuerungsgruppe kann als integraler Bestandteil der psychischen Struktur vorkommen. Demnach wäre dieses Auseinanderfallen nicht unbedingt der Identitätskrise gleichzusetzen. Das subjektive Ichgefühl könnte nach dem Gesagten auch bei sich stark verändernder Umwelt und stark wechselnden Steuerungsgruppen konstant bleiben. Andererseits könnten Identitätskrisen auch auftreten bei der Deckungsgleichkeit
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von Steuerungsgruppe und "Ich", wenn z.B. die Umwelt sich drastisch verändert. Das Maß im psychischen Geschehen wären die Frustrations- niveaus und Befriedigungsniveaus, also in der Psyche verankerte Relationen von Subjekt und Umwelt aus der jeweiligen Geschichte des Subjekts.
(Zusatz 29: Vergleichsprozesse spielen sich auch ab im Bereich bewußter Vorgänge. Die Erwartungshaltung setzt Vergleiche voraus. Ebenso in der Motivation in der Auseinandersetzung mit einem Gütemaßstab. Deshalb sind Ichkonstanz und Ichkrise auch völlig unabhängig von den energetischen Zuständen möglich, als Prozesse im Bereich des Bewußtseins.)
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2. Teil
Neufassung der psychologischen Strukturmodelle
Psychoanalyse und allgemeine Psychologie
Die zwischen der Psychologie und der Psychoanalyse aufgerissenen Gräben, aber auch die innerhalb der psychologischen Spezialgebiete, ganz zu schweigen von der Psychatrie, haben etwas Absurdes und Vorwissenschaft- liches.
Die vorliegende Arbeit von 1974 steht ganz im Bereich der Psychoanalyse. Hier sind Erweiterungen angebracht und die wertvollen Erkenntnisse der Verhaltenspsychologie und anderer psychologischer Fachrichtungen aber auch der Hirnforschung einzubringen.
Die Psychoanalyse steht im Bann der Jahrhundertwende mit ihrer fast fanatischen Verketzerung der Körperlichkeit und Sexualität. Das macht ihre Stärke und auch ihre Schwäche aus. Reich ging dann noch einen Schritt weiter und postulierte einen sexualbejahenden Urkommunismus mit der ausdrücklichen Absicht einen Kommunismus der Gegenwart zu befördern. Was bleibt von der Psychoanalyse, ist unterdessen auch durch Forschungen anderer Disziplinen untermauert. Die Prägephasen bei höheren Wirbeltieren haben eine Entsprechung auch in der menschlichen Entwicklung, wenn auch abgemildert. Schäden und Versäumnisse in den ersten Lebensmonaten sind auch in der menschlichen Entwicklung prägend für das ganze Leben. Schäden aus Traumata der Kleinstkinder sind schwer zu beheben. Sexualunterdrückung des Kleinstkindes, das bedeutet die Störung der vorgenitalen Entwicklungen der Partialtriebe, sind ohne Zweifel Hauptursachen in der Entstehung von pathogenen Aggressionen. Aber danit erschöpft sich das Prägealter nicht. Kinder, die ohne sprechendes Umfeld aufwachsen, erlernen dies später nur noch unvollständig und unter größten Mühen.
Falsch wird die Psychoanalyse dann, wenn die aktuellen situationellen Gegebenheiten zugunsten des Rückgriffs auf frühkindliche Ereignisse vernachlässigt oder, was oft der Fall ist, übersehen werden. Vieles, was auf frühkindliche Schäden verweist ist später erlernt und durch jahrelanges Training verfestigt worden. Besonders die Massenpsychosen verweisen auf derartige Prozesse. Die Verhaltenspsychologie kann hier erhellend wirken. Die Gegensätze zwischen dieser und der Psychoanalyse sind nicht von der Sache her gegeben sondern entspringen vorwissenschaftlichem Glaubenseifer, der nur danach fragt, ob das "Richtige" geglaubt wird.
230/67 Die Sexualität
Der Stein des Anstoßes, den die Psychoanalyse Freuds ins Rollen brachte, war die Sexualität der Person und besonders des Kleinstkindes und Kindes. Die Schüler Freuds hielten dem allgemeinen Druck der Empörung verständlicherweise nicht stand und beeilten sich, die Psychoanalyse zu "bereinigen". Wilhelm Reich attestierte den Nazis und Faschisten eine verbogene pervertierte Sexualität und wurde dafür konsequenterweise verfolgt, seine Bücher verbrannt. Schließlich wurde in seiner Theorie der emotionalen Pest die gesammte Zivilisation für krank befunden. Aus einem Abstand von über 50 Jahren seit Zerfall der Diktaturen in Westeuropa, kann das Thema sachlicher abgehandelt werden. Die Körperzellen sind definitiv unterscheidbar in die Keimzellen und die sekundären Körperzellen. Von diesen gehören einige Gruppen dem Sexualapparat im engeren Sinne an. Wenn Sexualität allgemein als Organlust aufgefaßt wird, verschwimmt der Begriff der Sexualunterdrückung. Es ist außerdem zu bedenken, daß der Lustaspekt im Lebens- prozeß einer neben anderen ist und keineswegs der Einzige. Sexualunterdrückung ist für die Bindung von Energien je nach Kultur und Epoche bedeutsam, aber andere Formen der Unter- drückung können Ähnliches leisten. Dies mindert nicht die Wirkung der seltsam verbogenen Einstellung zur Sexualität, die immer noch unter dem Einfluß christlicher Ideologie, - der Islam zieht am gleichen Strang,- steht. Interssanterweise haben zwei Großstaaten der Erde: Indien und China keine Probleme mit der Entvölkerung. Beide Staaten sind nicht von rigiden religiösen Ideologien geprägt. Andere Faktoren: fehlende Altersversorgung usw. mögen ein Rolle spielen, aber auch im römisch besetzten Griechenland verschwand die Bevölkerung, und gewiß gab es keine soziale Alterssicherung. Hier dürften paralell wirkende Faktoren die Ursachen sein. Genetische Ermüdung, nervliche Überlastungen im Sinne der Spenglerschen Idee von der Wachheit sind gewiß ebenso bedeutsam.
Gerade aber die Kernaussage, das Verdrängte sei unbewußt und nicht mehr für das Bewußtsein erreichbar, ist frag- würdig und in vielen Fällen definitiv unzutreffend. Sartres Bemerkung über einen Freund und Psychoanalytiker, daß dieser die Praxis aufgab, weil er die Lügengeschichten über angeblich Verdrängtes nicht mehr ertragen wollte, ist symptomatisch. Heuchelei trifft das Wesentliche des Verdrängungsbegriffs. Obschon sehr einzelne Trauma nie mehr zum Bewußtsein erhoben werden können, weil sie körperlich manifest und chronisch geworden sind und ihre Auflösung die Existenz gefährden würde, so gilt dies doch nur in seltensten Ausnahmen. Dem "Verdrängenden" ist durchaus bewußt was er verdrängt und warum er es verdrängt. Jede andere Aussage stellte sich in dutzenden realer Fälle in der Vergangenheit als Lüge und
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Heuchelei heraus. Fixierungen in den Entwicklungen von Kleinstkindern können nicht bewußt werden, da diese selbst noch kein entwickeltes Sprachbewußtsein haben. Aber der Rückschluß auf eine generelle Unbewußtheit des Verdrängten ist nicht einzusehen. Gerade die Widerstands- bildung, die beim Angreifen des Verdrängten auftritt, - ausgenommen die frühkindlichen Prägungen - spricht für eine willentliche Abwehr und Heuchelei.
In Hemmechanismen gebundene Energien mögen in Entstehungs- situationen frühkindlicher Entwicklungsstufen entstehen, aber die Bindung von Vorstellungen und Bildern, die sich im Laufe des Lebens in Reproduktionssituationen bilden, sind dem Bewußtsein zugänglich, wenn nicht aus oft vorder- gründigem Eigennutz die Aufklärung behindert wird.
Einer der wichtigsten Grundsätze der Strukturmodelle: Keine jahrelange Erhaltung von Hemmechanismen ohne ihre Auffrischung in Reproduktionssituationen, löst eine Reihe von speziellen Problemen. Der aus der Psycho- analyse kommende Satz von der Priorität der Entstehungs- situation wird widerlegt. Damit fällt auch die Unantastbar- keit des Verdrängten. Entweder die Entstehungssituation bleibt ohne Reproduktionen, so verblaßt der Defekt im Laufe der Jahre, oder aber, es folgen Reproduktionssituationen, die den Defekt erhalten und vetiefen. Da diese aber in Lebens- abschnitte mit entwickeltem Sprachbewußtsein fallen, sind sie nicht als Verdrängtes im Sinne der Psychoanalyse zu verstehen. Der Verdacht drängt sich auf, daß mit der Theorie des Vedrängten die Psychoanalyse dem Publikum akzeptabel gemacht werden sollte. Denn wo Heuchelei ist, erscheint danach Wehr- losigkeit. Wo böser Wille waltet, erscheinen schlimme Lebenserfahrungen Gründe abzugeben.
Erbmaterial und Biochemie
Gefühlskälte, Euphorie und Depression sind oft bedingt durch Störungen des Hormon - und Stoffwechselhaushalts. Diese haben häufig genetische, vererbbare Ursachen. Die oberflächliche Sexualisierung der Gesellschaft steht in seltsamen Kontrast zur Rückläufigkeit der Spermienproduktion der jüngeren Generation und dem Absterben der euro- amerikanischen Altbevölkerungen. Pathogene Aggression könnte durchaus auch mit Mangelzuständen des hormonellen Systems erklärt werden. Demnach könnten der fanatische wie auch der faschistoide Typus seine Aggressionsbereitschaft aus den hormonellen Defiziten beziehen neben der Stauung sexueller Energien. Auch Störungen des limbischen Systems könnten bei Massenmördern und ihren Helfern vorliegen. Vieles spricht für diese Annahme. Auffallend ist die Trieb- und Antriebsschwäche des besprochenen Personenkreises. Manische Gegenreaktionen zu endogenen bedingten Depressionen, aber auch Paranoia sind oft anzutreffen, auch dies würde ins Bild passen.
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Paralelle Faktoren
Je stärker der offensichtlich psychisch beschädigte Typus vom unauffälligen Normaltypus - was immer das ist - ab- weicht, umso zutreffender sind die Modelle der Energie- umlenkung und Regression. Umgekehrt folgt daraus, daß die Energiemodelle unzureichender werden, wenn die "Normalpsyche" betrachtet wird. Der völlig bewußt lebende Typus, der sein Gefühlsleben kontrolliert und dennoch umfassend seinen Bedürfnisse lebt, verfügt über eine energiereiche Struktur sogenannter Denkmechanismen, die das Triebgeschehen weitgehend steuern.
Auffallend und auch verwirrend ist, daß die ins pathogene Spektrum gehenden psychologischen Typen durch paralell wirkende Störungen geprägt sind. Endogene Depression tritt häufig zugleich mit rigider Sexualerziehung in der Kindheit auf, bei gleichzeitig wirksamer Aggressions- unterdrückung oder Demobilisierung. Daher ist der Anteil der Faktoren oft schwer bestimmbar. Jedenfalls weist das häufige Scheitern therapeutischer Bemühungen darauf hin, daß der Anteil organischer Dispositionen bedeutend ist.
Lernpsychologische Faktoren wirken ebenfalls oft paralell. Der aggressive Typus ist nicht nur sexuell rigide erzogen sondern er lernt auch an entsprechenden Vorbildern und Situationen, die sein Verhalten bestärken. Eine Art Aotokonditionierung ist bei fanatischen Typen unüber- sehbar. Hier spätestens wird der Begriff des Steuerungszentrums unentbehrlich und der in ihm anklingende des Willens. Eine gewisse Willensfreiheit ist nicht aus der Welt zu schaffen, kaum anders könnten entgegengesetzte Ent- wicklungen bei an sich gleiche Typologien entstehen, die aber offensichtlich anzutreffen sind.
Die Rolle der gleichwertigen Elemente weist auf die energieökonomischen Möglichkeiten solcher Entscheidungen hin. Allerdings ist der "Wille" auch durch die gleichen Bedingtheiten der Energieökonomie begrenzt. Vieles läßt sich "beherrschen", nicht aber alles und jedes zu jeder Zeit.
Entladungsarten:
Neben den Hemmechanismen müssen komplexe Verhaltens- sequenzen angenommen werden, die als Entladungsbahn aktiviert werden. Stichwort Charakterpanzerung: Hier können als Energiespeicher auch mineralische oder hormonelle Reserven angenommen werden. Stoffwechseleigenarten dürften in der Charakterbildung eine wichtige Rolle spielen. Die Rede von der "Kalt- blütigkeit" weist darauf hin.
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Klimatische und genetische, Faktoren müssen ebenso berücksichtigt werden wie die historischen Faktoren, die im "sozialen Umfeld" wirksam werden.
Die Gesichter sind Ausruck des Charakters. Verstellungen und sogenannte Masken erschweren aber ihre Entschlüsselung, sind für den kundigen Leser jedoch auch entlarvend. Der in den Analysen Reichs zugrunde liegende Typus ist von anderen Typen abgelöst worden, wie der vergleichende Blick mit den Fotodokumenten der 30er und 40er Jahre zeigt, obschon er noch immer vorkommt und vermutlich massenhaft reaktiviert werden könnte. Vereinfacht gesagt: Der zwangscharakteliche Typus mit seinen bestimmten auffälligen muskulösen Verkrampfungen und Hemmechanismen ist nicht mehr der verbreiteteste Grundtypus sondern neue Typen sind entstanden, deren Struktur von anderen Formen der Energieverarbeitung bestimmt wird, obwohl auch in diesen neueren Typen die Mechanismen der pathogenen Aggression und der Unterwürfigkeit installiert werden. Neue Formen der Energiebindung und vor allem der Unter- bindung von Energieproduktionen müssen untersucht werden. Sie sind noch nicht ausreichend erhellt sind, da die merkwürdige Erschlaffung und Unfruchtbarkeit in Europa in den letzten zwei Jahrzehnten neue dramatische Formen angenommen hat. Sie sind nicht mit dem Grundmodell erklärbar. Nervliche, hormonelle und andere Stoffwechselstörungen kommen als mögliche Mitverursacher in Frage. Selbst die Rolle der rigiden Sexualmoral ist in dieser Situation nicht mehr die gleiche wie in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts. Was sich vor unseren Augen abspielt, erinnert an das Erschlaffen früher Kulturen in der vorantinken Geschichte. Insofern sind auch die Relationen zwischen sogenannten psychologischen und biologischen bzw. physiologischen Ursachen zu untersuchen. Spenglers Hypothese von der zivilisatorischen Erschlaffung durch Wachheit, das heißt durch die nervliche Konstitution, gewinnt eine neue Bedeutung.
