280 Fred Keil Erkentnistheorie 6 Aachen 2006 280/1 Die unmittelbare subjektive Perspektive zeigt den Augenblick als größtmögliches einfaches Dasein, dem alle Aufsplitterungen in Objekte, Zeit und Raum fehlen, sie tendiert zu einem Nichts. Die Übergänge zur objektiven Perspektive zeigen eine Komplexität größtmöglicher Dichte, die beim Abstandnehmen vom Subjekt und seinen Sinnesorganen scheinbar im Kleineren abnimmt und im Größeren zunimmt. Daher erscheinen Elementarbausteine weniger komplex als Organismen und diese wiederum weniger komplex als Lebensräume. Hier wirken mathematische Vorstellungen von in erster Linie Additionen und Subtraktionen. Organismen sind deshalb komplexer als Elementarbausteine, weil sie selbst als Additionen aus einzelnen Elementarbausteinen aufgefasst werden können. Die neu entstehenden Qualitäten beim Aufstieg in komplexere Strukturen bereiten aber Probleme. Woher kommen sie ? Das Einbringen der Wahrnehmungen in Modelle zeigt Verwandt- schaften zwischen einfachen und komplexen Gebilden. So finden sich im Kreislauf von Sternenleben Prozesse, die jenen in Organismen ähnlich sind: Geburt, Lebenserhaltung, Stoff- wechsel und Zerfall. Schwierig ist es zum Mikrokosmos hin ebensolche Modelle zu bilden. Stoffwechsel von Molekülen, Atomen und Elementarbausteinen erscheinen problematisch. Anders sieht es aus, wenn die Modelle dargelegt werden als positive Produktionen im nichtidentischen Raum. Komplexität erscheint dann als subjektives Produkt ebenso wie Einfachheit, die qualitativen Erscheinungen als unbestimmte Strukturmerkmale. Es sind dann zwei Wege offen: Die Wiederkehr komplexer Strukturen in Mikro- und Makrokosmos könnten projektive Prozesse sein, bzw. ihr Fehlen einer perspektivischen Unschärfe entstammen. Hier wirken Phänomene wie die Grenzfunktionen und die Nichtidentität der Grenze, anders: Dichte und Undichtigkeit der Begrenzungen. Die Idee Leibnitzens, daß die Monaden durch ihre Ein- geflochtenheit in das universale Geschehen immer auch das Universum selbst in sich enthalten und in jedem der kleinsten Bausteine dieser Universen wieder jeweils ein ganzs Universum, zeigt eine Universalität von Komplexität auf allen Ebenen. Entgegen des Additions- modells gibt es dabei keine einfachen Strukturen und keine abnehmende Komplexität. Dies ist vielleicht eine der in die Zukunft hineinwirkenden Ideen Leibnitzens, eine der größten vielleicht. Nun hat er diesen ins Unendliche weisenden Prozeß durch einen Endpunkt abgeschnitten mit der Vorstellung unteil- barer Monaden. Daß dieser Endpunkt bereits seit Demokrits Atom eine Denknotwendigkeit der Identitätslogik markiert, ist unbezweifelbar und in der Konstruktion der mathematischen Grundkategorie des a=a noch heute unentbehrlich. Deshalb muß es nicht zutreffend sein. Man erinnere sich an die Vielzahl unzutreffender Vorstellungen im Laufe der Geschichte, die erfolgreich waren, weil sie in ihrem Halo Verhaltensweisen in den Gemeinwesen förderten, die im Überlebenskampf erfolgreich gewesen waren. Ohne den Endpunkt der Monaden beschreibt das Modell immer wiederkehrender Strukturen einen universalen Prozess, der ziellos erscheint, aber temporäre Zielpunkt hinterläßt. Vielleicht hat die Ahnung davon zu dem Satz Lao Tses geführt von Weg und Gewebe des Tao. Die Philosophie des Abendlandes, aber auch das, was an altindischer noch erhalten ist, finden ihre Begrenzungen in den Vorstellungen definierbarer Objekte und Strukturen, die jedoch als Aufklärung das Schwammichte mystischer, esoterischer Vorstellungen vertrieben haben. Erst der Durchbruch der Adornoschen Konstrukte des Nichtidentischen und des Hinzutretenden hat neue Wege eröffnet. Adornos