Die Lernpsychologie des Fötus und des Kleinstkindes ist zeitgleich mit der Strukturierung der Hirnzellen, ihres Absterbens und ihrer Verschaltungen, ihrer Dendriten und Synapsenbildung. Daher sind in diesen Entwicklungs- phasen bereits Erwerbungen und Schädigungen möglich, deren Korrektur mit psychogischen Mitteln sich äußerst schwierig gestaltet, wenn nicht aussichtslos bleibt. Die Bildung bestimmter Zellen, die die Produktion der Hoden bestimmen, wurde untersucht und befunden, daß Defizite massenhaft auftreten und ihren Anteil haben an einem allgemeinen Rückgang der Spermienproduzktion in den hochzivilisieten Ländern, mindestens USA und Westeuropa. Ähnliche Schäden können auch für Frauen vermutet werden, es wird wahrscheinlich darüber bald Material gefunden sein.
Viele Prozesse der tiefenpsychologischen Dynamik lassen sich daher nicht mehr erschöpfend aus dem Grundmodell erklären.
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Vielmehr ist zu untersuchen, welche Lernprozesse in den frühesten Lebensphasen die Psychloge des späteren Erwachsenen bedingen. So kann der Verlust adaäquaten Paarungsverhaltens grund- sätzlich auf mehrere Art und Weise interpretiert werden. Das Grundmodell zeigt die Interpretation aus psycho- dynamischer Sicht, der eine bestimmte soziologische Konstruktion zugeordnet wird. Die Lernpsychologie zeigt Lerndefizite, die unbeschadet der psychodynamischen Konstitution in der Lage sind, Paarungsverhalten deutlich zu stören. Die physiologische Sicht zeigt wiederum Störungen, die aus Wachstumsdefiziten herrühren, die ihrerseits aus dem soziologischen Umfeld zu bergreifen sind. Dieses selbst bedarf einer politischen und darüber hinaus eine umfassenden philosophische Interpretation.
Der Produktionsbegriff
Bereits die Reichsche Interpretation der Masseneurose verweist auf eine metapsychologische Ebene: die der Gesellschaft. Die Lernpsychologie zieht daraus die Konsequenz und inter- pretiert die Entstehung des Individuums als Lernen und Verhaltenserwerbungen. Der scheinbar biologische Automatismus, mit dem sich die Evolution in Gang hält, hat verdeckt, daß menschliche Gesellschaften Produktionsprozesse sind und die den den Evolutionsmustern teils völlig entragenden. Die Gegenwart, die gezeichnet ist vom Schwinden noch vorhandener Instinktmuster und sogenannter Automatismen, zeigt deutlich den Produktionscharakter hier und beim Fehlen der Produktion: die Verödung und Unfruchtbarkeit, auch im übertragenen Sinne, dort. Mehr denn je hängt die menschliche Entwicklung an der Produktion des Menschen durch sich selbst, bis hinab in die individuelle Entwicklung, vom Fötus beginnend bis zum alten Menschen. Das Bewußtwerden dieser Zusammenhänge ist noch nicht auf breiter Grundlage geschehen, es zeigen sich Ansätze, die sowohl in den Institutionen, wie auch im politischen Handeln weiter zu entwickeln sind.
Diffusion und Kristallisierung
Membranen lassen bestimmte Stoffe diffundieren und sperren für bestimmte andere Stoffe den Durchgang. Dieses Bild soll dem Verständnis bestimmter Störungen dienen. Die Beobachtung der freilebenden Primaten zeigt instinkt- gebundenes Verhalten, welches von sozialen Strukturen nicht wesentlich gestört wird. Schimpansen vermehren sich durch polygam-sexuelles Verhalten. Das Regulativ ist die Auswahl und Menge der Spermien einerseits und die völlige Blockierung der weiblichen Sexualorgane während der Säuglingsphase der Neugeborenen andererseits. In der Frühgeschichte der Menschheit bilden sich Inszest- und Heiratstabus heraus, die sich bis zur strengen Monogamie fortentwickeln. Dem paralell verschwimmt bei den Weibchen die
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Zeit der sexuellen Unzugänglichkeit bis sie fast völlig auf- gehoben wird. Diese Prozesse sind begleitet von Störungen vielfältiger Art. Die starke Vermehrung der Menschheit seit dem vorletzten Jahrhundert kommt vorwiegend aus den Errungenschaften der Medizin und Nahrungsproduktion, der damit rückläufigen Mütter-und Säuglingssterblichkeit. Dieses Phänomen hat die prinzipielle Paralellität mit dem untergehenden römischen Reich lange verdeckt. Offensichtlich sind die Rhythmen innerhalb der zivilisierten Gesellschaften andere als die in "rückständigen" Gebieten. Nervliche Belastungen aller Art sind vergleichbar den Schwingungen, die die Funktion der Membranen stören und sie teilweise unbrauchbar machen. Das Gleiche gilt für die Kristallisation. Flüssigkeiten, in denen Kristalle sich bilden, lassen geordnete Großkristallbildung nicht zu, wenn sie heftig geschüttelt werden. Auch dieses Bild kann Störungen verdeutlichen. Offensichtlich sind aber auch elementare Prozesses des interzellulären Stoffwechsels von solchen Störungen betroffen.
Diese Zusammenhänge muß die Psychologie berücksichten und in die Modelle einbeziehen.
Die Bildung von Hemmechanismen kann verstanden werden als eine Verklumpung von Hirn- und Körperregionen innerhalb eines lockerenm Kristallgitteraufbaus. Dies ist nur als Bild zu verstehen. Aber verschiedene Arten von Stoffwechselstörungen: verkrampfte Atmung, hormonelle Dissonanzen, bei Männern z.B. ein Überschuß an Frauenhormonen bei Frauen ein Überschuß an Männerhormonen bzw. Defizite in der geschlechtstypischen Hormonproduktion spielen eine Rolle im psychischen Geschehen. Offensichtlich haben die zivilisatorischen Einflüsse und ihre Schäden eine organische Basis. So wird erklärbar, warum der medizinische wie auch der psychologisch-therapeutische Ansatz nur selten Erfolg bringen. Beide Manifestationsarten stützen sich gegenseitig. Wird die endogene Depression medikamentös behandelt, ver- bleibt eine depressive psychische Verfassung weiterhin wirksam und das entsprechende Verhalten wirkt, wenn auch gemildert fort, um beim Absetzen der Medikamente wieder voll auszubrechen. Umgekehrt verschafft die psychologische Therapie nur eine vorübergehende Linderung, da die organische Basis sich bald wieder durchsetzt.
Kombinierte Regulatoren
Offensichtlich finden in der Entwicklung der Menschen auch solche Prozesse statt, die nicht als Bildung von pathogenen Hemmechanismen und muskulösen Panzerungen aber auch nicht als Denkmechanismen aufzufassen sind. Die an Instinktmuster der Primaten angelehnten Verhaltens- weisen sind Regulatoren, die Elemente aller bisher ent- wickelten Mechanismen enthalten. So ist das Werbungs- verhalten unmittelbar vor einer geschlechtlichen Vereinigung durch mehrere Prozesse geformt:
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1. Bewußte Steuerung des Verhaltens, der Gliedmaßen, der Mimik usw. Reizaufnahme über das Sehen, Hören usw. 2. Hormonelle Kontaktaufnahme über den Geruchssinn und entsprechende Anregung der Hormonproduktion. 3. Partielle Blockierung von Muskelpartien und Bewegungs- abläufen zwecks Einhaltung bestimmter Annäherungs- formen und Abläufe.
Der größere Teil dieser Prozesse ist erlernt und als Über- formung älterer Instinktmuster aufzufassen.
Eine ähnliche Strukturierung ist in jedem Verhalten zu er- warten, aber die Einwirkung der einzelnen Bestandteile werden verschieden schwach oder stark ausfallen. Reine Rechentätigkeit z.B. dürfte unter schwacher hormoneller Aktivierung, aber starker motorischer Kontrolle stattfinden.
Stark motiviertes Lernen von Kindern bei nur schwacher Dirigierung von außen führt zur forcierten Bildung von Dendriten und Synapsen und einer hohen Durchsichtigkeit des auf diesem Erlernten aufbauenden Verhaltens. Ich nenne diese Elemente, bestehend aus erlernten Inhalten, Verhaltensweisen und Körperhaltungen: kombinierte ausgeglichene Regulatoren. Sie sind verwandt den bereits 1974 vorgeschlagenen Steuerungsgruppen: Steuerung durch Bündelung der rationalen Schicht. Im grafischen Modell können sie als Netzwerk von Verknüpfungen dargestellt werden, das sich von den tieferen Schichten des Subjekt bis zur Peripherie hin entwickelt. Dieses Netzwerk ist nicht durch "Verklumpungen" in Hemmechanismen und Panzerungen gestört.
Im einer alle bisherigen Modelle übergreifenden Grafik ist die 1974 entwickelte Struktur mit ausgeprägten Mechanismen zur Erzeugung pathogener Aggression und unterwürfigem Verhalten ein Spezialfall, den ich als ein System unausgeglichener Regulatoren bezeichnen möchte. Das Gesamtich besteht in der Regel aus beidem Arten von Regulatoren.
Besonderheiten ausgeglichener Regulatoren.
Während die Hemmechanismen und Panzerungen sich vertikal in die oft hoch energiereichen Entladungsbahnen einschalten, sind die ausgeglichenen Regulatoren auch stark horizontal verknüpft, wie dies in den Modellen von 1974 bei den Denkmechanismen dargestellt wurde. Dieser starken Ver- knüpfung entsprechen die umfangreichen und miteinander verschalteten Dendriten und Synapsen.
Die idealen Ichstrukturen im Licht neuerer Modelle
Das Ich ist ein Steuerungszentrum, welches als Mittelpunkt wachbewußten Lebens aufgefaßt wird. Es ragt hinab bis an den biologischen Kern und ist selbst eine Verlängerung dieses
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Kerns, sofern es primäre Verhaltensweisen realisiert. Es setzt sich zusammen aus tiefer liegenden Trieb- repräsentanzen, Hemmechanismen, muskulösen Panzerungen, Repräsentanzen von Sinneseindrucken, Gedächtnisstrukturen und Denkmechanismen. Ferner wirken in ihm ausgeglichene und unausgeglichene Regulatoren und Steuerungsgruppen. Manche dieser Elemente sind doppelt benannt und in sich verschachtelt. So sind Hemmechanismen zugleich auch Trieb- repräsentanzen, aber nicht alle Triebrepräsentanzen sind auch Hemmechanismen und Panzerungen. Hormonelle Funktions- zusammenhänge einschließlich der beteiligten Organe sind auch Triebrepräsentanzen. Offensichtlich ist das Ich im Sinne einer mit sich identisch gedachten Größe eine Hirnzellenverschaltung, die in jedem Individuum sehr unterschiedlich aufgebaut wird. Es ist die eigentlich indivduelle Instanz im Subjekt.
Es agiert innerhalb von Steuerungsgruppen, die selbst sehr unterschiedlich zusammengesetzt sind. Es gibt Ichformen, die bedeutend von Denkmechanismen und ausgeglichenen Regulatoren bestimmt sind, und andere, die von pathologischen Panzerungen und Hemmechanismen dominiert werden. Außerdem vermag das Ich offensichtlich zu "wandern" also Steuerungsgruppen zu wechseln. Auch diese Art der Flexibilität ist sehr unterschiedlich entwickelt. Hartnäckig neurotische Formen dürften wenig flexibel sein. Andere Formen sind äußerst flexibel. Die Art und Weise dieser Flexibilität ist ebenfalls je Individuum verschieden. Es gibt oberflächlich flexible Formen und tiefer angelegte flexible Strukturen.
Eines der zentralen Kriterien der Flexibilität und Stabilität des Ichs ist sein Verhalten gegenüber energetischen Vorgängen, auch und besonders sein Verhalten gegenüber frei flottierender Energie.
Frei flottierende Energie, auftretend mit Erregungen aller Art erzeugt sehr häufig Angst. Dies umsomehr, wenn sie nicht baldigst gebunden und verarbeitet wird. Häufige Formen der Verarbeitung sind Aggressions- und Depressions- ausbrüche sowie somatische Symptome. Die Stärke des Ichs und die Quantität dieser Energien stehen in Zusammenhang. Jedes Individuum produziert in unterschiedlichen Situationen frei flottierende Energie und diese wiederum in unterschiedlichen Stärken. Ein relativ schwaches Ich kann sich durchaus als stabil erweisen, wenn die mobilisieten Energien so schwach sind, daß sie bald gebunden oder verarbeitet werden können ohne das Ich zu destabilisieren. Individuen, die aus konstitutionellen Gründen nur niedrige Energiepotentiale produzieren, sind relativ stabil hinsichtlich der Angst- produktion, verraten ihre Schwäche aber in geringer Belastbarkeit und Flexibilität.
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Der Begriff des Willens
Komplexe Regulatoren zeigen eine Art Eigenleben, welches sich weit über automatische Prozesse erhebt. Sie "wollen" bestimmte Ergebnisse erreichen und steuern oft das Wach- bewußtsein. Im Unterschied zu Automatismen regenerieren sie sich nach Störungen und expandieren. Die wesentlichen Eigenschaften des Lebens: Reproduktion, Regeneration, Expansion und "Wille", also gerichtete, zielbewußte, "intelligente" Aktionen sind oft anzutreffen. Daher bedarf das Modell von 1974 einer Ergänzung. Die dort formulierte Abschwächung von Hemmechanismen durch Nicht- aktivierung im Laufe der Zeit gilt nicht generell. Sofern die Mechanismen in solche "wollenden" Regulatoren eingebunden sind, vermögen sie zu überdauern und zu expandieren.
Das Bewußtsein
Bewußtsein ist der Wortbedeutung nach: Sein, welches von sich weiß, ein be... also beisich wissendes Sein.
In diesem Sinne muß jedem Seienden ein Wissen von sich selbst zugeordnet werden, weil sämtliche Eigenschaften bei allen seienden Dingen vorhanden sein können, obwohl sie nicht unbedingt von uns erkannt werden müssen.
Weiß ein Molekül von sich, daß es ist ? Es reagiert auf seine Umwelt, hat Reaktionsvarianten zur Verfügung, wenn auch in nur schmalster Bandbreite. Es erhält sich mittels seiner Funktionalität, bis es von überlegenen Strukturen aufgelöst wird. Im Rahmen seiner Reaktionen, die nicht getrennt und unterschieden werden können von Aktionen, ist es zu gerichtetem Verhalten fähig.
Das Lebende ist nur eine besondere Form des Toten, sagt Nietzsche. Aber die durchgängige Aktivität aller Dinge, ihr "Nichttotes" berechtigt es zu sagen: Das Tote ist nur eine besondere Form des Lebens.
Da es wohl Seiendes innerhalb von Zeitstrecken gibt, ein Sein jedoch nirgendwo, ist der Begriff des Bewußtseins auch in seiner Wortbedeutung ideologisch. Er suggeriert eine der Zeitstrecke überragende Dauer, die nicht vorhanden ist.
Wahrscheinlich ist der Begriff religiöser Spekulation ent- nommen, in der ewige Größen postuliert werden und dem Gefühl, daß der aktuelle Augenblick, das Jetzt ohne Dauer zu sein scheint. Was bleibt an Besonderem an diesem Begriff, z.B. als "menschliches Bewußtsein ?" Es könnte die Wachheit sein. Ist Unterbewußtes nicht "wach" ? Sind Atome nicht "wach"? Auch der Begriff der Wachheit ist beinahe eine Tautologie. Die Nichtwachheit gibt es nirgendwo. Der Gegensatz von "wach" und "schlafen" ist eine Naivität. Es handelt sich dabei um verschiedene Aktivierungsniveaus des Gehirns.
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Auch der "Schlaf" ist "Wachheit", nur eine andere Art. Mancher hat die Erfahrung gemacht, daß das Gehirn im Schlaf komplexe Lösungen vorbereitet, die dazu führen, das am Tag darauf eine schwierige Aufgabe leicht gelöst wird. Die scheinbar chaotischen Bruchstücke von Träumen sind nur zufällige Resultate von Durchbrüchen ins Gedächtnis, sodaß sie erinnerbar werden. Der Arbeitsprozeß als Ganzes im "schlafenden" Gehirn bleibt verborgen.
Menschliches Bewußtsein im Gegensatz zum "Menschen als ganzer Körper" wird verstanden als eine steuernde Region im Gehirn, der eine zentrale Bedeutung zugeordnet wird. Diese Bedeutung kommt aus der verbindenden Funktion des "Bewußtseins" zur "Umwelt". Diese Definition ist kritisch, denn die nichtbewußte Sensorik und die reflexartig arbeitenden Funktionen der Motorik sind auch direkt mit der Umwelt verbunden. Bewußtsein soll den Menschen den Eindruck erwecken, der jeweils Einzelne sei eine handlungsfähige mit sich selbst identische Einheit. Aber diese Definition trifft auf alle Lebenseinheiten zu, vermutlich auch auf Moleküle und Atome. Das einzig Besondere am Bewußtsein ist seine Definition als ein besonderes Sein, welches die Interaktionen zwischen dem Körper und einer produzierten, angepaßten Umwelt kommandiert. Bewußtsein umschreibt einen Wachstumsprozeß, ein Werden von Organisationsstrukturen und objektiven Produkten. Es ist ein "Bewußtwerden" nicht ein "Bewußtsein".
Das so Gesetzte, die pure ideologische Produktion ist nichts Besonderes. Sämtliche Begriffe sind ähnlich beschaffen. Anders: Die Besonderheit des "Bewußtsein" ist Behauptung und Erzeugung einer Rangfolge, also Produkt. Sie repräsentiert keine Wirklichkeit oder Wahrheit sondern tätige Veränderung.
Diese Ideologie ist notwendig, sie ist Bestandteil von Überlebenstechniken oder anders: Ausdruck von Aktivitäten im Rahmen von Lust- und Realitätsprinzip. Insofern ist Bewußtsein nichts "Seiendes" oder "Daseiendes" sondern ein Körperbestandteil, eine Art Software bestimmter Hardwareregionen des Gehirns und der zugeordneten Körper- bestandteile. Das Gefühl des "Ich" in der "Welt" gehört ebenso dazu. Es ist purer Schein oder eine Art "Kulissenproduktion" und dennoch unentbehrlich.
Das "Gefühl"
Der Bereich der Gefühle verhält sich insofern anders als "Denken", als er nahe am Riechzentrum sitzend offensichtlich eine "historische" Dimension aufweist, in der Instinktmuster ältester Art wirksam werden. Das "limbische System", welches als Hauptsitz der Gefühle erkannt worden ist, ist in hohem Maße chemisch und biochemisch aktiv und hängt mit der Hormonproduktion eng zusammen.
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Viele Schäden, die in Denkstörungen sichtbar werden, basieren möglicherweise auf Schäden des "limbischen Systems". Aus nächster Nähe habe ich das Absterben des Denkens verfolgt bei Menschen deren "Riechzentrum" geschädigt war. Kokain und Alkoholgenuß, wahrscheinlich auch Nikotin vermögen in diesem Bereich schwere Schäden hervorzurufen. "Gefühlskälte", "Euphorien", manisch-depressive Zustände und andere "psychische" Schäden treten in verschiedensten Kombinationen neben, aber auch ohne Organschäden, Krebs u.a.auf. Sowohl das"Ich" als auch "Wille" und "Bewußtsein" solcher Kranken sind deutlich verändert, was darauf hinweist, daß diese "Instanzen", falls es solche gibt, ihren "Sitz" auch im limbischen System haben. Philosophisch extreme Lebensformen, etwa strenger Buddhismus, Mönchstum aller Religionen, politisch-manisches Denken bei Tyrannen usw. könnten pathologischen Formen der oben benannten Strukturen entsprechen. Es ist keineswegs nur eine Art kranken Denkens, sondern die regelmäßig auf- tretende Unfruchtbarkeit weist auf tieferliegende, u.a. auch Schäden des hormonellen Stoffwechsels hin.
Die "Gefühle" sind eng verflochten mit "Denken", möglicher- weise sind sie in gemeinsamen , noch zu definierenden Strukturen aktiv und verwachsen. "Reines" Denken und "reines" Fühlen sind wahrscheinlich Illusionen, die auf sozialen Konventionen und ihnen folgenden Täuschungen beruhen. Auffallend ist, daß Menschen mit spezialisiertem Denken häufig einem gemeinsamen Typus unter "hormonellem" und "emotionalem" Gesichtspunkt gesehen, angehören. Priester aller neuzeitlichen Religionen gleichen sich untereinander auffallen, aber auch Programmierer, Mathematiker, bildende Künstler usw.
Psychologische Eingriffe
Für die Psychologie stellt sich die Frage der Eingriffs- möglichkeit immer wieder in neuem Licht dar, wenn neue Erkenntnisse der Medizin, Biologie und Chemie u.a. relevanter Wissenschaften erworben wurden. Allerdins sind die Grenzen zwischen psychologischen und biologisch-medizinischen Eingriffen teilweise durchlässig. Wenn ein Depressiver auf Rat des Arztes oder Psychologen Sport betreibt und seine Ernährung umstellt, daneben psychologisch auf diese Tätig- keiten und andere notwendige Verhaltensänderungen hin vor- bereitet und auch zur Ausführung derselben gebracht wird, so ist dies auch eine Beeinflussung der Stoffwechselvorgänge, die über psychologische Maßnahmnen hinausgehen. Ebenso verhält es sich mit der Sexualtherapie, die beim Beginn des Sexualverkehrs, der einer psychologischen Beeinflussung gefolgt ist, die hormonellen Gegebenheiten indirekt verändert.
Unzureichend ist psychologische Behandlung häufig, weil sie nicht in existenzielle Bereiche des Patienten hinein- ragt. Dies hat verschiedenste Gründe. Eine Gruppe solcher
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Gründe liegt in Mängeln der Bindungen und elementaren Befriedigungen, aufgrund von sozialer Isolation, wie fehlendem Partner u.Ähnlichem. Die Therapie stößt daher auf objektive Grenzen. Andere Gründe sind die Ausklammerung der philosophischen Dimension, z.B. ungelöste Lebens- und Sinnfragen, die psychologisch-immanent nicht beantwortbar sind. Diese Gruppe von Gründen ist nicht ausreichend in der Forschung und Praxis problematisiert, teils fehlt auch das Bewußtsein dieses Problemkreises völlig.
"Metapsychologiosche" Betrachtungen
Im Verlauf der Theoriebildung zeigen sich ab und zu Sack- gassen, die den Rekurs philosophischer Theorien erforderlich machen. Das "Ich" als "Steuerungsgruppe" wird sich nur erhellen, wenn das oben Entwickelte einbezogen und bis zum Ende verfolgt wird. Der Nietzsches Gedanke des Macht- willens ist hilfreich, weil er die Beobachtung dahin lenkt, daß jede Lebensform seine Macht erweitern will, also möglichst schrankenlos wächst. Dies scheint für Regionen im Gehirn zuzutreffen. Sowohl pathologische Mechanismen aber vermutlich auch die gesammte Ichorganisation wachsen, so weit es ihnen überhaupt möglich ist. Die Steuerung des menschlichen Lebens durch ein vernünftig arbeitendes Ich ist nach wie vor Programm der Aufklärung. Interessant ist der Hinweis Nietzsches, daß man selbst noch auf dem eigenen Kopfe gehen soll, wenn anders es nicht weiter geht. Jene berühmte Stelle in seinem "Zarathustra" deutet an, was einem Ich bevorsteht, welches ein vernünftiges Regiment des Individuums anstrebt. Das "Ich" muß sich ausweiten, seinen Zugriff auf Energiepotentiale erweitern um letztlich das Individduum weitgehendst zu gestalten. An dieser Stelle ist das Modell weiter zu entwickeln, welches als Steuerung durch Denkmechanismen und Steuerungsgruppen begonnen wurde.
Steuerung frei flottierender Energie
Die Mobilisation von Energien, die Auflösung von Hem- mechanismen und Panzerungen erzeugen frei flottierende Energien, die teils in Adrenalinausstoß, hormonellen Schüben und anderen körperlichen Erregungen Ausdruck finden. Die Steuerung, der Verbrauch und die Bindung dieser Energien durch ein vernünftig strukturiertes Ich, ist die Grundlage für vernünftiges und kreatives Handeln. Die Erläuterung der Begriffe: Vernunft und Kreation kann hier nicht er- folgen. Aber in jedem Falle sind elemantare biologische Verhaltensweisen dabei mit zu denken. Das Ich kann diese Leistungen nur erbringen, wenn es für die verschiedenen Erregungsarten trainiert worden ist. Die einmalige Einsicht in die Ursachen der Erregungen reicht meist nicht aus. Das läßt sich am Beispiel der Nikotinab-
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hängigkeit erläutern. Häufig äußern starke Raucher, daß sie die Schädlichkeit des Rauchens einsehen, aber nicht den Griff zur Zigarette unterlassen können. Anders ist das, wenn die Einschränkung des Rauchens trainiert wird. Zunächst trainiert er ein selbstgestelltes Rauchverbot für die Spaziergänge draußen, dann ein Rauchverbot für bestimmte Tageszeiten und zuletzt vielleicht ein Zigarettenlimit pron Tag. Diese Art Training ist relativ aufwendig, allerdings häufig langfristig erfolgreicher als das abrupte völlige Aufgeben des Rauchens, dem die Rückfälle oft folgen.
Das Training des Ichs bezüglich verschiedenster Erregungen kann an Alltagssituationen aber auch durch Simulationen vollzogen werden. Ich erinnere mich an ein frühes Training gegen die Furcht vor Dunkelheit und unbekannten nächtlichen Landschaften. Ich begab mich im Alter von 19 Jahren gelegentlich nachts in den Wald und weitete dies immer mehr aus, bis ich dann die Nächte allein in Frankreich und Spanien im Freien aushalten konnte. Vorstellungen bestimmter Situationen, die Erregungen verursachen, können ebenfalls ein Art Training durch Simulationen bewirken. Das Ich stellt in allen Trainigsformen Verknüpfungen her, sowohl intern zwischen den Neuronen als auch solche des Zugriffs zu körperlichen Regionen. Bewußte Herzschlag- verlangsamung, die von den Yogis berichtet wird, geht in diese Richtung. An Nahkampf gewohnte Soldaten, aber auch Jagdflieger haben es gelernt, die Erregung und die Angst- produktion unter Kontrolle zu halten und vernünftig zu reagieren. Die Ausweitung der rational-bewußten Steuerung des "Ichs" bedeutet zugleich auch eine Eindämmung älterer instinkt- gebundener Reaktionen. So wird der Fluchtimpuls durch Beherrschung ebenso überformt wie auch der sexuelle Angriff durch "sittengemäßes" Verhalten. Offensichtlich birgt dies eine Reihe von Risiken, die dort augenfällig werden, wo das Verhalten sich zum Nachteil des Individuums verändert. "Todesmut" und Furcht vor Nähe sind offensichtlich Folgen von Instinktschwäche. Sie beruhen allerdings meist auf der Wirkung pathogener Mechanismen, seltener auf dominanten Steuerungsgruppen des "Ichs".
Aktive und passive Verarbeitung frei flottierender Energie
Unausgeglichene Regulatoren eignen sich zur Verarbeitung frei flottierender Energie, wenn die produzierten Energien in Aktivitäten verbraucht werden können, die auf das Potential verinnerlichter Panzerungen und Hemmechanismen zurückgreifen können. Pathogene Aggression wird durch entsprechende Handlungen sowohl verbraucht wie auch gebunden und aus Mechanismen entbunden. Fanatischer Mut zeigt diese Vor- gänge deutlich. Alledings ist die Flexibilität gering und an spezielle Situationen gebunden. Ausgeglichene Regulatoren eignen sich zur Verarbeitung frei flottierender Energie, wenn die produzierten Energien
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in passiven Reaktionen der Selbstbeherrschung gebunden werden können. Dies bedeutet eine erhöhte Ernergiebesetzung des gesammten Denkapparats, aber auch erhöhte Nervosität und motorische Unruhe. Die Folge ist, daß verschiedene, als Bedrohung empfundene Gedanken sich verstärken und weitere Energie freisetzen. Das Potential frei flottierender Energie steigt zunächst, (einer der Gründe, warum intelligente Menschen furchtsamer erscheinen als andere) bis es durch systematische intellektuelle Denkarbeit abgebaut wird. Die Gefahr wird durchdacht, die Situationen reihenweise simuliert und in kleinen Einheiten Enegie gebunden und abgebaut. Dies setzt eine breit angelegte Struktur voraus. Die in der Antike nicht selten anzutreffencen Selbstmorde hochentwickelter Geister in aussichtslosen Lagen folgten starker Denkarbeit. Alle möglichen Varianten wurden durch- gespielt und zuletzt der Freitod relativ kühl vollzogen.
Die Denkelemente verarbeiten bestimmte Quantitäten Energie. Vereinfacht betrachtet kann eine Organisation mit vielen verknüpften Denkelementen hohe Energiebeträge verarbeiten, eine mit wenigen Elementen niedrige Beträge. Aber auch die Qualität der Verknüpfung entscheidet über ihre Fähigkeit Enegie zu verarbeiten. Die elementare Todesangst ist mit der Mobilisation hoher Energiebeträge verbunden, ebenso die elemenare Furcht vor sexueller Konkurrenz. Denkelemente, die so beschaffen sind, daß sie Reaktionsvorschläge für die verschiedensten sumulierten Situationen der Bedrohung erzeugen, können hohe Energiebeträge verarbeiten und Verhaltensmuster bereitstellen, die geeignet sind, die Gefahr zu bestehen. Das äußerliche Bestehen ist hier nicht interessant sondern das innere Bestehen, das heißt, Vermeidung falscher unkontrollierter Reaktionen und Regressionen.