und Horkheimers "Dialektik der Aufklärung", psychologisch als Reflex auf die Barbarei der vierziger Jahre zu verstehen, zeigt aber auch zugleich mehr: Den Umschlag rationaler Aufklärung in Verblendung. Jedoch haben die Arbeiten dieser beiden Denker die Sackgasse aufgebrochen, aber vielleicht die Konsequenzen ihrer Schöpfungen unterschätzt. Zufallsgebilde im Grenzbereich Die Grenze zwischen Objekt und Nichtidentischem, sei es Oberfläche, Zeitgrenze oder eine andere Dimension, ist nicht dicht. Dies schließt mathematischen Determinismus ebenso aus wie vollständige Kohärenz des Universums. Sowohl die Raum wie die Zeitdimensionen sind davon betroffen. sichtbar darin, daß weder ein Anfang in der Zeit noch eine Grenze im Raum wirklich ist. Nur die alte indische Philosophie unschreibt dies zutreffend als Unausdenkbarkeit des Lebenskreises, des "Sansara". Damit relativieren sich auch die Zeit und Größenfolgen. Im physikalischen Raum sind kleinere Objekte eingebettet in größere Strukturen, sowie die Ursache-Wirkunsfolgen in verbindliche Zeitabfolgen. Daß dies mehr ist als ein per- spektivischer Effekt, kann bezweifelt werden. Er ist lebensnotwendig, was nichts an der Berechtigung des Zweifels ändert, denn lebensnotwendig ist immer etwas, welches bezogen ist auf ein bestimmtes individuelles Subjekt und seine Perspektive. Der Zweifel erstreckt sich damit auch auf die Dichte und Komplexität. Unter einer bestimmten Perspektive ist ein Organismus mit 2 Billionen Zellen rein additiv komplexer als ein Einzeller. Aber das je einzelne Atom kann dennoch komplexer aufgefaßt werden als der Organismus, wenn die relative Position des Subjekts und damit die Perspektive sich ändert. Dies hat für Zufallsereignisse große Bedeutung. Wenn das zufällige Zusammentreffen von mindestens zwei Ursache- Wirkungs-Ketten ein unerwartetes Ergebnis hervorbringt, so ist es in der Regel als Verlust eines komplexen Zusammenhangs sichtbar. Ein Unfall zwischen zwei Organismen bringt nicht etwa zufällig eine komplexere sondern eine ins Einfachere zerfallende Strukturen hervor. Dieser subtraktive Effekt zufälliger Ereignisse muß nicht die Möglichkeiten von Zufallsfolgen zutreffend umschreiben. Wenn die additive Rangfolge komplexer Strukturen nur perspektivisch abhängig ist, könnten gleichwohl neue komplexe Gebilde aus Zufalls- ereignissen entstehen, die unterhalb der Wahrnehmbarkeit anzusiedeln sind. Es würden dann diese neuen Gebilde vom konventionellen, scheinbar chaotischen Geschehen überlagert. Man befindet sich hiermit im Grenzgebiet zwischen definier- baren und nichtdefinierbaren Strukturen. Eine deutliche Abgrenzung zum Geisterglauben ist dabei notwendig. Nichtidentische zufällige Komplexitäten könnten nicht irgendwelchen Strukturen der erfahrbaren Welt gleichen, weder als Seelen oder astrale oder andere Gebilde, die letztlich nur unsinnige Wort- und Assoziationsprodukte sind. Neutralisierung als Grenzfunktion wird auch hier wieder sichtbar, da die Strukturbildung im nichtidentischen Raum sich selbst löscht. Insofern ist der Vorrang der Dichtheit der Grenze vor der Nichtdichtigkeit zwingend. Man befindet sich aber zugleich angekommen an einem Paradoxon. Hermetischer Determinismus, welcher der Dichtheit und logischen Identität zwingend inhärent ist, wird durch Nichtdichtheit ständig zum Nichtidentischen aufgelöst und existiert doch nur durch diese Oszillation zwischen Identischem und Nichtidentischem, also durch jene Polarität, die selbst aus den Grenzfunktionen abzuleiten ist. Platos Ideen Plato verweist auf die Ideen, die wie ein Licht hinter den Erscheinungen liegen. Das Licht kann als Bewegung aufgefasst werden, die Erscheinungen als Formen