Die Energie ist als hypothetisches Konstrukt nicht für alle Funktionen des Gehirns brauchbar. Schon die Annahme, daß hohe Energiebeträge und die Zahl der Denkelemente korrelieren, ist nur begrenzt verifizierbar. Offensichtlich haben die Denkelemente Zugang zu Mechanismen, die bestimmte Stoffwechselreaktionen auslösen. Diese sind wiederum energiereich oder energiearm. Dennoch sind die Mehrzahl der Verhaltensweisen nicht psychologisch erklärbar ohne Energiemodelle.
Schon von der Geburt an werden Denkelemente und Mechanismen erworben, die im günstigen Fall steuerbar im ungünstigen nicht steuerbar sind. Diese Mechanismen sind nicht nur, wie im 1. Teil des Grundmodells entwickelt, pathologisch sondern elementare Bausteine des Gehirns. So ist z.B. die Tötungshemmung offensichtlich in tiefangelegten Mechanismen verankert. Viele kleine und kleinste Mechanismen werden erworben, mit denen komplexe Verhaltensweisen reguliert werden. Sie sind wahrscheinlich fast alle geeignet bewußt bzw. der Kontrolle des "Ich" integriert zu werden. Den Begriff der Hemmechanismen habe ich bisher nur ver- wendet um pathologische Prozesse zu beschreiben. Aber
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die kleineren an die Denkelemente gekoppelten Mechanismen lösen ebenfalls Prozesse aus, die Reaktionen hemmen. Die bisher entwickelten Hemmechanismen sind Spezialfälle innerhalb einer größeren Gruppe allgemeiner Hemmechanismen.
Diese unspezifischen Hemmechanismen sind in allen Regulatoren aufzufinden. Im Gegensatz zu den großen pathogenen Hemm- mechanismen bringen nicht alle muskuläre Reaktionen hervor. Manche von ihnen bewirken den Abbau von Hormonen und Boten- stoffen und hemmen damit bestimmte Verhaltensabläufe. Ebenso umgekehrt: Besondere Stoffe werden ausgeschüttet, die ebenso hemmende Wirkungen haben.
Die Einwirkungsmöglichkeiten des Denkens sind nicht nur bestimmt durch die Differenzierung der Denkelemente sondern vor allem durch die Anknüpfungsmechanismen zur organischen Basis. Deutlich wir dies, wenn hochqualifizierte Wissen- schaftler in extremen psychologischen Sitationen hilflos werden und ihr Denken ihnen nicht weiter hilft.
Der Begriff der Klugheit enthält diffus die Vorstellungen der Fähigkeit klug zu handeln und schwierige Situationen so zu meistern als ob viele qualitativ hochwertige Denkelemente aktiviert würden. Hingegen ist der Begriff der Intelligenz weniger an diese Fähigkreiten geknüpft.
Kognitive Regulatoren
Ich möchte die Denkmechanismen, die mit "Nicht- pathogenen- Hemmachanismen" und in die Tiefe gehenden Steuerungs- mechanismen verknüpft sind als "kognitive Regulatoren" bezeichnen. Steuerungsgruppen enthalten in jeweils unterschiedlichsten Anordnungen ausgeglichene und unausgeglichene Regulatoren, Denkmechanismen, kognitive Regulatoren, Hemmechanismen und muskulöse Panzerungen.
Die Entwicklungen des Fötus bis zur Geburt und des Säuglings und Kleinkindes bis zum 6. Lebensjahr formen wesentlich den Menschen und entscheiden darüber, welche Mechanismen den Charakter bilden. Der Zusammenhang zwischen Sexualunterdrückung, Unter- drückung der Motorik, der Phantasie, Liebesentzug, neurotische Verhaltensweisen der Eltern, wie z.B. Waschzwang und der Anlage pathogener Mechanismen wurde im ersten Teil der Modelle dargelegt. Ein Zusammenhang zwischen Zuneigung, Förderung kindlicher Selbständigkeit, Zutrauen, Freizügigkeit und der Anlage ausgeglichener Regulatoren und kognitiver Regulatoren ist zwingend anzunehmen.
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Willensbildung und "wollende" Regulatoren
Zielgerichtete und "gewollte" Handlungen sind sowohl im Bereich fanatischer wie auch ausgeglichener Charakteren zu finden. Der fertige Mensch ermöglicht nur schwer eine Analyse der Zusammensetzung des Willens, da die Entstehungsgeschichte häufig unerkennbar ist und in der Vergangenheit liegt. Der Wille zum Kranksein, insbesondere zum Drogenkonsum ermöglicht es, Wille in der Entstehung zu beobachten. Inwieweit solche Beabchtungen auch auf den "Normalfall" angewendet werden können, muß später dargelegt werden.
Zunächst sind Genuß, Entspannung, soziale Anerkennung, Flucht vor Spannungen und Ängsten Motive des Drogenkonsums. Die Zusammensetzung der Gründe variiert, der Lustgewinn scheint aber im Vordergrund zu stehen. Manche Drogen hinterlassen einen unangenehmen Absturz des Wohlbefindens, der Kater bei Alkohol gehört dazu. Dennoch wird dies in Kauf genommen, wenn die Wiederholung des Drogengenusses gewollt wird. Lange vor körperlicher Ab- hängigkeit an die Droge entwickelt sich der Wille, sie zu konsumieren. Die wollenden Regulatoren sind Denkelemente und Mechanismen, oft verknüpft mit Panzerungen, die sich expansiv verhalten. Sie verknüpfen sich mit anderen Denkmechanismen und besetzen zunächst vorrübergehend die Steuerungsgruppe, in der das "Ich" vorwiegend aktiv ist. Häufig findet sich in den Anfangsstadien dieser Entwicklung der Vesuch, diese Be- setzung des Ichs abzuschütteln. Vorsätze tauchen auf, wie etwa den Drogenkonsu nicht zu wiederholen oder herbzudrücken. Die Expansion erfolgt auf verschiedenen Ebenen. Im Bereich der Denkelemente werden logische und pseudologische Verknüpfungen gebildet. Die Gefahren werden hinwegbewiesen oder verharmlost, soziale Vorteile überbewertet. So ist es ein sozialer Vorteil, wenn der Kokainanhängige in den Dauertanznächten mithilfe des Kokakins wach bleiben kann und vor den potentiellen und realen Partnern eine gute Figur abgibt. Im Bereivch der Panzerungen finden durch den Drogengenuß Entspannungen statt, die wiederholt werden möchten. Das vorläufige Ausbleiben schwerer Schäden durch Drogengenuß wird so interpretiert, daß die Warnungen vor Drogengebrauch als unrealistisch oder als zweckentfremdet ideologisch interpretiert werden. Besonders gefährlich ist der Umstand, daß der Drogenabhängige erstmals ein stabiles Ich zu erwrben scheint. Dies gilt auch für Gruppen mit politschen Fanatismus. Das Absetzen der Droge bzw. die Abkehr vom Fanatismus gefährdet das gerade sich bildende Ich. Bislang ist das sogenannte "Krankheits- bewußtsein" der vermutlich einzige Weg, den Drogenkonsumenten dazu zu bringen, die Ichgefährdung, verursacht durch das Absetzen der Droge, zu ertragen und zu tolerieren.
230/83 Wille und Umwelt
Willensbildung und Motivation gehören zu jenen Prozessen des Einzelnen, mit denen er seine Position in seiner Umwelt konstruiert. Zugleich wird das Individuum durch seine Welt geformt. Es sind wechselseitig durchdrungene Prozesse, in denen auch nichtpsychologische Vorgänge der Umwelt psychologisch wirksam werden. Das Individuum wird von politischen, sozialen, ökonomischen, ökologischen und ver- schiedensten anderen Prozessen beeinflußt und geprägt. Die in der Umwelt wirksamen Mechanismen werden teils ins Individuum integriert und geben Muster ab für psychologische Vergleichs- prozesse. Das Muster des ökonomischen Vorteils wird im Ich zur Suche nach psychologischen Vorteilen erweitert und dem Ich integriert. Aber auch die prinzipielle Verwandschaft der "seelischen" Energieökonomie mit der gesellschaftlichen Ökonomie wird funktionalisiert. In der Psychoanalyse wurde auf die Übertragung von Vater- figuren zu gesellschaftlichen Institutionen hingewiesen. Umgekehrt werden gesellschaftliche Machtverhältnisse auf familiäre - und andere Gruppenstrukturen übertragen. In der kurzschlüssigen Ableitung von Klassenbewußtsein aus Klassengegensätzen klingen diese Verflechtungen zwischen Individuum und Umwelt an.
Das sich entwickelnde Ich reflektiert sich vor sich selbst in der Gestalt eines Selbstbildes. Dies ist meist doppel- gesichtigt. Einerseits sieht es sich so, wie es glaubt von anderen gesehen zu werden, andererseits sieht es sich so, wie es im Licht eigener Ideale für sich erscheint. Beide Vergleichsarten können zu einem positiven sich selbst bestärkenden oder zu einem sich selbst anzweifelnden Resultat führen. Aus beiden möglichen Positionen wird die Willens- bildung beeinflußt. Manche psychologische Fehlhaltungen kommen nicht aus der internen Lebensgeschichte, traumat- ischen Erlebnissen, Hemmechanismen und Panzerungen, sondern aus Konklikten um das Selbstbild. Phobien sind häufig mit dieser Problematik verknüpft. Konfklikte um das Selbstbild sind einerseits internalisierte aber auch akute soziale Konflikte und andererseits Aktivierung psychischer Mechanismen, die mit jenen in Wechselwirkung treten. Der in diesem Sinne soziologische Ansatz verhilft zur Klärung einer Reihe von psychischen Konflikten, die sich in der Psychoanalyse als "Widerstand" des "Unbewußten" darstellen. Oft steht die Scham hinter diesen "Widerständen" vor der Auf- deckung dieser Selbstbildkonflikte. Unter andern im Bereich der echten oder eingebildeten Impotenz ist dies vorzufinden.
Der Mensch als gesellschaftliches Wesen wird von den gesellschaftlich erworbenen Institutionen, Traditionen, Gedächtnisspeicher und dem gesellschaftlichen Getriebe ins- gesammt geformt. Sein Wille ist davon bestimmt, sowohl in opportunen wie auch oppositionellen Verhaltensweisen und internen Funktionen seiner "Psyche". Individuelle Strebungen und Aufklärung finden ihre Grenzen in der Gefährdung oder gemeinten Gefährdung seiner
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Person in der Gesellschaft und in der Struktur der Abwehr und Panzerung, die sich als konservatives Element seiner Auflösung entgegen stemmt. Aber auch besondere Denkprozesse zeigen die Eigenschaften von starren Elementen.
Substituierende Denkmechanismen in der Willensbildung
Im ersten Teil des Grundmodells wurde die Abwehr gegen Abwehr Steuerung besprochen. In ihr werden Elemente der Panzerung substituiert. Sie treten in den Dienst gewollter Veränderungen des Verhaltens. Die Rationalisierungsmechanismen zeigen eine umgekehrte Funktion: Denkmechanismen treten in den Dienst der Abwehr und der konservativen Verhaltensmuster. Im Bereich der Willensbildung werden ebenfalls Denkmechanismen substituiert, sodaß Willensänderungen verhindert oder ins Gegenteil verkehrt werden. Diese Mechanismen zeigen sich, wenn ein Mensch mit weitgesteckten Zielen diese aufgibt, sei es durch Krankheit oder aus Überdruß. Oft versucht er mit den neu gewählten Zielen alte Bedürfnisse und Willensrichtungen zu befriedigen. Die Aufdeckung der substituierten Ziele ist nicht ausreichend für die Veränderung der zugrunde liegenden Strebungen. Der Wille selbst muß in seiner Urform deutlich und seine Entstehungsgeschichte aufgedeckt werden. Allerdings ist damit zu rechnen, daß er nicht veränderbar ist. Häufig werden die substituierten Ziele gar nicht in ihrer Verwandtschaft zu den früheren Zielen erkannt. Der Manager, der "aussteigt" und in Afrika Papageien züchtet, wird zum Unternehmer und lebt letztlich wieder ähnlich wie vorher. Während Rationalisierungsmechanismen rational klingende Begründungen liefern, mit denen die Nichtveränderung einer Haltung akzeptabel gemacht wird, treten die substituierenden Mechanismen als Willensakte auf, die neue Ziele anstreben und damit den Eindruck einer wirklichen Veränderung des Verhaltens hervorrufen. Das Verhalten und die Umgebung werden gewechselt, aber die alten Willensrichtungen weiter verfolgt.
"Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust"
Dieses berühmte Zitat betrifft eine verbreitete Erfahrung. Es sind nicht nur zwei sondern mehrere Seelen möglich, die im Individuum spürbar werden. Übertragen ins Grundmodell: Der Ort des Ichs ist wandelbar. Solange das "wandernde" "Ich" sich nicht zwischen konkurrier- enden Mechanismen befindet, ist es eine "Seele", die das Individuum spürt. Aber bereits das gleichzeitige Auftreten von Furcht und freudiger Erwartung, Liebenden eine bekannte Er- scheinung, kann zu diesem Gefühl von zwei Seelen in der Brust führen. Ebenso die Versuchung, mit einer verbotenen Handlung einen Gewinn erzielen zu können. Der "Gewissenskonflikt" ist ebenso geeignet zu einer solchen Empfindung zu führen. Dies weist daraufhin, daß die Steuerungsgruppen im Individuum wechseln. Solange das Ich beim Wechsel der Steuerungsgruppe keine aktiven Elemente in der eben verlassenen Steuerungs-
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gruppe hinterläßt, ist das Gefühl des einen Ichs vorhanden. Bleiben aber Reste in der alten Gruppe aktiv, so kommt es zu dieser Doppelheit der "Seelen". Bei der Betrachtung extremer Handlungen fällt auf, daß diese offensichtlich aus anderen Ebenen des Ichs energetisch versorgt wrden, wie dies im Mechanismus der pathogenen Aggression verdeutlicht wurde. Sobald das "Ich" sich mit diesen Handlungen identifiziert, wird es pathologisch. Dieses kranke Ich liegt in einer anderen Schicht der "seelischen" Organisation. Das bedeutet, die Willensbildung vermag neben einem horizontalen auch einen vertikalen Wechsel vor- zunehmen. Wenn das pathogene Ich neben dem "Alltagsich" bestehen bleibt, eine Situation die unter Kriegszuständen häufig ist, können zwei verschiedene oder auch mehrere Willenszentren sich bilden. Möglicherweise sind sie mit der Schizophrenie in den Grundzügen verwandt.
Das Individuum besteht aus konkurrierenden Steuerungsgruppen, es ist ein Versammlung von "Ichen" und "Willenszentren", die aber in der Regel des zivilisierten Alltags durch interne psychische Rangordnungen geordnet aktiviert werden und den Anschein von nur einem Ich in einer Person erwecken.
Internalisierte Gesellschaft
Die Herkunft und Verarbeitung frei flottierender Energie ist eine Schlüsselproblematik im psychischen Geschehen. Häufig sind Aufklärung, Selbstkontrolle und Veränderungen des Ichs deshalb unmöglich, weil gesellschaftliche Kräfte- lagen internalisiert und wirksam sind. Das beginnt bei der Sprache. Sie ist nichts anderes als Medium der Gesellschaft im Individuum, welches der Einzelne für seine eigenen Zwecke operationalisiert. Dies ist aus strukturellen Grunden viel- fach nicht ohne weiteres möglich. Bereits die Syntax mit ihrer Subjekt-Verb-Objekt Struktur legt Relationen und Aussagen fest, die bestimmte, für das Individuum ein- schränkende Folgen haben. An erster Stelle stehen die Mechanismen, die durch die Religionen ideologisch verankert werden. Sie sind nicht Gegenstand dieser Arbeit. Nächst diesen Mechanismen liegen die "aufgeklärten" Auffassungen zu den Grundfragen des menschlichen Lebens. Ein Beispiel: Der Darwinismus mit seinen Theoremen von der Überlegenheit der Stärkeren wird als Überlegenheit des Stärkeren in der Gesellschaft internalisiert und präformiert die Handlungen des Einzelnen. Er unterläßt aus Furcht viele Handlungen, weil er glaubt die internalisierten Muster repräsentierten eine un- überwindliche Gegebenheit. Hierhin gehört die interessante Beobachtung, daß unter extremen Situationen oft wenige Bewaffnete eine große Zahl von Gefangenen beherrschen und letztlich der Vernichtung zuführen können. Der Grundmechanismus ist aber nicht durch Rebellion zu enthebeln, wenn auch einzelne Erfolge solcher Rebellionen vorgekommen waren. Zentral ist die Furcht vor dem Tod, die eigentlich erwartete Schmerzangst ist. Die Armeen
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Cäsars, die vielleicht die todesmutigsten Soldaten hatten, die es bisher in der Geschichte gab, waren durch oft lebensgefährliche Belastungen im Marsch und Drill an den Schmerz gewohnt. Zugleich war die stoische Ideologie vor- rangig. Weder war der Schmerz etwas zum Fürchten noch das Nichtmehrsein, welches mit Spekulatinen über ein Leben in jenseitigen Welten nicht befrachtet war. Das Tabu der Selbsttötung, noch von Friedrich dem Großen der Freiheit untergeordnet, ist Disziplinierungsinstrument mit der Absicht die Todesfurcht zu verankern. Lao Tse hat die Rolle der Todesfurcht in seiner Philosophie für Herrscher deutlich gemacht: " Fürchtet das Volk nicht den Tod, wie will man es mit dem Tod schrecken ? Wenn man macht, daß das Volk den Tod stets fürchtet, und wir können den, der Schreckliches tut, ergreifen und töten, - wer wagt es ?... Lasse das Volk den Tod schwer nehmen und nicht in die Ferne ziehen."
Verzweigungen und zentrale Spitzen
An der Todesfurcht läßt sich das Phänomen der Verzweigung beobachten. Der Schmerzangst als Spitze mit ihrem ideolog- ischen Pentant, der Todesfurcht, sind verschiedenste Ängste in vielfachen Verzweigungen angekoppelt. Eine solche Struktur dürfte für viele zentrale "Spitzen" zutreffen. Das Kappen der Spitzen führt nicht zur dauerhaften Veränderung, wenn die Verzweigungen bestehen bleiben. Es ist, als ob Spitzen nachwüchsen. Das Training der psychologischen Selbstbeherrschung ist bildlich wie ein Umstellen der einzelnen Schalter der verzweigten Äste zu verstehen. Wenn viele Vezweigungen umgeschaltet sind, bleibt die Spitze übrig, die ihrerseits ein "Nachwachsen" der Verzweigungen bewirken kann. Der Prozeß von Training und Simulation ist unter quantitaivem Gesichtspunkt dann effekitv, wenn er viele Umschaltungen vornimmt. Zugleich ist die Kappung der Spitze durch Erkenntnis und Training erforderlich. Dies entspricht dem Bild der Denkmechanismen, die erst in großer Zahl, synchron wirkend, über ausreichende Energiebeträge verfügen um bewußte Eingriffe zu ermöglichen.
Analogien des Grundmodells zu den Hirnfunktionen
Das Feuern der Neuronen und die Produktion von Transmitter- stoffen und Gedächtnismolekülen ist unter quantitativem Gesichtspunkt von gleicher Bedeutung wie die Energieproduktion im "Grundmodell". Auch dort gilt, daß größere Mengen produ- zierter Energien darüber entscheiden ob, wie und was im Organismus erregt und gesteuert wird. Es drängen sich funktionale Analogien auf: Starke Mobilisation sexueller Energien führen mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenso zu sexuellen Vorstellungen und Handlungen wie starke Aus- schüttungen von Sexualhormonen. Denkmechanismen werden wirksam, wenn sie mit vielen anderen zusammen wirken und
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sich energetisch verstärken. Analag dazu setzen sich jene Gedanken durch, deren Erinnerungsmoleküle in den Ribosomen- fabriken der Zellen massenhaft hergestellt werden. Wo aber liegen die "wollenden" "Spitzen" des Grundmodells im biologischen Prozeß des Gehirns ?
Anhang
230 Anhang/1 Einleitung von 1974
Die vorliegende Arbeit möchte nicht als "wissenschaftlicher Beitrag" zu einer, wie auch immer verstandenen Fachdisziplin Fsychologie gelten. Dazu erscheint mir die vorherrschende "Wissenschaftlichkeit" viel zu sehr Vehikel der Beherrschung von Menschen durch Menschen zu sein. Der positivistische, systemfromme Ansatz, bald jeder im gängigen Wissenshetrieb gepflegten Disziplin immanent, kann weder übernommen noch kritiklos ignoriert werden. Es geht weder um "wertfreie Forschung" noch um "Erkenntnis als solcher". Kernproblem dieser Psychologiearbeit ist das Elend des gesellschaftlichen Status quo, insbesondere wie er sich niederschlägt in der psychischen Verfassung der Menschen selber. Dieser Ansatz impliziert den Versuch, einen Beitrag zur Veränderung der Menschen zu leisten, die darauf abzielt, daß wir frei und glücklich leben können.
Wäre "objektive" Wissenschaft wirklich derart möglich, wie Positivisten beteuern, brauchten Reflexionen zum Instrument- arium von Erkenntnis hier nicht folgen. Weil aber einem Unterbau vertraut wird, dessen Stringenz zu belegen nicht mehr für nötig gehalten wird, folgt die im Fachdisziplinären verbleibende Forschung einem irratinalen Fundament. Gängige Praxis wurde, die Reflexionen dort abzubrechen, wo wissenschaftliche Forschungsergebnisse in gesellschaftliche Veränderungen umgesetzt werden müßten, die den gesell- schaftlichen Trends zuwider laufen. Der Hinweis, dann begönne die Sache der Politiker, legitimiert jenen Abbruch nicht rational, sondern gehört zum Ausdruck eines Mechanismus von Unterordnung: Wer die Macht hat gibt den Ton an. Damit hebt sich aber Wissenschaftlichkeit substantiell selber auf. Was sachimmanent logisch strukturiert ist, wird dem Handeln derer überantwortet, die auf Weltanschauung und Gewissens- freiheit sich berufend, ihre Klasseninteressen bloß wahr- nehmen. Die Produkte rationaler Forschung vermögen daher nicht, die Welt rational zu gestalten, befördern vielmehr das geordnete Chaos auf jeweils entwickeltere Stufen. Fachbegrenzte Forschung kann, den positivistischen Implikationen ihrer Struktur und Anwendung nur entgehen, wenn sie übers Fach hinaus geht und ihre Voraussetzungen und Wirkungen selber reflektiert. Allgemein gilt: Jede fach- begrenzte Forschungsarbeit strukturiert sich nach positiv- istischen Voraussetzungen, wofern nicht in ihr erkenntnis- theoretische Reflexionen jene negieren. Das aber ist gleich dem Auftrag, Forschung müsse die ihr zuge- wiesenen Reservate verlassen und Rationalität in gesellschaftliche Veränderungen übersetzen.
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Positivistische Forschung ist immament diszipliniert von den vorgeblich objektiv gültigen Gesetzen der Logik. Dem darf der kritische Gedanke nicht sich anpassen. Der Hinweis, ohne unter einander vereinbarte Denkregeln wäre keine Grenze mehr zur Spinnerei zu ziehen, sticht nicht. Zwar ist auch kritisches Denken keine vollends freie Bewegung, muß dem ihm Nicht- identischen folgen, wohin es sich unkontrolliert noch immer bewegt. Die Logik im Denken ist aber in die Dialektik vom Allgemeinen und Besonderen eingebettet, realisiert sich im jeweils Konkreten bündig. Nicht aber kann von konkret Gedachtem etwas wie allgemeine Denkregeln ausgesiebt werden. Das Allgemeine ist in den historisch vermittelten Denk- elementen deren Substanz; nicht aber muß die Besonderung ihrer spezifischen Bewegungen wieder zum Allgemeinen gesetzmäßig sich auflösen lassen. Die realen Antagonismen lassen ein für alle gleichermaßen gültiges Denken nicht zu, solange es kritisch aufs Konkrete zielend jene begreifen und aufzulösen helfen möchte. Das Bedürfnis, mittels allgemeiner Denkregeln, etwa solcher, wie sie in positivistischer Logik und "Wissenschaftstheorie" sedimentiert sind, Sicherheit vor dem Abgleiten ins Uferlose zu finden, kommt einerseits aus den verinnerlichten Machtansprüchen der Herrschenden an die Wissenschaft, andererseits von der gegenwärtig vorherrschenden Ichschwäche, nicht aber vom Rationalen selbst. Die affirmative Haltung vieler Positivisten ist ihrem Denken nicht bloß aufgesetzt, sondern zeigt die Verflechtung von Triebstruktur und Denken sowie deren Prägung durch das Vorwaltende. Jener lag falsch, der meinte, die Gedanken aber wären frei. Das Reich der Freiheit existiert nirgends inmitten realer Unfreiheit. Wer ewig in Ketten leben muß, denkt auch ent- sprechend.
Der Objektivitätsanspruch ist Mittel, mit dem die system- frommen Wissenschaftler kritische Arbeiten diffamieren und ausschalten möchten. Die Gleichsetzung des, nach philosphischem Sprachgebrauch vom Subjekt unabhängigen Objekts mit dem, was sich durch Arbeit verobjektivierte, soll an der Basis möglicher Reflektionen überhaupt den Status quo zementieren. Objektives ist Produkt der Vermittlung von Subjekt und Objekt, pragmatischer: Produkt menschlicher Arbeit. Im Objektivierten sind die Aktivitäten sowohl des Objekts als auch des Subjekts fusioniert, denn das Objekt ist nicht "passiv", der in der Technologie lebende Mensch ist nicht von ihr ungeformt. Jedoch nicht nach Maß einer irgend gearteten Freiheit oder Regel, sondern strukturiert von der Geschichte der Vermittlung und dem, was daraus kann möglich werden: Der Erstreckung in die Zukunft. Objektivieren kann sich immer nur, was über das einzelne Individuum hinaus in allen eine Basis findet, sonst bleibt es bei verschiedenen subjektiven Sichtweisen. Jedoch ist diese Basis bis heute beschränkt auf einige physiologische und psychische Gemeinsam- keiten der Individuen. Über das was man "grün" nennt, dürften kaum Zweifel aufkommen, wohl aber z.B. darüber, ob die gegen- wärtigen Herrschaftsstrukturen objektiv notwendig sind. Für das Erstgenannte haben die Individuen eine gemeinsame Basis, beim Letztgenannten fehlt sie aber. Dennoch soll im Telos der
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Positivisten auch dort Notwendiges objektiv vorwalten, wo keine gemeinsame Basis sondern antagonistische Klassen bestehen: in der Frage der Herrschaft von Menschen über Menschen. Nun kann aber das vorgeblich Notwendige von Herr- schaft nur als ein Objektives postuliert werden, von dem vorweg die künftigen Aktionen der Unterdrückten wider ihre Unterdrücker abgezogen werden. Das geschieht so: Objektives und zukünftig erwartetes Objektives wird dem Objekt gleichgesetzt, mit dem Hintergedanken, daß ins Objekt nicht sich eingreifen läßt. Also müßte ein mit diesem identifiziertes Objektives ebenfalls sich dem subjektiven Eingriff entziehen. Unterschlagen wird geflissentlich, daß im Objektiven bereits subjektive Aktionen eingelagert sind. Das wären allerdings nur Aktionen der Beherrschung, wenn die Unterdrückten den ideologischen Schwindel glauben würden und passiv dem "Objektiven" gegenüber blieben.