relativer Dauer. Weil aber das Bodenlose einer reinen Bewegung, sei sie auch an Formen gebunden, Schwindel erregt und in ein Nichts zu zerfliessen droht, müssen die Arten bei Plato beständig sein, Artwandel damit ausgeschlossen werden. Um- gekehrt aber haben die Wissenschaften den Artwandel so gut wie bewiesen und mit dem Energiebegriff das Bodenlose nahe- gelegt. Ähnlich wie Leibnitz die Monaden als unteilbar und unsterblich auffasste, Demokrit sein Atom, blieb auch Plato an den ewigen Ideen haften. Dies verweist auf eine Denknotwendigkeit, die nicht den Dingen ange- lastet werden muss, sondern der Struktur des Denkens in definierbaren Grössen. Ob es anders möglich wäre, ist zu bezweifeln. Gesetzt, dass eine Erkenntnis nicht möglich ist sondern nur eine Instrumentenbildung zwecks "be greifen" der Wirklichkeit, so bleibt die Frage, wie ein Modell beschaffen sein kann, welches über den Mechanismus der Objektbildung hinaus beschreibt, wo das Entstehende, sei es Wachstum, Spontaneität, Energie- und Formbildung mit seinen Steuerungszentren anzusiedeln ist. Die Kernphysik zeigt spontane Aktionen bereits im untersten nur denkbaren Bereich der sub- atomaren Partikel, die Astronomie erkennt in der Sternenentstehung extrem komplexe Strukturen, die dem biologischen Wachstum teilweise nahe kommen. So wäre es also denkbar, dass es keinen bevorzugten Ort gibt, dem die Entstehung von Steuerungszentren und weiter gefasst von Leben zuzuordenen wäre. Sollte dies eine gewisse Wahrscheinlichkeit haben, wäre die Hierarchie der Ursachen und Wirkungsfolgen wie sie z.B. in der Biologie dargelegt wird in ihrer fast deterministischen Struktur in Frage gestellt. Bewegung, die einer Formbildung vorausgehen kann, muss nach menschlichem Denken zu Wiederholungen führen können, auch wenn diese ständig voneinander abweichen und sozusagen die neuen Formen immer weiter von den alten davondriften. Wiederholung verlangt aber nach einer Inbezugsetzung von einem dritten Punkt aus. Damit ist prinzipiell die Komplexität wieder ins Einfachste ein- gedrungen, der Ansatz eines Ersten gescheitert. Die Zeit ist wie die Wiederholung gebunden an mindestens zwei Pole, die in Bezug zueinander gesetzt werden. Hawkins hat die Idee einer Nullzeit entwickelt. Sie wäre möglich, wenn alle Bezugspunkte gleichwertig zu- einander stehen. Nullzeit entspräche einer völligen Synchronität aller wiederholten Fälle, eine Art perfekter Kugel, die erst durch Herausschälen von zwei Positionen eine Zeitstrecke scheinbar hervorbringen könnte und auf dem gleichen Weg Wiederholungen er- möglichte. Gleichzeit und Synchronität wären reines Objekt beziehungsweise reines Subjekt. Diese Kon- struktion basiert auf der logischen Identität, sie ist weder haltbar mit nichtidentischen Räumen noch mit Undichtigkeit der Grenze. Sie würde auch einen lückenlosen Determinismus benötigen. Dennoch bliebe dann die Frage ungelöst, wie Zeitstrecke und Besonderes herausgeschält werden könnten. Auch hier ist eine Polarität in tätiges Subjekt und dazu relativ passives Objekt erforderlich. Es bleibt deshalb bei der Undurchdringlichkeit der Komplexität, die allein durch Undichtigkeit der Grenze und Nichtidentität seine Kohärenz in Vermittlungen auflöst. Bewegung, ein Konstrukt, welches zugleich Starrheit des Dings als Antipode hervorbringt, wäre in einer Gleichzeit erloschen. Es entstünde Singularität. Singularität zeigt sich als Idee einer perfekten Homogenität, die ihre innere Polarität zudeckt und deshalb reines Geistgebilde bleibt. An diesem Paradoxon zerbrechen alle Modelle, die den Grenzfunktionen durch Überschreitung scheinbar ent- hoben sind aber doch stets von jenen eingeholt werden.