Mit dem Nachweis, das "objektive Erkenntnis" durch die realen gesellschaftlichen Antagonismen unmöglich wird, schwindet auch die unbedingte Gültigkeit des auf bloße Identität von Begriff und Sache sich stützenden Identitätsdenkens. Denken ist geprägt von seiner Nichtidentität mit der "Sache" oder "Wirk- lichkeit". Diese ist ein Gewordenes und Werdendes, also Bewegung in allen ihren Elementen, nicht aber Wiederholung von einmal Dagewesenem. Dort, wo Wiederholungen sich melden, sind sie verursacht durch die Identifizierung des Subjekts: diese ist aber Produktion innerhalb von Nichtwiederholbarem innerhalb der Geschichte. Jede Bewegung kann nur bemessen werden durch das ihr Entgegengerichtete; ein zumindest partiell Erstarrtes. Der Wandel aller Momente von Erkenntnis folgt daraus zwingend, sollen sie nicht in der Erstarrung, in ihrer Eigenart als Maß, nicht beizeiten unpassend und unwahr werden. Kein Moment im Denken kann von allen anderen als Unveränderliches oder ewig Gültiges abdestilliert werden. Nur bewegte Denkmodelle können, wenn auch nichtidentisch dem Äußerlichen, irgend Äquivalente erzeugen zu diesem. Die Elemente des Denkens müssen den realen Bewegungen gemäß verändert, negiert und durch neue Elemente ersetzt werden. Damit wird das Erkenntnisinstrumentarium ein bewegtes Modell, dessen Konstellationen seiner Elemente zueinander oft nur über geringe Zeiträume dem "Wirklichen" äquivalent also "wahr" sind. In der Konstellation der Elemente des Denkens bedeuten das Verschwinden, die Wandlung, der Ersatz eines Einzigen oder Hinzunahme eines neuen, daß alle anderen sich auch verändern. Die ganze Konstellation muß dann umstrukturiert, womöglich auch aufgegeben werden. All dessen unbekümmert werden in positivistischer Methode Elemente und Teilprozesse aus dem Ganzen herausgelöst, analysiert und bestimmt, als ob diese nach ihrer Herausnahme noch das Gleiche wären wie vorher. Zwar realisieren sich z.B. in psychologischen Experimenten immer bestimmte wiederer- kennbare Bewegungen. Doch die aus solchen Einzelergebnissen zusammengesetzten Erkenntnisse treffen nur selten die wirklich geschehenden Dinge. Gerade komplexe psychologische Prozesse, etwa die Produktion der Angst, lassen sich nicht aus zusammengestückelten Ergebnissen von Einzelexperimenten
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erklären. Was die Produktion der Angst verursacht, ein gestörter Libidohaushalt, eine bestimmte Lebensgeschichte und andere komplizierte Prozesse, kann nicht experimentiell rekonstruiert werden. Daher ist diese "empirische" Wissenschaft unfähig, brauchbare Modelle zur menschlichen Psyche zu erstellen. Es reicht meist nur zur Bestätigung von Dingen, die wir sowieso schon wußten. Der Verdacht scheint mir begründet, daß brauchbare Aussagen zur Psyche auch gar nicht gewünscht werden. Die positivistischen Methoden sollen wohl eher als Klarheit herausfinden, wie Menschen besser sich abrichten lassen.
Gegen die psychologisch frisierten Herrschaftsprogramme wendet sich die von Wilhelm Reich formulierte Einsicht, daß der Kern psychologischer Beherrschung in der zwangsmoralischen Regulierung der elementaren menschlichen Bedürfnisse, ins- besondere der sexuellen zu finden ist: " Der zwangsmoralische Standpunkt der politischen Reaktion sieht einen absoluten Gegensatz zwischen biologischem Trieb und gesellschaftlichem Interesse. Zufolge dieses Gegensatzes beruft sie sich auf die Notwendigkeit der moralischen Regulierung, denn, so heißt es, würde man die "Moral aufheben" dann würden die "tierischen Triebe" alles überfluten und das "Chaos herbeiführen"..... Ist also Moral notwendig ? Ja, insofern Triebe in der Tat das gesellschaftliche Zusammenleben bedrohen......./aber/ die Moral entstand zunächst nicht aus dem Bedürfnis, gesell- schaftlich störende Triebe zu unterdrücken, denn sie war vor diesen asozialen Trieben vorhanden. Sie entstand in der Urgesellschaft aus bestimmten Interessen einer sich ent- wickelnden, ökonomisch mächtig werdenden Oberschicht, die natürlichen an sich die Sozialität nicht störenden Bedürfnisse zu unterdrücken./a/ Die Berechtigung ihrer Existenz erhielt die zwangsmoralische Regulierung in dem Augenblick, als das, was sie erzeugt hatte, das gesellschaftliche Leben tatsächlich zu gefährden begann. Die Unterdrückung der entsprechenden Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses etwa erzeugte erst die Neigung zum Diebstahl und diese wieder machte die moralische Regel notwendig, daß man nicht stehlen dürfe."/b/ Die Mechanik der Triebunterdrückung kann erst durchbrochen werden, wenn sie im wesentlichen erkannt worden ist. Das erfordert eine klarere als bisher mögliche Einsicht in das, was in uns und unserer Psyche vorgeht. Ein Stück von solcher besseren Einsicht möchte ich mit dieser Arbeit gewinnen helfen.
(Zusatz Sept.2000: Der Versuch, dem objektiven Ansatz zu entrinnen konnte hier nicht gelingen, wenn auch die Kritik am Wissensbetrieb berechtigt bleibt. Auch die Theorie des Nichtidentischen bleibt unentbehrlich, damit die Produkte des Denkens nicht mit einem Spiegelbild der Wirklichkeit gleich gesetzt werden. Der subjektive philosophische Ansatz wie er in der "subjektiven Perspektive" Jahre später entwickelt wurde, führt im Bereich der Psychologie wieder hin zu objektivierbaren Sachverhalten.)
/a/ dazu: Reich "Einbruch der Sexualmoral" Raubdruck /b/ zitiert aus: Reich "Die sexuelle Revolution" E V
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Einzelfallanalysen zum Grundmodell von 1974
Zum Aufbau: Die Analysen sind weitgehendst der Abfolge im Grundmodell angeglichen. Jeweils mehrere Analysen folgen einer Fragestellung. Unter der Nr.der Analyse ist jeweils das Material, die Situation u. dgl. aufgeschrieben und davon abgesetzt erfolgt die Auswertung. Die Trennung in Material und Auswertung soll das Analysieren des Lesers erleichtern und vor allem andersartige Ergebnisse ermöglichen. Natürlich ist schon die Auswahl der Analysen und die Zusammenstellung des Materials der gesamten Arbeit angepaßt und den Zielen untergeordnet.
Fragestellung: a wie werden die Impulse des Annäherungsverhaltens umstrukturiert? b welche sekundären Impulse werden durch diese Umstrukturierung erzeugt? c wie werden die sekundären Impulse verarbeitet und neuerlich umstrukturiert?
Nr .1 Die beiden Kleinkinder Peter, 4 Jahre alt und Rainer, 2 Jahre alt, sitzen im Ehebett der Eltern und spielen mit dem Bettzeug und ihren Gliedmaßen. Die Eltern sind im anderen Raum und helfen beim Tapezieren des Wohnzimmers. Es ist etwa 10.00 Uhr morgens. Die Kinder müssen bis gegen Mittag im Schlafzimmer bleiben. Peter spielt mit seinem Penis und Rainer sieht zu. Da kommt Peter auf den Einfall, Rainer solle seinen Penis in den Mund nehmen. Rainer will das tun, wird jedoch von der ins Zimmer tretenden Mutter daran gehindert. Die Mutter sieht, daß die Kinder an ihren Genitalien spielen, schlägt die Kinder auf die Finger und sagt: "Das ist bah, damit spielt man nicht!" Erschreckt lassen die Kinder ihr Spiel sein und spielen wieder mit dem Bettzeug, nachdem die Mutter den Raum wieder verlassen hat. Sie werfen sich heftig die Kopfkissen an den Kopf und Rainer fängt an zu weinen, weil Peter ihm mit dem Bettlaken die Füße zusammengebunden hat, so daß es schmerzt. Die Mutter wird vom Geschrei ins Zimmer gerufen und schlägt Peter auf die Finger und schimpft: "Du darfst Rainer nicht quälen, wenn ich das noch einmal sehe, gibts Haue !" Nachdem die Mutter den Raum wieder verlassen hat, legen sich die Kinder unter ihre Bettdecken und wiegen ihren Kopf rhytmisch von einer Seite zur anderen. Dabei halten sie sich ein Tüchlein an die Lippen, welches sie leicht an der Oberlippe reiben.
Auswertung: Zunächst wird der sexuelle Annäherungsimpuis vom Erscheinen der Mutter blockiert. Das Schimpfen der Mutter blockiert den Impuls auch noch nach ihrem Fortgehen. In Peter wird der nichtentladbare Impuls umgewandelt zu einer motorischen Aktion, die bereits aggressive Färbungen hat. Der Bruder wird vom Lustobjekt zum Ersatzunlustobjekt. Peter konnte die Aggression, welche auf die Versagung des sexuellen
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Befriedigungswunsches folgte nicht gegen den Unterdrücker, gegen die Mutter richten und wendete daher die nun abgelenkte Aggression wider ein Ersatzunlustobjekt, hier der Bruder. Es erfolgt eine Umstrukturierung des sexuellen Impulses zu einer Aggression, die jedoch vom eigentlichen Ziel abgelenkt werden muß. Weil diese Aggression nicht primär einer Bedrohung folgt, sondern dem unterdrückten sexuellen Impuls entstammt, und weil sie kein Ziel findet, welches die Befriedigung des sexuellen Wunsches noch erreichen ließe, ist das bereits eine pathogene Aggression. Diese darf aber auch nicht realisiert werden, weil wiederum durch die Mutter eine Unterdrückung, diesmal des sekundären aggressiven Impulses stattfindet. Es erfolgt deshalb eine neuerliche Umstrukturierung der Energien zu einer prägenitalen Ersatzbefriedigung mittels Lippenreizung durch das Tüchlein. Es findet eine Rückverwandlung der pathogenen Aggression statt zu einer sexuellen Befriedigung, die jedoch nur als gedämpfte und genital entsexualisierte Befriedigung möglich ist. Unterstützt wird sie durch das Wiegen des Kopfes, was die an sexuelle Lust erinnernden Schwebegefühle verstärken hilft.
Nr.2-3 /ausgelassen/
Nr. 4 Peter, 5 Jahre alt, versucht ein Stück Gummischlauch in die Vagina von Monika, 2 1/2 Jahre alt, einzuführen. Rainer, 5 Jahre alt, machte den Vorschlag dazu; tat es aber nicht selbst, weil er Angst hatte, dafür bestraft zu werden. Außerdem steht Franz, 4 1/2 Jahre alt dabei. Alle Kinder befinden sich in einem Ziergestrüpp vor dem Mietshaus, in dem Peter wohnt. Monika schreit, als ihr Peter beim Versuch, den Gummischlauch einzuführen Schmerzen zufügt. Die Kinder nehmen davon aber keine Notiz. Peter probiert weiter und Monika schreit lauter. Nun bekommt Rainer Angst, daß sie von Erwachsenen gehört werden könnten. Er rät deshalb, aufzuhören. Jedoch sind die Kinder bereits von Nachbarn gehört und zum Teil gesehen worden. Diese Nachbarn haben aber die Kinder nicht aus dem Gebüsch geholt, sondern gingen zu den Eltern von Peter und Monika. Die Mütter der Beiden eilen herbei und scheuchen die Kinder aus dem Gebüsch. Monika erhält von ihrer Mutter sogleich einige Ohrfeigen; Peter wird am gleichen Abend von seinem Vater verprügelt. Rainer bekommt einige Tage Hausarrest und Franz wird gedroht, er komme in die Fürsorge. Die Eltern äußern Abscheu und Empörung: "Pfui, daß du so etwas tust, hätte ich von Dir nicht gedacht"; oder: "Bah!, solche Schweinereien machst Du !" und andere ähnliche Äußerungen.
Auswertung: Durch den Zuspruch Rainers zeigt Peter ein genitalsexuelles Annäherungsverhalten, daß jedoch schon eine verdrängte Form darstellt, weil Peter anstelle seines Penis den Gummischlauch benutzt. In dem Verhalten der Kinder ist kaum Zärtlichkeit. Es gibt unterschwellige Aggressionen,
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die als Folge der sexuellen Beschränkung auftreten und darin sichtbar werden, daß die Kinder die Schmerzensschreie nicht beachten. Den Kindern ist auch klar, daß das was sie tun als "verboten" gilt, denn sie haben das Ziergestrüpp für ihre Spiele ausgesucht, welches ihnen einen gewissen Schutz vor dem Entdecktwerden bietet. Zärtlichkeit, sexuelles Annäherungsverhalten und sexuelle Befriedigung sind für die Kinder nichts zusammengehörendes, sondern treten zersplittert auf. Die bei allen Kindern praktizierte sexualunterdrUckende Erziehung hat in den Kindern diese Zersplitterung erzeugt und desweiteren Ekelgefühle und pathogen-sexuelle Verhaltensweisen entstehen lassen. Die Reaktionen der Eltern bestärken die bereits vorhandenen pathogenen Dispositionen, indem den Kindern Hilfe verweigert und Aufklärung vorent- halten wird. Andessen Stelle tritt Bestrafung und Ekel- bezeugungen, was die pathogenen Dispositionen weiter befestigen hilft. Die Kinder lernen nicht Sexualität als Zärtlichkeit zu erleben, sondern Sexualität als aggressiv gefärbte "Perversion". Die aus der sexualunterdrückenden Erziehung produzierten pathogenen Verhaltensweisen dienen dieser Erziehung nun wiederum als Vorwand für die üblichen Repressalien. Es entsteht ein Kreislauf von Sexualunter- drückung- Erzeugung pathogenen Verhaltens, neuerlicher Sexualunterdrückung, Verstärkung des pathogenen Verhaltens, der den Betroffenen überhaupt nicht bewußt wird. Wie Reich bemerkte, ist hier praktisch zu sehen: Die Sexualunterdrückung produziert zuerst das, was sie dann mit Recht meint, unterdrücken zu müssen.
Nr.6 Nr.5 /ausgelassen/ Der fünfzehmjährige Rainer fragt den zwölfjährigen Max, ob er mit in den Keller kommen wolle, um mit der zwölfjährigen Ute "etwas auszuprobieren". Alle drei Kinder gehen in den Keller. In einer dunklen Nische angelangt, hebt Rainer Utes Rock hoch, zieht ihr Höschen herunter, knöpft seine Hose auf und versucht, seinen Penis in Utes Vagina zu stecken. Das gelingt nicht, weil sein Penis schlaff bleibt. Er streichelt mit seinem Penis Utes Vagina und hört damit nach einer Weile auf. Er fragt Max, ob er es nicht auch versuchen wolle, es sei sehr schön. Max öffnet nun seine Hose und streichelt ebenso mit seinem Penis Utes Vagina. Plötzlich kommt ein Hausbewohner die Kellertreppe herab. Erschreckt laufen die Kinder in den Kellerflur hinein. Der Hausbewohner sieht aber noch, daß Ute ihren Rock herunterzieht und das Höschen zwischen den Knien hat. Er geht sofort zu den Eltern Utes und erzählt, was er gesehen hat. Die drei Kinder werden von ihren Vätern kurz darauf in die Wohnungen gerufen und gewissermaßen verhört. Rainer erhält von seinem Vater Prügel und die Mutter von Ute redet dieser ein: "Gell, Du bist mit ihnen gegangen ohne zu wissen, was die wollten. Sie haben Dich sicher gezwungen mitzutun, wars so nicht." Nun drohen die Eltern von Ute und Max, die Fürsorge zu benachrichtigen, weil sie ihre Kinder als Opfer der Verführung durch Rainer betrachten. Sie verbieten ihnen den weitern Umgang mit Rainer und reden mit dessen Familie kein Wort mehr.
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Auswertung: Das sexuelle Annäherungsverhalten von Rainer und Max ist durchaus zärtlich. Da sie jedoch nicht anders behandelt werden, als wenn sie eine aggressiv-sexuelle Handlung gemacht hätten, werden die Grenzen zwischen pathogener und natürlicher Sexualität von den Eltern verwischt. Durch die Bestrafung auch des zärtlich-sexuellen Verhaltens fördern sie in den Kindern die Umstrukturierung der sexuellen Impulse zur pathogenen Aggression. Zugleich bilden die Eltern von Ute und Max in den Kindern Projektionsmechanismen aus, indem sie nämlich ihnen einreden, die "Schweinereien" kämen von Rainer und sie waren bloß "Opfer" von dessen Verführungskünsten geworden. Die Kinder übernehmen diese Projektion, weil sie dadurch der Bestrafung entgehen, die erfolgen würde, wenn sie für "schuldig" befunden würden. Situationen wie diese analysierte sind dazu geeignet die Projektionsmechanismen zu verbreiten, die sich massen- psychologisch als Haß auf Minderheiten zeigen. Der Kern ist der Kunstgriff, daß die eigenen verdrängten Strebungen einem anderen zugeschrieben werden. Indem dieser andere verfolgt und bestraft wird, kann die eigene Frustration entladen werden und das Verdrängte teilweise durchbrechen, denn die "Schweinereien" des anderen darf der Projezierende ja ausdenken ohne selber unangenehme Folgen befürchten zu müssen. Er sagt ja nur das, was diese anderen an "Unanständigem" tun.
Fragestellung:
a wie werden muskulöse Panzerungen eintrainiert? b welche Verhaltensweisen werden dadurch ausgelöscht und welche neu erzeugt? c weiche Funktionen haben die muskulösen Panzerungen im Individuum, in der Erziehung und in der Gesellschaft?
Nr. 7 /ausgelassen/
Nr. 8
Alltägliche Prozedur in einem ev.Kindergarten einer Großstadt. 7.50 Uhr bis 8.00 Uhr. Die Kinder werden von den Eltern abgeliefert und im großen Gemeinschaftssaal an die Gruppen- tische gesetzt. Die Kindergärtnerinnen sorgen mit Schmeicheleien, Drohungen und Ohrfeigen dafür, daß alle Kinder still sitzenbleiben bis eine Kindergärtnerin mit dem Morgengebet beginnt. Die Kinder müssen das Gebet laut mit- sprechen, den Kopf senken und die Augen schließen. Anschließend wird ein Lied gesungen und geübt. Die Kindergärtnerin spricht den Liedertext stückweise vor und die Kinder sprechen ihn gemeinsam mach. Dann singt die Kinder- gärtnerin vor und die Kinder singen nach. Störende Kinder werden von einer anderem Kindergärtnerin in den Nebenraum zur Kindergartenleiterin geschickt, wo sie eine Strafpredigt oder Ohrfeigen empfangen. Nachdem diese Prozedur beendet ist, dürfen die "braven" Kinder hinausgehen und spielen. Die
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Störer müssen noch einige Minuten stillsitzen, dürfen nicht reden oder aufstehen. Gegen 11.30 Uhr werden die Kinder erneut in den Saal geschickt und auf die Stühle gesetzt. Sie singen wiederum ein Lied und sprechen ein Abschlußgebet. Bei schlechtem Wetter werden die Kinder in Spielräume geschickt, wo sie unter dauernder Reglementierung durch die Kindergärtnerinnen mit vorfabriziertem Spielzeug, nicht aber z.B. Farben, Knetgummi usw. spielen. Aggressive Ausbrüche der Kinder werden bestraft durch "Stillsitzen", Ohrfeigen oder Benachrichtigung der Eltern. Zuweilen werden "aufsässige" Kinder zu Küchenarbeiten herangezogen.
Auswertung: Die Disziplinierung der Kinder erfolgt neben direkter Bestraf- ung wesentlich durch das Einüben muskulöser Verkrampfungen. Dafür das Stillsitzen vor und nach dem Spielen. Das dient der Vorbereitung auf das spätere "Schulleben", wo ja noch länger stillgesessen werden muß. Kreative Beschäftigungen, z.B. Malen sind nicht erwünscht, ebenso, wie das ja später in Schule und Beruf nicht erwünscht ist. Die Kinder werden durch die chronischen Verkrampfungen affektlahm und "brav", also zu dem, was sie werden sollen.
Nr.10-13 /ausgelassen/
Fragestellung:
a wie werden Realangst und Lustangst produziert ? b welche Verhaltensweisen werden dadurch ausgelöscht und welche neu erworben ? c welche Funktion haben Real- und Lustangst im Individuum, in der Erziehung und in der Gesellschaft ?
Nr.14
Die Mutter zweier Kleinkinder backt Pflaumenkuchen. Die Kinder nehmen ab und zu eine Pflaume, bis die Mutter sagt: "Nun ist Schluß! Ihr eßt mir noch alle Pflaumen für den Kuchen weg ." Die Kinder unterlassen daraufhin das Naschen. Nach einer Weile fragt Gerhard: "Mutti, darf ich noch eine Pflaume haben?" "Nein !" antwortet die Mutter, "wenn das der Nikolaus sieht, gibt er euch was mit der Rute !" Aber kann der Nikolaus uns denn jetzt sehen?", fragt Gerhard. Darauf die Mutter: "Der Nikolaus kann euch immer sehen. Er sieht jede Dummheit, die ihr macht, auch wenn ihr meint, ich könnte das nie herausbekommen." "Mutti erzählt der Nikolaus dir denn alles, was wir machen?" "Ja, der Nikolaus erzählt mir alles, was ihr gemacht habt."
Auswertung: Hier wird künstlich Angst erzeugt, um die Gefügigkeit der Kinder zu erreichen. Der Nikolaus, der alles sieht, mit den Interessen der Eltern verbunden, übernimmt die Aufpasser- funktionen, die die Eltern zuweilen nicht ausüben können, wenn sie nicht anwesend sind. Die "Dummheiten" sind natürlich
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jene "Bah" Handlungen, von denen die Kinder wissen, daß sie strikt verboten sind. Die Angst der Kinder vor der Rute des Nikolaus ist übertragene Realangst vor den Prügeln der Eltern, die jedoch in eine Ebene verlagert werden, wo es kein Verstecken geben kann. Die Kinder bekommen das Gefühl vermittelt, daß nirgendwo ein Entrinnen vor der elterlichen Kontrolle und den elterlichen Forderungen möglich ist. Real- und Lustangst werden im Nikolausmythos verschmolzen. Je größer die Lust, umso näher die Rute und umso stärker die dann folgende Angst. Die Kinder werden dadurch verunsichert und ihre Spontaneität eingeschränkt. Weil der Nikolaus überall hinsieht, ist die Lähmung durch die Angst eine alles umfassende. Auch die ansonsten sichere Toilette ist kein sicherer Ort vor dem Blick des Nikolaus. Da jedoch die Sexualunterdrückung auch in der Toilette weiterwirken soll, ist der alles sehende Nikolaus notwendig. Die Mythologisierung der Eltern zum "Übervater" bildet den Grundstock für die beim Erwachsenen übliche Ehrfurcht vor den "Übervätern" Staat, Behörde und Führer. Das ist im Sinne der ökonomischen Ausbeutung erwünscht, denn auch die steht und fällt mit den Ängsten der Ausgebeuteten.
Nr.15 In einem Selbstbedienungsladen spricht Michael (22J.) Susanne (17J.) an und äußert den Wunsch sie kennenzulernen. Beide un- terhalten sich und setzen das Gespräch außerhalb des Geschäfts in einem Cafe fort. Sie vereinbaren, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt zu treffen. Wie vereinbart, treffen sie sich auch. Susanne erklärt, daß eine feste Freundschaft zu ihm nicht möglich sei, weil sie einen festen Freund habe, den sie nicht verlieren wolle. Sie sagst, sie wäre zwar etwas in ihn /Michael/ verliebt, aber die feste Freundschaft wäre auch sehr angenehm und auch viel solider, als es eine Freundschaft mit ihm /Michael/ je werden könne. Michael hatte bereits eine andere Dauerfreundschaft, die er neben einer eventuellen neuen beibehalten wollte, was er auch sagte. Michael und Susanne trafen sich deshalb nicht wieder. Einige Wochen nach diesem Treffen sehen sich beide zufällig im Bäckerladen. Susanne ist sehr erschrocken als sie ihn erblickt und erzählt ihm von diesem Schreck kurz drauf vor dem Laden. Sie sagt, sie habe aus unerklärlichen Gründen bei seinem plötzlichen Anblick Angst bekommen. Die beiden trennen sich und sehen sich nicht wieder.
Auswertung: Die feste, solide, d.h. monogame Freundschaft geht hier dem Mädchen vor die neue Verliebtheit. Dahinter könnten wirt- schaftliche Überlegungen stehen, etwa eine geplante Heirat. Susanne hat Angst, weil ihre Zuneigung zu Michael ihre feste Beziehung gefährden könnte. Das ist im Fall des Erschreckens im Bäckerladen nicht ganz einfach zu durchschauen. Warum sollte Susanne sich erschrecken, da doch mit Michael ausgemacht war, sich nicht wieder zusammen zu treffen? Das plötzliche Auftauchen von Michael im Bäckerladen mobili- siert in Susanne spontan sexuelle Annäherungsimpulse. Das geschieht schneller, als die Erinnerung wirksam werden kann,
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nach der abgemacht war, sich nicht wieder zu treffen. Diese nobilisierte Lust kann nicht adäquat entladen werden. Aber auch andere Formen der Verarbeitung entfallen. Z.B. kann sie nicht aggressiv sein, weil keine Objekte dafür da sind. Die Situation läßt nur einen Ausweg zu: freisetzen der Energie ohne Verarbeitung in einer Ersatzreaktion und damit Auftreten von Angst. Es ist also keine Realangst, die hier sichtbar wird, sondern Lustangst. Reale Bedrohung liegt nicht vor, aber offensichtlich Annäherungsimpulse.
In den monogamen Ehen ist Lustangst ein verstärkender Faktor für die Realängste. Immer wenn das Auftauchen eines potentiel- len außerehelichen Geschlechtspartners eine reale Bedrohung der Ehe darstellt, so daß reale Ängste erzeugt werden, er- folgt die Verstärkung eben der Ängste durch die Umwandlung der mobilisierten Lust in Lustangst. Beide Angstformen ver- stärken wiederum die Anhänglichkeit an dem festen Partner. Unter dem Aspekt, daß der Zusammenhalt der Ehen gesellschaft- lich gewünscht ist und gefördert wird, erweist sich Lustangst als ein nützliches Bindemittel. Es liegt nicht allzu fern, daß die sexuell aufreizenden Moden gerade deshalb gesellschaftlich wohlwollend toleriert werden, weil sie Lustangst zu mobilisie- ren helfen und daher indirekt zu Bindemitteln werden können. (Zusatz 26: Die Hauptfunktion der Mode ist Ersatzbefriedig- ungen zu verschaffen.)
Nr.16-20 /ausgelassen/
Fragestellung: a wie entsteht pathogene Aggression? b welche Verhaltensweisen werden dadurch ausgelöscht und neu erworben? c welche Funktion hat pathogene Aggression im Individuum, in der Erziehung und in der Gesellschaft?
Nr.21
Waltraud H. (28 J.) hat Besuch bekommen von Wolfgang (26 J.) und Bärbel (29 J.). Alle drei und der Sohn von Waltraud sitzen am nächsten Morgen am Frühstückstisch. Die drei "Erwachsenen" unterhalten sich, ohne sich um Dieter (4 J.) zu kümmern. Der steht nach einer Weile auf, geht zu Bärbel, die ihn auf den Schoß setzt. Er streichelt ihr Haar, während die drei "Erwachsenen" sich weiter unterhalten ohne sich um ihn zu kümmern. Dieter versucht Bärbels Aufmerksamkeit zu gewinnen. Sie spricht zu ihm ein paar Worte, führt dann das Gespräch aber wie vorher mit den "Erwachsenen" weiter. Nun wird Dieter immer unruhiger, so daß die Mutter sagt: "Laß doch Bärbel in Ruhe essen." Plötzlich zieht Dieter Bärbel kräftig am Haar. Bärbel sagt:"Au, setz dich sofort auf deinen Platz zurück!"
230 Anhang/12 Auswertung: Dieter möchte zu Bärbel zärtlich sein und auch von ihr Zärtlichkeiten bekommen. Bärbel erkennt und beachtet das aber nur sehr flüchtig und ungenügend. Dieter ist enttäuscht. Die in ihm mobilisierten Energien finden keine adäquate Entladung. Sie werden in muskulösen Spannungen gebunden und als aggressive Tat entladen. Dieter verwandelt den sexuellen Impuls in einen pathogen aggressiven. Dafür wird er gerügt. Diese Situation steht für viele andere. Das Kind erhält Aufmerksamkeit für die pathogene Ausdrucks- form, nicht für die natürliche. Diese Aufmerksamkeit ist dann meist negativ: Strafe. Sow wird die Umformung sexueller Impulse in pathogen aggressive von den "Erziehern" erzwungen. Die Unterdrückung der pathogenen Aggression führt zum Training von unterwürfigem Verhalten. Das Verhalten der "Erzieher" erreicht die Unterdrückung der sexuellen Impulse, Produktion pathogener Aggression und unterwürfiges Verhalten. Das sind nicht gerade zufällig Produkte die andernorts erwünscht sind: pathogene Aggression in den Kasernen, den Betrieben, in leitenden Funktionen, Defizit an natürlichem sexuellen Verhalten als erwünscht in Schule, Kirche und Ehe. Unterwürfiges Verhalten als erwünscht und willkommen zur ökonomischen Ausbeutung.
Nr.22
Hauptschule D. in W. Unterricht in der 7.Klasse. Frank (13J.) liest unter der Bank ein "Tarzanheft". Der Klassenlehrer er- tappt ihn dabei, nimmt ihm das Heft ab und schimpft ihn aus. Frank ist wütend und möchte am liebsten den Lehrer verhauen. Aber das geht nicht, weil der der stärkere ist. Er unterdrückt seine Wut. Kurz drauf ist Pause. Auf dem Schulhof wird Frank versehentlich von Kurt (12 J.) angestoßen. Frank stürzt sich wütend auf ihn und. schlägt ihm die Faust ins Gesicht. Die Aufsicht kann eine weitere Schlägerei verhindern.
Auswertung: Die Aggression von Frank gegen den Lehrer ist eine natürliche, denn der Lehrer ist reales Unlustobjekt, welches man zu ver- nichten trachtet. Diese Aggression kann nicht realisiert wer- den, sie wird unterdrückt vom Betroffenen selbst, weil der Lehrer der Stärkere ist. Auf dem Schulhof findet sich ein passender Anlaß, diese Aggression an einem Ersatzunlustobjekt zu entladen. Diese Entladung ist pathogen, weil sie sich nicht gegen das Unlustobjekt richtet und daher nicht zur Befriedigung des vereitelten Befriedigungswunsches führen kann. Da Frank unter der Sexualunterdrückung groß wird, verfügt er immer auch über gestaute sexuelle Energien, die bei Anlässen wie dem auf dem Schulhof mit entladen werden als pathogene Aggression. Unter der Sexualunterdrücküng wird es keine Aggressionen geben, die nicht auch durch gestaute sexuelle Energien verstärkt würde. Es ist deshalb äußerst schwierig auszumachen, welche Quantitäten der Energie im Einzelfall durch das Unlustobjekt mobilisiert werden und welche aus dem Reservoir der gestauten Energien stammen.
230 Anhang/13 Nr. 23
Notiz in einer Serie zur Aggression der Zeitschrift Konkret: Bankdirektor überfährt in Paris einen Studenten dreimal hintereinander, weil der ihm eine Parklücke vor der Nase weggeschnappt hatte.
Auswertung: Das Mißverhältnis zwischen Ärgernis und "Bestrafung" des Verursachers weist darauf hin, daß die Aggression hier nicht allein von Energien gespeist wird, die der Student mobilisiert hat, sondern daß sich gestaute und mobilisierte Energien vermischen. Die Frage ist nun nicht, woher diese Energien, denn das ist leicht begreifbar unter der permanenten Sexualunterdrückung. Ineressant ist, warum gerade in solch einer Situation derart große aggressive Energiemengen frei- gesetzt werden. Der Student gehört jener Minderheit an, die heute teilweise die Funktion des "inneren Feindes" übernehmen muß. Die Aggressionen erscheinen gegen solche "Feinde" prinzipiell berechtigter, so daß damit ein aus- lösender Faktor gegeben ist, der beispielsweise nicht da- gewesen wäre, wenn der Verursacher ein älterer Angestellter gewesen wäre.
Nr. 24
Eine Kindheitserinnerung: Im Jahre 1955 war ich 8 Jahre alt. Der Wiederaufbau hatte noch nicht alle Trümmer beseitigt, so daß wir Kinder in verwilderten Gärten, zerstörten Sportanlagen und Häusern spielen konnten. In der Nähe meines Elternhauses existierten drei betonierte Tümpel, die urspränglich einem kleinen Naturpark angehörten. Oft spielte ich dort mit meinem Freund Werner und anderen. Wir suchten Kaulquappen, Regen- würmer und vor allen bunte Feuersalamander. Eines Tages haben wir auch Regenwürmer und Salamander mit unseren Taschenmessern in Stücke geschnitten. Dabei waren zwei Empfindungen so stark, daß sie noch heute für mich deutlich erinnerbar sind. Die erste eine angenehme, die vom Anfassen des glitschigen Salamanders herrührte, die zweite eine Art Ekel vor diesem Glitschigen und verstärkt vor dem zerstückelten Salamander. Nach solchen sadistischen Spielen traten zuweilen auch Schuld- gefühle auf. Im Laufe der Zeit wurden diese so stark, daß ich solche Spiele aufgab und andere Kinder daran zu hindern versuchte.
Auswertung:
Das angenekime Gefuhl, wenn ich den glitschigen Salamander anfaßte war ein ähnliches wie das, wenn ich von der Mutter gebadet wurde und sie unter anderem auch meinen Penis einseifte. In der Tat haben ja auch optisch ein nasser Penis und ein Salamander Ähnlichkeiten. Der Salamander fühlte sich so an, wie mein eingeseifter Penis. Der Salamander weckte sexuelle Impulse und Assoziationen zum Baden durch die Mutter. Diese Impulse werden gleich nach ihrem Auftreten zurück- gehalten und zu muskulösen Verkrampfungen also Stauungs- energien gebunden. Es passierte dasselbe bei den Salamandern
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wie beim Baden, mit dem gleichen Resultat, nämlich der Verdrängung der mobilisierten sexuellen Energien Während aber beim Baden eine andersartige Entladung nicht möglich ist, liegt das bei den Salamandern anders. Sie können zu Ersatz- unlustobjekten werden, weil keine Bedrohung das verhindern kann. Der Salamander wird vernichtet, weil die Energien als pathogen aggressive Impulse gefahrlos dadurch entladen werden können. Der Salamander hat Lust mobilisiert und dadurch zugleich Unlust, weil ja die Lust keine Befriedigung findet. Also ist er ein Unlustobjekt, welches man zu vernichten trachtet. Dieses Salamanderbeispiel steht für viele sadistische Handlungen. (Zusatz 27: Die Verdrängung sexueller Regungen ist nicht aus- reichend zur Erklärung des Sadismus, da sexuelle Versagungen in vielen Formen unvermeidlich sind und nicht regelmäßig zum Auftreten aggressiver Handlungen führen. Das Lernen von Aggressionen spielt eine wichtige Rolle. Nicht realisierte sexuelle Wünsche werden häufig in sexuellen Ersatz- befriedigungen realisiert, z.B. Essen und trinken. Die Umwandlung in pathogene Aggression wird durch bestimmte sexuelle Unterdrückung bestimmter, meist genitaler Impulse geleistet. Eine sexualverneinende, die Sexualität herab- setzende Atmosphäre hehört in der Regel dazu.)
Nr.26 Nr. 25 /ausgelassen/
In einer Straßenbahn: "Unerhört" Sie haben keinen Fahrausweis. Wie können sie sich unterstehen ohne Fahrausweis in dieser Straßenbahn zu sitzen..." Hier wird der Kontrolleur von der angesprochenen jungen Frau unterbrochen: "Sie haben das Recht von mir 20 Mark Strafgebühr zu kassieren. Sie haben aber nicht das Recht, mir eine Moralpredigt zu halten oder ihre Aggressionen an mir loszuwerden. Hier sind die 20 Mark!" Der Kontrolleur schwieg betroffen.
Auswertung:
Die sachliche Lage verdeckt nur zu leicht, daß der Kontrolleur übers Ziel hinausschießt und die Situation benutzt seine pathogene Aggressionen loszuwerden. In diesem, an sich seltenen Fall wird das durchschaut und vereitelt. Vielfach ist das anders. In allen Lebensbereichen benutzen "Vorgesetzte" und die, "die was zu sagen haben" ihre Position, ihren Energiehaushalt auf Kosten des jeweils Schwächeren zu regulieren. Das kommt so oft vor, daß der Schluß möglich ist, die Hierarchien und Unterordnungsverhältnisse hätten auch die Funktton, je nach Status die Entladung pathogener Aggression zu gestatten.
Fragestellung: a wie entsteht unterwürfiges Verhalten? b welche Verhaltensweisen werden dadurch ausgelöscht und neu erworben? c welche Funktion hat unterwürfiges Verhalten im Individuum, in der Erziehung und in der Gesellschaft?
230 Anhang/15 Nr. 27
Wilfried hat trotz Verbot durch die Mutter vom Zucker gegessen und dabei den Boden bestreut. Die Mutter steckt den Jungen zur Strafe ins Schlafzimmer und schließt ab. Der Junge schreit und stampft wütend mit den Füßen auf den Boden. Dabei ruft er: "Ich will raus, sofort hier rausl" Nach einer Weile kann die Mutter den Lärm nicht mehr ertragen. Sie geht vor die Tür des Zimmers und sagt zu Wilfried: "Wenn Du so ungezogen bist, kommst Du heut den ganzen Tag nicht raus, wenn Du aber ver- sprichst brav zu sein und mich schön bittest die Tür aufzu- machen, dann laß ich Dich raus und Du kannst spielen gehen." Der Junge wird still. Einige Minuten später ruft er: "Mutti, ich will wieder artig sein, laß mich doch bitte wieder raus." Die Mutter öffnet die Tür und läßt den Jungen hinaus.
Auswertung: Wilfried war wütend, weil er sich zu hart bestraft fühlte. Doch sein Protest bringt ihn in die Gefahr noch mehr bestraft zu werden, denn die Mutter droht, daß er den ganzen Tag eingeschlossen bliebe, wenn er nicht artig wäre. Der Junge unterdrückt seinen Protest in dem Augenblick, wo ihm klar wird, daß durch Unterwerfung die Freiheit wieder zu erlangen ist. Es mag sein, daß der Junge in dieser Situation die Unterwerfung heuchelt. Wenn jedoch häufig Unterwerfung nötig ist, wird aus der Heuchelei ein Verhalten, welches durch- gängig den Betroffenen prägt. Situationen wie die beschriebene sind dazu geeignet, den Hemmechanismus zur Produktion von unterwürfigem Verhalten zu injizieren. Der Betroffene merkt davon nichts, er erfährt nur, daß Unterwerfung das kleinere Übel ist. Dabei wird mit der Zeit dem Betroffenen unerkennbar, ob die Unterwerfung generell sinnvoll ist, oder ob nicht vielleicht Angriff oder Weigerung in manchen Fällen Erfolg haben könnten.
Nr.28-32 /ausgelassen/
Fragestellung: a wie entstehen "perverse" Vorstellungen ? b Welche Funktion haben sie im Individuum, in der Erziehung und in der Gesellschaft ?
Nr.33
Der vierzehnjährige Rolf hat eine Lehre in der Dekorations- abteilung eines Kaufhauses begonnen. Am Frühstückstisch der Abteilung hört er folgendes Gespräch zwischen den Dekorateuren H. und S. Beide sind ca. 30 Jahre alt und seit 8 bzw.6 Jahren verheiratet. H:" Die rote D. hab ich gestern mit einem Mann gesehen. Der war mindestens doppelt so alt wie sie." S:" Die hat doch einen Vaterkomplex und außerdem kommen die Jüngeren nicht mit ihr klar." H:" Warum denn nicht, ist die so aktiv?" S:" Die hat doch einen irren Nännerverschleiß. Die ist so
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routiniert, daß die eine Zigarette "dabei" raucht." H:" Vielleicht ist die noch nicht kräftig genug gebürstet worden." S:" Verderben Sie unseren Kleinen nicht." (gemeint war Rolf) H:" Der weiß doch auch schon was los ist. Die sind doch heute viel weiter als wir damals." S:" In der Theorie vielleicht, aber in der Praxis?" H:" Jedenfalls ist die Rote bestimmt aktiv." S:" Die saugt bestimmt jedem das Rückenmark aus." (Gelächter)
Auswertung: Sexualität als Kampf:"saugt jedem das Rückenmark aus." Dieses Gespräch steht für viele, die man in jeder Kneipe zuweilen hören kann. Die unbefriedigten Männer finden eine gewisse Ersatzbefriedigung darin, daß sie ihre "perversen" Gedanken artikulieren. Die Verzerrung ins Aggressive ist dabei so gut sichtbar, wie die Diffamierung der Frauen, der Lustobjekte nämlich, die nicht erreicht werden können, weil die Ehe u.a. das verhindert. Daher werden die Lustobiekte zu Ersatzunlust- objekten, auf die man Haß hat. Die verdrängten und verzerrt durchbrechenden Sexualimpulse sind in den ausgedrückten verdeckten Wunschvorstellungen sichbar. Die "aktive" Rote. Sie wird so gedacht, wie man selbst sein möchte, aber nicht sein kann. Indem sie aktiv gedacht wird, kann mit den Gefühlen kokettiert werden, wenn sie nämlich im die eigene Richtung hin aktiv würde, wenn sie also in Richtung H. und S. aktiv würde. Weil das aber nur als Koketterie, nicht jedoch als Praxis gelingt, schlägt es um in Haß. In ihm werden die Frustrationen sichtbar darüber, daß man aus dem eigenen monogamen Käfig nicht heraus kommt, auch nicht durch Lust- objekte wie die Rote, die offenbar nicht in solch einem Käfig steckt. Die "Perversionen" sind hier, wie oft gekoppelt mit der Projektion der eigenen unterschwelligen Wünsche auf den anderen. Jedoch wird der Wunschinhalt verkehrt: Die Frustration verwandelt den eigenen sexuellen Wunsch in den sexuellen Wunsch des anderen, aber als etwas Abzulehnendes und Widerliches.
Fragestellung:
a Wie entstehen Rationalisierungsmechanismen ? b Welche Funktion haben sie im Individuum, in der Erziehung und in der Gesellschaft ?
Nr.34 /ausgelassen/
Nr.35
Gerhard, 8 J., kommt gegen 17.00 Uhr vom Spielen auf der Straße zurück in die elterliche Wohnung. Der Vater ist gerade von der Arbeit zurückgekommen und sehr wütend auf den Jungen, weil ihm ein Nachbar gesagt hat, Gerhard hätte in der Schule zum Lehrer gesagt, er solle auch seinen Mund halten, nachdem der Lehrer gesagt hatte, er solle seinen Mund halten. Als Gerhard zur Türe hereinkommt, wird er vom Vater mit ein paar
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heftigen Ohrfeigen empfangen. Dabei schimpft er: "Du Lümmel, ich werd Dir deine Frechheiten schon austreiben. Was hast Du Dir dabei gedacht?" Der Junge weiß nicht, warum er geschlagen wird. Er weint laut und gibt keine Antwort. Erst nach einer Weile meint er unter Tränen: "Was hab ich denn gemacht ?" Der Vater will ihn erneut ohrfeigen, aber die Mutter hindert ihn daran. Erst jetzt erfährt der Junge, warum er geschlagen wurde. Er beteuert aber, nicht er sondern ein anderer Junge hätte besagten Satz zum Lehrer gesagt. Der Vater wird noch wütender, weil er dem Jungen nicht glaubt. Die Mutter reagiert besonnener und erreicht, daß man am andern Tag den Lehrer fragen will, wer wirklich den Satz gesagt hat. Es war tat sächlich ein anderer Junge. Warum der Nachbar, dessen Sohn in der gleichen Klasse sitzt, auf Gerhard gekomaen war, weiß niemand. Der Vater entschuldigt sich jedoch nicht bei seinem Sohn, sondern meint am Abendtisch: "Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Ein paar Ohrfeigen haben noch keinem ge- schadet. Wer weiß, was Du alles anstellst, wovon wir nichts erfahren. Dann waren die Ohrfeigen eben dafür."
Auswertung: Der Vater weiß, daß er seinen Sohn zu Unrecht schlug. Aber er kann sich nicht entschuldigen, weil das zu seinem Selbst- verständnis nicht paßt, was er von sich hat. Er rationalisiert die Ohrfeigen, indem er sie dadurch rechtfertigt, daß der Junge etwas tun würde, was er nicht weiß. Es wird mühelos eine durch nichts gesicherte Annahme zum vorgeblich rationalen Grund einer ungerechtfertigten Handlung. Die Rationalisierung gibt so der irrationalen Reaktion einen rationalen Grund. Solche Rationalisierung, die das Gegenteil hervorkehrt von dem, was wirklich war, zerstört die Fähigkeit zur Selbstkritik und führt deshalb zur Einschränkung der Denk- und Erkenntnis- fähigkeit. ------------- Ende der Analysen --------